Die Reproduktionsmedizin und ihre Kinder: Unruhe bewahren
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Book preview
Die Reproduktionsmedizin und ihre Kinder - Elisabeth Beck-Gernsheim
Literaturverzeichnis
Kapitel I
Erkundungen im Kinderwunsch-Land: eine Einführung
1. Paulchen oder der Weg ins Familienglück
Dieses Buch ist Paulchen gewidmet.
Paulchen ist heute zwei Jahre alt. Seine Eltern, Thomas und Katharina, hatten lange auf ein Kind gewartet, doch das Wünschen blieb immer vergeblich. Immer wieder erlebten sie das Auf und Ab der Gefühle, immer wieder die Hoffnung und dann die Enttäuschung. Thomas erbte ein altes Haus, dunkel und eng. Katharina, selbständige Architektin, baute um, menschenfreundlich und hell. Vorne die Terrasse, daneben das Kinderzimmer, ein paar alte Bäume, ein kleines Gärtchen. Doch das Kinderzimmer blieb leer. Und im Gärtchen spielten die Kinder der Freunde.
Nachdem ein paar Jahre vergangen waren, gingen Thomas und Katharina zum Arzt und in die Kinderwunsch-Sprechstunde. Es folgten Untersuchungen, Tests, Hormongaben. Neue Hoffnung, neue Enttäuschung, neue Tränen. Noch immer kein Kind. Dann die nächste Stufe, die Invitro-Fertilisation (IVF) – auch Zeugung im Reagenzglas genannt –, heute der Standardweg der künstlichen Befruchtung.
Und schließlich, nach mehreren Anläufen, das Happy End. Paulchen wird geboren – ein sogenanntes Retortenbaby. Er ist das Glück seiner Eltern. Er lacht, er jauchzt, er ist voller Leben und Energie.
Ich bin Paulchens Tante und erlebe in dieser Nebenrolle sein Aufwachsen mit. Sein Lachen wärmt auch mein Herz. Ich weiß, ohne In-vitro-Fertilisation gäbe es dieses Lachen nicht. Ohne die Angebote der modernen Fortpflanzungsmedizin gäbe es Paulchen nicht.
Kinder wie Paulchen sind die Erfolgsbotschafter der Fortpflanzungsmedizin. Bilder, die fröhliche Kinder zeigen, sind Hoffnungsträger und gehören zum gängigen Repertoire vieler Internet-Auftritte. Sie werben für die eine oder andere der zahllosen Kliniken, die Kinderwunsch-Behandlungen anbieten – von Kalifornien bis Indien, von der Ukraine bis Zypern. Auch die Pioniere der Reproduktionstechnologie erzählen gern solche Erfolgsgeschichten. Zum Beispiel Hans-Harald Bräutigam und Liselotte Mettler, zwei der frühen Spezialisten der modernen Fortpflanzungsmedizin in Deutschland:
»Es gibt nicht wenige Ehepaare, deren Schicksal Kinderlosigkeit ist … Viele begreifen dieses Defizit als Krankheit und leiden seelisch darunter … Es ist nicht wegzuleugnen, dass für viele Frauen das eigene Kind nicht nur sehnlichster Wunsch, sondern auch ureigenes biologisches Bedürfnis ist. Daher überschreiten Ärzte mit ihren klinischen und wissenschaftlichen Bemühungen auch nicht die ihnen gesetzten ethischen Begrenzungen, wenn sie einem Ehepaar dazu verhelfen, ein eigenes, von ihnen abstammendes Kind zu bekommen.«¹
Wenn man solche Geschichten genauer betrachtet, so findet man einen typischen Aufbau und typische Rollen. Die immer wiederkehrenden Elemente sind Leid und Erlösung, und zwar in einer dramatisch sich zuspitzenden, zeitlichen Abfolge: am Anfang das Leid, dann die Erlösung. In den tragenden Rollen finden wir auf der einen Seite das verzweifelte Kinderwunsch-Paar, auf der anderen Seite den entschlossenen und mutigen Retter, also den Fortpflanzungsmediziner.
Die Frage ist allerdings, wie angemessen dieses Erzählmuster ist. Wie typisch ist dieses Skript, wie typisch sind solche Erfolgsgeschichten? Wie oft ist die Fortpflanzungsmedizin tatsächlich damit befasst, dem verzweifelten Paar zum Kind zu verhelfen, und wie oft gelingt ihr das auch? Und was ist aus den Warnungen geworden, aus den erhitzten Debatten, die die Anfangszeit der In-vitro-Fertilisation begleiteten? Haben sich die Alarmrufe als unbegründet erwiesen, sind sie von der Wirklichkeit widerlegt worden, sind sie anachronistisch geworden?
Spurensuche: Über die Kehrseiten des Glücks
Erste Hinweise liefern die Statistiken, die von den internationalen Institutionen und Standesverbänden der Fortpflanzungsmedizin gesammelt werden. Daraus wurden über die Jahre hinweg immer neue Erfolgszahlen generiert, die in den Medien regelmäßig für Schlagzeilen sorgen. Eine der frühen Rekordmarken hieß: »Weltweit eine Million Retortenbabies geboren«, einige Jahre darauf waren dann zwei Millionen erreicht, und inzwischen ist die Fünf-Millionen-Marke schon überschritten.
Es wäre zweifellos ein grandioser Erfolg, wenn sich die Geschichte der modernen Fortpflanzungsmedizin auf solche Zahlen reduzieren ließe. Aber in den letzten Jahren sind zunehmend wissenschaftliche Untersuchungen, journalistische Recherchen und persönliche Erfahrungsberichte entstanden, die dokumentieren, dass dieser Erfolg auch seinen Preis hat: dass die Fortpflanzungsmedizin nicht nur den Weg zum Familienglück öffnen kann, sondern auch ein erhebliches Potenzial an problematischen Folgen enthält. Diese reichen von physischen und psychischen bis hin zu sozialen und ökonomischen Konsequenzen; sie betreffen Männer und Frauen mit Kinderwunsch, aber auch Samenspender, Eispenderinnen, Leihmütter und last, but not least die mit den neuen Methoden gezeugten Kinder. Dies alles ist bislang nicht systematisch geordnet abrufbar, sondern muss aus einer Vielfalt von Quellen erst zusammengesucht werden.
Um die Bedeutung der Fortpflanzungsmedizin realistisch einschätzen zu können, muss man beides in den Blick nehmen, die Erfolge wie die Kehrseiten. Deshalb wird hier in exemplarischen Ausschnitten immer wieder die Frage verhandelt: Wann, unter welchen Umständen und für welche Gruppen bringt die Fortpflanzungsmedizin nicht das ersehnte Kind und den Weg ins Familienglück, sondern hat ganz andere Folgen?
Finanzielle und andere Kosten
Der Erfolg hat seinen Preis, und zwar zunächst im ganz wörtlichen, finanziellen Sinn. Die hochtechnisierte Kinderwunschmedizin ist teuer, wie andere Sparten der hochtechnisierten Medizin auch, wobei bestenfalls – je nach Land, Versicherungsbedingungen etc. – ein Teil der Kosten von Staat oder Krankenkasse übernommen wird, im weit häufigeren Fall aber alles privat bezahlt werden muss. Das kann, selbst bei gehobenem Einkommen, erheblichen finanziellen Einsatz verlangen und für niedrigere Einkommensklassen schnell unerreichbar werden (auch die Eltern von Louise Brown, dem ersten Retortenbaby der Welt, konnten sich die Behandlung nur deshalb leisten, weil sie kurz zuvor in einer Lotterie ein paar hundert Pfund gewonnen hatten). Hinzu kommen die physischen Belastungen. Die Behandlungsangebote der hochtechnisierten Kinderwunschmedizin sind mit einem nicht geringen Potenzial an gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen verbunden, mit invasiven Eingriffen, Hormongaben, sonstigen hochwirksamen Medikamenten etc. Zwar sind die Behandlungen inzwischen so weit zur Routine geworden, dass bei genauer Kontrolle und sorgfältiger Überwachung meist keine größeren Komplikationen auftreten. Aber »meist« heißt, anders formuliert, dass über den Verlauf der verschiedenen Behandlungsetappen hinweg immer ein Restrisiko bleibt (zum Beispiel als Konsequenz hormoneller Überstimulierung).
2. Vergebliche Hoffnung, verlängertes Leid
Auch die psychischen Belastungen und sozialen Beeinträchtigungen sind nicht zu vernachlässigen. Sie sind inzwischen hinreichend dokumentiert, durch wissenschaftliche Untersuchungen, journalistische Reportagen, persönliche Erfahrungsberichte. Sie lassen folgendes Grundmuster erkennen: Im Verlauf der Behandlungen erleben viele Patientinnen ein dauerndes Wechselbad der Gefühle, das Schwanken zwischen Hoffnung, Enttäuschung, neuer Hoffnung, im Vierwochen-Rhythmus sich wiederholend. Darüber hinaus sind die Kliniktermine sehr eng in einen genauen Zeitplan eingebunden, der strenge Disziplin und oberste Priorität gegenüber den Anforderungen aller anderen Lebensbereiche erfordert. Ob Beruf, Freundschaften, Urlaub, Dienstreisen oder Familienbesuche – alles muss den Vorgaben der Behandlungstermine angepasst, andernfalls verschoben, auf später verlegt oder ganz gestrichen werden. So werden alle anderen Lebensbereiche immer weiter an den Rand gedrängt, und alles Planen, Denken, Hoffen wiederum konzentriert sich umso mehr auf das eine: das Kind.
Wenn es dann tatsächlich kommt, dieses Kind, dann sind solche Belastungen früher oder später meist vergessen. Aber was, wenn kein Paulchen kommt? So viel ist sicher: Auch erfolglose Behandlungen bleiben nicht folgenlos, im Gegenteil, sie tragen wesentlich dazu bei, psychisches Leid zu verlängern und zu vertiefen. Statt sich mit der Kinderlosigkeit abzufinden und nach Lebenswegen jenseits von Elternschaft zu suchen, halten die Betroffenen weiter am Kinderwunsch fest, bis sie irgendwann einmal die Aussichtslosigkeit ihrer Wünsche erkennen müssen – oft erst dann, wenn sie andere Interessen, Wünsche, Optionen schon fast vergessen haben.
In der Hoffnung gefangen
Das ist die andere Seite der Fortpflanzungsmedizin, die oftmals außer Acht gelassen wird, wenn man nur die Erfolge zählt. Die amerikanisch-irische Autorin Pamela Tsigdinos hat dies eindringlich beschrieben. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen, schildert sie den langen Leidensweg derer, für die die Verheißungen der modernen Fortpflanzungsmedizin nicht in Erfüllung gingen:
»What began as a hopeful albeit tentative dance with multiple ›best-in-class‹ clinics complete with invasive diagnostics and reassurances led to multiple surgeries, pharmaceuticals, procedures, Chinese herbs, more western pharmaceuticals, acupuncture and, finally, a few rounds of ICSI, IVF and FETs … More than a decade later – after many gut-wracking sobbing fits and prolonged low-grade depressions punctuated with the body blows that accompany the calls from the clinic saying that the alpha pregnancies didn’t make it to beta – slowly, slowly the realization took hold that a successful childbirth would forever be out of reach.«²
In eine ähnliche Richtung weist der Bericht einer jungen Ärztin, die – wiederum aus eigener Erfahrung – den Sog beschreibt, der von diesen Hoffnungen ausgeht. Obwohl sie als Ärztin den Medizinbetrieb von innen kennt und damit auch um dessen Risiken weiß, wird sie genauso von dieser Sogwirkung erfasst. Dabei war die junge Ärztin lange Zeit äußerst skeptisch gegenüber allen Versuchen, mittels Medizintechnologie zu einem Kind