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Szabó bleibt stehen
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Szabó bleibt stehen

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Szabó versucht den Schmerz über den Tod seiner Ehefrau A. zu überwinden. Er kann die Erinnerung an sie fast nicht ertragen, lebt aber doch in stetiger Angst, diese Erinnerungen an das gemeinsame Leben könnten verblassen. Ist er dann ein Verräter?

Das Buch erzählt viel über A. und über die Beziehung zwischen den beiden Liebenden. Und er weiß:

Der Preis für eine große Liebe ist der Schmerz.

Es tut unendlich weh, dass nichts mehr so ist, wie es war. Aber es ist gut, dass es war.
LanguageDeutsch
PublisherWieser Verlag
Release dateSep 30, 2016
ISBN9783990470466
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    Szabó bleibt stehen - Otto Horváth

    1966–2011

    Fangen Sie an, Herr Szabó!

    Alle zehn Meter bleibe ich stehen. Der Koffer ist groß und schwer, und so entsteht der Eindruck, ich würde ihn eher schleifen als mal in der linken, mal in der rechten Hand tragen. Ich beschließe, eine Abkürzung zum Bahnhof zu nehmen, den ich bereits durch die nackten Äste der hohen Akazien sehe, und so durchquere ich den Busbahnhof, der unmittelbar daneben liegt, muss aber leider meinen Schritt verlangsamen, mühevoll an den Reisenden, die ihn verlassen, vorbeigehen, mich um abfahrbereite Wartende sowie um ihre Taschen herumwinden. Hätte ich doch nur vorher nachgedacht, oder wäre der Koffer bloß nicht so schwer…, aber diese Gedanken denke ich nicht zu Ende, ich gehe, bleibe stehen, nehme die andere Hand. Als ich vor ein paar Tagen meinen Vater bat, mir seinen Koffer für meine Reise zu leihen, sah ich in seinem Gesicht für einen Augenblick sowohl Wut als auch Enttäuschung, dass ich es gewagt hatte, ihn so etwas zu fragen. Ein Familientabu war angekratzt worden. Aus einem unerklärlichen Grund hing mein Vater an diesem Koffer, obwohl er bereits seit fünfzehn Jahren nirgendwohin gereist war. Er nahm ihn regelmäßig vom Schrank, lüftete ihn und wischte den Staub von ihm ab, brach aber zu keinerlei Reisen auf. Soweit ich mich erinnern kann, war er ohnehin kein großer Reisender. Ungarn, Polen, Italien, und von diesem auch nur Triest im fernen Jahr 1966, weiter hat er es nicht geschafft, da ihm Taschendiebe in Triest Geldbeutel und Pass gestohlen hatten, und natürlich, unvermeidlich, die Adriaküste, aber nur diesseits, auf der jugoslawischen Seite. Genauso erinnere ich mich, dass er in meiner Gegenwart niemals irgendwelche hörbaren zukünftigen Reisepläne geschmiedet hat, was natürlich nicht heißt, dass er nicht darüber nachgedacht hätte, denke ich, beziehungsweise kein Verlangen nach irgendeiner Reise verspürt hätte. Kanada war das einzige Land, von dem er mir jemals erzählt hatte, er erwähnte es oft, da ein Großteil unserer Verwandtschaft dorthin ausgewandert war. Vielleicht bewahrte er dieses Reisegepäck also für seine Traumreise auf? Ich weiß es gerade wirklich nicht, kann ihn aber auch nicht fragen. Ich erinnere mich an diesen unförmigen Koffer schon aus meiner Kindheit, da in diesen wie von Zauberhand all unsere Sachen, die wir für einen zweiwöchigen Sommerurlaub brauchten, hineinpassten, und daher erschien er mir gerade wegen seiner Größe als bestmögliche Lösung. Ja, du kannst ihn haben, aber bring ihn mir zurück, lautete seine Antwort. Ich war froh und beschwingt, dass er zugestimmt hatte, denn dieser Koffer war nicht nur groß genug – ich muss das noch einmal betonen – für alles, was ich mitnehmen wollte, dachte ich, vielmehr war er auch ein Teil unserer Familiengeschichte, unserer gemeinsamen Reisen. Dadurch würde mir, so glaubte ich, der Aufenthalt in der Fremde leichter fallen. Ich werde einen Gegenstand haben, der in direkter Verbindung zu meiner Vergangenheit steht, zu dem, was ich bin, was ich zu sein meine. Aber im Moment erinnere ich mich nicht daran, genauso wenig wie an die Familienurlaube im August. Der Koffer ist alt, hat ein hohes Eigengewicht und ich muss alle zehn Meter stehenbleiben, um ihn in die andere Hand zu nehmen. Endlich stehe ich vor dem Glasportal des Bahnhofs und trete in die Eingangshalle, die mir vorher noch nie so hoch und geräumig vorgekommen war. Zu meiner Rechten, am Ende der Halle, führt eine breite Treppe in die erste Etage zum Bahnhofsrestaurant, aus dem man unscharf Radiomusik hört. Ich kann den Text nicht verstehen, und so erscheint es mir, als jaule die Sängerin zur Musik. Vor mir ist von einst zehn Schaltern aus weißem Marmor nur einer geöffnet, und auch an diesem steht niemand an. Überhaupt ist in der ganzen riesigen Eingangshalle, die, was mir jetzt erst klar wird, einem weißen Mausoleum ähnelt, niemand. Die Schalterbeamtin am einzigen beleuchteten Schalter telefoniert und raucht. Ich habe den Eindruck, sie schaue in meine Richtung. Fast unmerkbar fühle ich nach, ob meine Fahrkarte und mein Reisepass noch in der Jackentasche sind oder auf der kurzen Strecke von zu Hause durch den Busbahnhof bis zum Bahnhof auf merkwürdige Weise verschwunden sind, und nachdem ich mich vergewissert habe, dass sie an Ort und Stelle sind, nehme ich den Koffer und eile durch die Halle nach links in den unbeleuchteten Gang, der zu den Gleisen führt. Auch hier treffe ich niemanden und versuche mit Anstrengung, die Stufen zu bewältigen, da ich mehr Bücher als Kleidung mit mir herumtrage. Auf dem Gleis steht der Zug schon bereit, und ich nähere mich dem erstbesten Waggon, steige ein und schleppe den Koffer hinter mir her. Dann drehe ich mich zum Gleis um, als stehe dort jemand, von dem ich mich verabschieden wollte und bleibe eine Weile so in der Tür stehen, bevor der Zug anfährt, sehe aber nur ein leeres, graues und verlassenes Gleis, als würde niemand mehr irgendjemanden zum Zug bringen oder als sei ich der einzige Reisende. Der einzige verbliebene Reisende. Mein Blick bleibt auf der runden schwarzweißen Uhr haften, die an dem grauen Vordach zwischen den beiden Gleisen hängt, jenem Gleis, auf dem der Zug steht, von dem aus ich die Uhr betrachte und dem anderen, auf dem weder ein Zug steht noch Leute, die auf ihn warten würden. Das Uhrglas ist kaputt, und der kleine Zeiger fehlt. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weiterhin geht und ob ich dem Zustand der Uhr irgendeine Bedeutung beimessen sollte. Lieber wäre mir, ich würde etwas sehen, das ich als gutes Omen deuten könnte, das mich glauben machen würde, ich breche unter einem guten Stern zu dieser Reise auf. Plötzlich fährt der Zug mit dem vertrauten Ruck an, aber ohne den bekannten Pfiff des Bahnhofsschaffners, und meine Gedanken über die Bedeutung von Reisen und guten Sternen werden jäh abgerissen wie ein Spinnfaden. Ich bleibe noch ein paar Minuten in der Tür stehen, da ich mit dem Blick die Hochhäuser in der Ferne erfassen will, darunter mein weißes, und den Park, über dem der Zug beschleunigt, mir meine Stadt einprägen und die Lunge mit ihrer Luft füllen will (der Frische der Donau, wovon ich fest überzeugt bin, und nicht der Mischung aus Ruß und verbrannten Maiskolben, von denen auch an jenem Spätnachmittag die Luft erfüllt ist, eigentlich), mich von jedem und niemandem verabschieden will, mich an die Abenddämmerung und das Grau erinnern, das sich auf die Stadt niederließ, und selbst in ihrer Erinnerung bleiben. Und dann, während ich mich mit der rechten Hand am Griff festhalte, knalle ich die Tür mit der linken plötzlich zu und mache mich, den Koffer schleppend, auf zu den leeren und unbeleuchteten Abteilen.

    Tizians himmlische und irdische Liebe lässt Ihnen seit der Kindheit keine Ruhe?

    Wo ist sein Raum für Trauer in diesen Tagen? Ein Raum, in dem er sich mit ihr ohne Schmerz und Trauer befände, in dem er aber gleichzeitig trauern und um sie weinen könnte? Während seiner Hungarologie-Studien hat er bei Kostolányi (der, wenn ihn jetzt jemand nach seine Meinung fragte, zuckersüß war) gelesen, dass die Toten nur in unseren Herzen eine Adresse haben. Das klingt für ihn jetzt banal und süßlich bis zum Erbrechen, aber so lautete der Satz, wenn er sich richtig erinnert. Und er ist nicht sicher, ob er erleichtert ist, nur weil er weiß, wo ihre Adresse ist. Zerrissenheit. Der geplatzte Gral. Ein Stachelfeld, über das er jeden Tag barfuß schreitet. Er denkt über sie nach, als lebe sie noch, weint aber gleichzeitig um sie, weil sie tot ist. Er ist in derselben Wohnung geblieben, mit denselben gemeinsamen Gewohnheiten, als würde sie morgen zurückkehren, weint aber gleichzeitig um sie, weil sie tot ist. Er fragt mich, wie er sie ansprechen soll, ohne dabei sich selbst anzusprechen. Er sagt mir, nein, er wiederholt sich ständig, immer das Gleiche, er fühle sich verloren und einsam. Er raucht und trinkt jeden Abend, nicht gerade in Maßen, aber ausdauernd und diszipliniert. (Schließlich hat er nicht umsonst als Obergefreiter bei der Jugoslawischen Volksarmee Disziplin gelernt und sich manisch an sie gehalten!). Verloren und vereinsamt. Das sagt er mir nicht, man sieht es ihm eindeutig an, wenn ich ihn mir so anschaue. Er raucht und trinkt, wenn er von der Arbeit aus der Bibliothek zurückkehrt. Nur auf diese Weise kann er den bleiernen Abend ertragen, der auf ihn herabfällt, und nur so stürzt er nicht in die Abgründe der Nacht. Auf der geräumigen Terrasse ist er von Zypressen und Sternen umgeben. Verloren und vereinsamt, so fühlt er sich, obwohl das Lächeln auf seinem Gesicht bei der Verabschiedung täuschen kann. Weder die Zigaretten noch der Wein bekommen ihm dieser Tage. Er hustet ständig. Sein Kopf tut weh, er klagt darüber, den Eindruck zu haben, dieser höre gar nicht mehr auf zu schmerzen, aber weder der Morgen noch der Abend tun ihm gut. Er hat also gar keine Wahl. Verloren und vereinsamt, wie er mir gegenüber betont, tut er jedoch auch nichts, um das zu ändern, denn er kann es nicht, und irgendwie verstehe ich ihn auch, obwohl ich ihn nicht mit der Tatsache zurechtweise, es gebe kein ich kann nicht, im Gegensatz zu ich will nicht. Er findet keine Erklärung für sein Bedürfnis, in den bekannten Zustand der Verzweiflung und des nahezu körperlichen Schmerzes zurückzukehren. In das bekannte Trauma. Durchzudrehen. Je häufiger er sich alltäglich daran erinnert, durchlebt er ihr Leiden wieder von neuem. Ihre körperliche Hölle. Die Hölle, in die ihre Seele hinabgestürzt war. Auf dem Krankenbett. Von dem sie am Ende monatelang nicht aufstehen konnte. Er war ein hilfloser und wahnsinnig gewordener Zuschauer und Betrachter, und nicht jemand, so denkt er, der sie heilen sollte und musste. Oder wenigstens eine Art für sie finden, geheilt zu werden. Er hat es nicht begriffen. Hat er gezweifelt? Es muss Zeichen oder Andeutungen gegeben haben. Oder nicht? Und wann? Und welche? Er hat versagt. Schlicht und einfach gesagt. Er, der Verräter. Er, der Einzige. Er kann all ihre Monate nicht so einfach hinter sich lassen, das spürt er, er denkt nicht. Er kann sie nicht vergessen, auslöschen. Er kann sie nicht ganz allein auf der weiten Flur des Vergessens lassen. Er will es nicht, er kann es nicht, und er versucht auf vielerlei Weise das Grauen zu mindern, das sie gelebt hat, und

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