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El Silencio: Kuba ist so schön, oder was braucht der Mensch? Tausche Jeans gegen Flugticket.
El Silencio: Kuba ist so schön, oder was braucht der Mensch? Tausche Jeans gegen Flugticket.
El Silencio: Kuba ist so schön, oder was braucht der Mensch? Tausche Jeans gegen Flugticket.
Ebook421 pages6 hours

El Silencio: Kuba ist so schön, oder was braucht der Mensch? Tausche Jeans gegen Flugticket.

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About this ebook

Im September 1990 fliegen die Autorin mit ihren Kindern und ihrem kubanischen Ehemann nach Havanna. Die DDR erlebt die letzten Tage ihrer Existenz, das sozialistische Lager zerfällt, und bisherige Bündnispartner, wie Kuba, müssen ihre Landsleute zurück in die Heimat holen. Ehen zwischen Ausländern und Deutschen stehen vor Zerreißproben. Trennung, unter Deutschen bleiben, oder in die Heimat des anderen gehen, so lauten die Alternativen. Die Familie der Autorin entscheidet sich für Kuba.
Kuba selbst befindet sich in einer wirtschaftlichen Notsituation. Die Lebensadern zu den ehemaligen Verbündeten dorren aus, es fehlt an Energieträgern, Öl, Ersatzteilen, Lebensmitteln. Die Autorin erlebt mit ihrer Familie drei schwierige Jahre in El Silencio, einem kleinen Bergdorf in der Provinz Guantanamo. In eindringlicher und bewegender Weise schildert sie ihre persönlichen Erfahrungen im kubanischen Provinzalltag und ermöglicht dem Leser einen wohl einmaligen Einblick in das Kuba dieser Tage.
LanguageDeutsch
PublisherDEVA Verlag
Release dateJan 28, 2016
ISBN9783943865028
El Silencio: Kuba ist so schön, oder was braucht der Mensch? Tausche Jeans gegen Flugticket.

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    Book preview

    El Silencio - Kerstin Velazquez Revè

    Autorin

    Kapitel I

    Die Stewardess gab über Funk durch: „In wenigen Minuten sind wir über Havanna. Temperatur 30°C. Es regnet stark." Sie wünschte uns dennoch einen schönen Aufenthalt in Kuba. Es waren nicht nur Touristen an Bord. Unter den Passagieren befanden sich dreißig junge Kubaner, die nach mehreren Ausbildungsjahren in der DDR die Rückreise in ihr Heimatland angetreten hatten. Einer von ihnen war mein Ehemann Vladimir. Im Gegensatz zu den anderen Landsleuten flog er mit seiner ganzen Familie. Dazu gehörten außer ihm und mir unsere drei kleinen Töchter: Maria, gerade 6 Jahre alt geworden und seit zwei Wochen stolzes Schulkind, Yanays mit drei Jahren und Soraida mit genau 14 Monaten. Ich war zu jener Zeit im siebten Monat schwanger. Man hatte uns gesagt, dass es ein Sohn werden wird. Obwohl noch nicht geboren, hatte er in mir schon eine Reihe Aufregungen verkraften müssen. Denn bevor wir in diesem Flugzeug saßen, gab es sehr viele organisatorische Dinge zu erledigen.

    Die meiste Arbeit machte mir das Verpacken unserer gesamten Habe, angefangen vom Kochgeschirr über Kleidung bis hin zum vollständigen Mobiliar unserer Wohnung. Das war nicht nur ein einfacher Umzug, sondern alles musste so sicher verstaut werden, dass es unbeschadet die weite Reise von der DDR übers Meer nach Kuba per Schiff überstand. Dazu kam noch, dass unser Flug nach Havanna auf den 13.09.1990 fiel, aber alle Container schon zwei Wochen vorher für den Versand gepackt und versiegelt sein mussten. Zum Glück war ich noch im Mutterjahr mit Soraida. So hatte ich den ganzen Tag Zeit, sobald sie schlief, zu sortieren, zu organisieren und zu packen. Die Behördengänge erledigte ich dann in den letzten beiden Wochen. Das gab viele Laufereien zu denen ich überall meine kleine Tochter mitnahm, während Maria und Yanays im Kindergarten spielten und mein Mann arbeiten war. So manches Mal hatte mir mein runder Bauch bald die Puste genommen. Aber letztendlich hatten wir doch alles zur rechten Zeit erledigen können.

    Der 14-stündige Flug bot mir nun Zeit zu verschnaufen, mich zu erholen, Kräfte zu sammeln und ein wenig nachzudenken.

    Noch vor wenigen Monaten hätte ich niemals geglaubt, dass ich bereits im September 1990 zusammen mit meinem Mann und unseren Töchtern für unbestimmte Zeit nach Kuba fliegen würde.

    Doch der Fall der Mauer zwischen der DDR und der BRD führte notgedrungen zur Änderung all unserer Pläne.

    Was ab Oktober 1989 in der DDR plötzlich begann, wurde zum Orkan, zum tosenden Meer. War wie Dammbruch und Überflutung positiven und negativen Lebensstückgutes von West nach Ost. Drohte plötzlich alles im Osten hinweg zu spülen was bisher das Leben in der DDR und den anderen Ostblockländern ausgemacht hatte. Niemand wusste, was noch an Werten, alten Gesetzen und Gewohnheiten bleiben würde. Für und Wider prallten aufeinander. Heiße Diskussionen. Nicht alles war bei uns schlecht und liquidierungswürdig. Enorm, wie reibungslos die Währungsunion ablief. Einmalig, dass in unserem Land in jener Zeit kein Blut floss. Trotzdem glich alles einer Vergewaltigung. Das einfache Volk taumelte in den stürmischen Wogen dieser Zeit. Sehr viele glaubten nun begänne das Paradies auf Erden. Der „goldene Westen" gebe auch ihnen Glanz, Reichtum und Freiheit, sie bräuchten nur aus den Vollen zu schöpfen.

    Andere versuchten, die sich in unserem Leben bewährten Dinge einer menschenwürdigen Existenz, mit hinüber zu retten in die Flut der neu entstehenden Gesetze und Moralvorstellungen. Ein harter Kampf.

    Das Meer stürmte. Auch ich besuchte trotz Schwangerschaft an vielen Abenden Gesprächs- und Diskussionsrunden, die nach Lösungen von vorher nicht gekannten, sich unvermeidlich einschleichenden Problemen suchten. Z. B. was wird aus Kindern, Frauen, Rentnern und den anderen schwachen Mitgliedern der Gesellschaft wenn nur noch Stärke und Profit regieren? Wir waren uns einig: „Frauen zurück an den Herd" – keinesfalls. Wir waren berufstätig, dadurch unabhängig, selbstbewusst und stark, waren gewohnt zu wirtschaften, zu planen, wollten uns und unsere Kinder in einer Gesellschaft, in der nur der Mann was zählt, nicht an die Wand spielen lassen. Wir entwarfen Gesetze und leiteten sie weiter zur Volkskammer. Wir hatten tatsächlich Hoffnung zu verhindern, dass uns, kritiklos und ohne gefragt zu werden, die Gesetze des Westens übergestülpt werden. Wir wollten verhindern, dass Kinderkrippen, Kindergärten und Jugendclubs geschlossen werden. Wie sollten wir ohne Kindereinrichtungen arbeiten gehen? Warum sollten Jugendliche nicht sinnvoll ihre Freizeit gemeinsam in Jugendclubs verbringen? Wie kann man sie vor Vereinsamung, Planlosigkeit, Gewalt und Rauschgift schützen? Was bedeutet es arbeitslos zu sein? Wie kann man damit weiterleben? Wir diskutierten bis in die Nächte hinein. Es war eine aktive Zeit. Es war noch alles möglich. Wir hatten es noch in der Hand das vereinte Deutschland mitzuformen, seine neuen Gesetze mitzubestimmen. Ich war Feuer und Flamme. Doch spürte ich auch die Uneinigkeit bei Lösungsvorschlägen, Ratlosigkeit und unsere Unwissenheit im Umgang mit dem Neuen.

    Mitten hinein in diese Zeit überbrachte mir eines Tages mein Mann die Nachricht, dass bis zum Dezember 1990 alle Kubaner das Land zu verlassen hatten und zurück nach Kuba müssten. Alle Verträge zwischen der DDR und Kuba seien abgebrochen worden. Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Was nun?

    Ohne meinen Mann weiterleben? Niemals. Wie sollte ich allein mit unseren Kindern in diesem völlig neuen, noch lange nicht sortierten und organisierten Deutschland zurechtkommen? Zusammen mit Vladimir fühlte ich mich stark. Er gehört zu den wenigen Kubanern, die im Leben und im Haushalt mit zupackten, sich nicht nur bemuttern ließen. Ohne ihn erschien mir der Berg der sich auftürmenden Probleme des frisch vereinten Deutschlands drei Mal so hoch zu sein. Unüberwindbar. Für kurze Zeit fehlte mir der Wind in meinen Segeln. Wir mussten einen Weg finden, der das Zerreißen unserer Familie verhinderte.

    Mein Mann beobachtete die Veränderungen in Deutschland mit Argwohn. Bisher hatten wir als Mischehe keine Probleme gehabt. Wir hatten beide Arbeit. Er als Dreher im Berliner Bremsenwerk, wo er auch seinen Facharbeiter als Zerspanungstechniker gemacht hatte und ich als Krankenschwester in unserem Wohnort Berlin Buch. Wir kannten das Problem Arbeitslosigkeit nicht. Brauchten bisher auch nicht um die Sicherheit unserer farbigen Kinder zu bangen. Im Gegenteil. Unsere drei kleinen Mulattinnen waren überall der Liebling und gern gesehen. Mein Mann hatte gerade die Meisterausbildung als Dreher begonnen. Nach erfolgreicher Beendigung hätte es Möglichkeiten gegeben, seine ständige Aufenthaltsgenehmigung für die DDR zu bekommen und wir hätten hier weiter leben können. Vielleicht wären wir auch irgendwann mal für ein paar Jahre nach Kuba gezogen, um dort zu leben, den Kindern dieses Land vertraut zu machen und sie die Sprache vor Ort lernen zu lassen. Ich wusste, dass mein Mann immer sehr große Sehnsucht nach Kuba hatte. Er kam nur schlecht mit unserem unfreundlichen Klima zurecht. Ich beobachtete in den fast sieben Jahren unseres Zusammenseins oft, wie er im Frühjahr plötzlich stehenbleibend ganz bewusst die ersten wärmenden Sonnenstrahlen in sein Gesicht scheinen ließ. Sonne! Wärme! Es schien, als würde in diesem Augenblick das Leben in ihn zurückkehren. Er litt in den Wintern stumm. Besonders in den ersten drei Wintern war er mehrmals heftig erkältet. Das hatte mich anfangs verwundert, da er rein äußerlich ein 1.80m großer, sehr gut durch trainierter und kräftiger Mensch ist. Wir lernten uns übrigens an einem Septembertag 1983 zufällig bei einem Besuch im Tierpark Berlin kennen. Er war gerade 19 Jahre alt, wirkte aber wesentlich älter. Ich war damals 24 Jahre. Er strotzte vor Kraft und war für mich verhängnisvoll charmant. Bei näherem Kennenlernen offenbarte sich mir nach und nach sein hilfsbereiter, umsichtiger, verständnisvoller Charakter, sodass ich meinen anfänglichen Widerstand zu dieser sich entwickelnden Liebesbeziehung aufgab. Was die Nachbarn sagten, interessierte mich jetzt nicht mehr. Sie gewöhnten sich daran, dass ich mit einem Farbigen ging. Wir ergänzten uns nicht nur im Alltag. Man konnte auch wunderbar feiern mit ihm und seinen Kollegen. Er zeigte mir mit Begeisterung, wie man nach lateinamerikanischen Rhythmen tanzte und ich hörte ihm gern zu, wenn er von seinem Geburtsort Guantanamo erzählte und von seinem Land schwärmte. Er hoffte sehr, dass mir sein Heimatland gefallen werde, wenn wir es mal besuchen würden. Ich wusste, dass er sich wünschte, dass wir einmal dorthin ziehen werden aber nur, wenn ich es auch selber so wolle. Ein Erkundungsurlaub war für 1991 bereits geplant und wir hatten nach Kräften schon gespart. Das Sparen war übrigens nicht so einfach, da mein Mann, wir heirateten 1988, noch unter Vertrag mit Kuba stand und genau wie alle anderen Landsleute, die noch nicht für immer in der DDR lebten, 60% seines Monatsgehalts in sein Heimatland transferieren musste. Da blieben ihm jeden Monat nur 300 Mark zum Leben. Es hieß, das transferierte Geld würden sie dann nach ihrer Rückkehr in Pesos ausgezahlt bekommen. Vladimir wollte damit für uns ein Haus in Kuba kaufen, in dem wir dann Urlaub machen könnten und später, wenn wir es wollten, für ein paar Jahre darin wohnen könnten. So war es für die ferne Zukunft geplant.

    Jetzt, da er die neue Zeit in Deutschland einbrechen sah und zurück in sein Land gerufen wurde, wäre er ohne Familie ohne Bedenken zurückgeflogen. Doch er hatte hier in Deutschland Frau und Kinder, an denen er ohne Zweifel sehr hing.

    Wir hatten nur fünf Monate Zeit, um eine Lösung zu finden und zu handeln.

    Es gab die Variante, dass mein Mann allein mit seiner Gruppe Kubanern zurück in sein Heimatland flog und ich zusehen müsste, wie ich hier in Deutschland allein klar käme, ohne zu wissen, ob ich ihn je wiedersehen werde. Denn niemand wusste, ob Castro seine frischgebackenen Facharbeiter in solchen Zeiten einfach wieder weglassen würde. Eine Zeit, in der keiner ahnen konnte, welche neuen Regelungen bereits der nächste Tag brachte. Großes Risiko. Wir kannten einige Ehen, die durch monatelange oder gar jahrelange ungewollte Trennung kaputtgegangen waren.

    Auf keinen Fall wollten wir dieses Schicksal für unsere Familie. Deshalb erkundigten wir uns lieber, ob es möglich wäre gleich als gesamte Familie mit zu fliegen und was dafür alles zu tun sei.

    Ich fragte meinen Mann nun gezielt aus, wie es sich dort in Kuba lebe. Er erzählte mir unter anderem, dass man dort seine Lebensmittel noch auf Lebensmittelbücher zu kaufen bekäme. Was es darauf gäbe, sei reichlich und niemand bräuchte zu hungern. Von allem sei ausreichend da. Die medizinische Betreuung und Schulbildung sei beispielgebend für den mittelamerikanischen Raum. Das Leben sei dort fröhlicher und freier als hier in Deutschland. Das Klima sei angenehmer. Ich spürte seine Sehnsucht, während er sprach.

    Da Vladimir selbst schon vier Jahre nicht mehr in Kuba und nicht mehr ganz auf dem Laufenden war, wie es sich dort 1990 lebte, kam ihm die Idee, noch bevor wir uns endgültig entschieden, ob er allein oder wir alle zusammen nach Kuba übersiedeln würden, seine Mutter ganz kurzfristig in die „noch DDR" einzuladen. Die Einladung und Finanzierung des Fluges und des Aufenthaltes wäre zu DDR Zeiten nicht so schnell möglich gewesen wie nach der Eröffnung der Grenzen. Schon im März 1990 landete meine Schwiegermutter glücklich in Berlin und wurde von ihrem Sohn in dessen kräftige Arme geschlossen und innigst umarmt. Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt. Sie hat die gleiche schokoladenbraune Hautfarbe wie ihr Sohn aber nicht, wie mir als selbstverständlich erschien, seine schwarze Haarkrause. Ihre Haare waren zwar schwarz aber glatt und als ich sie später mal berührte, fühlten sie sich hart an, etwa wie die Haare einer Pferdemähne. Das erstaunte mich. Vladimir sagte mir daraufhin, dass das Haar einer Kubanerin nur selten kraus sei. So wie es seine Mutter habe, haben es fast alle farbigen Kubanerinnen. Nur wenige hätten die Krause. Die seien dann Mischungen aus Kubaner und Europäer. Deshalb hatten also unsere älteste und unsere dritte Tochter eine Krause und die zweite Tochter groß gelocktes schwarzes Haar. Interessant. Die großen braunen Augen hatten unsere Mädchen ohne Zweifel von der Seite meiner Schwiegermutter. Sie war eigentlich eine hübsche, große und kräftige Frau. Als junges Mädchen muss sie bildhübsch gewesen sein. Zwei Monate wohnte sie bei uns. Wir wollten ihr zeigen, wie wir hier lebten, und sie sollte uns von Kuba erzählen. Leider waren meine Spanischkenntnisse, die ich mir mit einem Taschenlehrbuch mühsam selbst beigebracht hatte noch nicht so gut, dass ich mich problemlos mit ihr unterhalten konnte. So versuchten wir es lachend mit Händen und Füßen und warteten im Zweifelsfalle auf Vladimir, bis er von der Arbeit kam. Er war unser Dolmetscher. Damit er so gut wie möglich Deutsch sprechen lernen könnte, hatte er mich zu Anfang unserer Beziehung gebeten nur Deutsch mit ihm zu reden, was ich auch tat. Doch nach ca. zwei Jahren bat ich ihn, zu Hause mit mir und Maria nur Spanisch zu sprechen, damit wir es lernen könnten, doch sahen wir uns viel zu wenig, da wir beide im Dreischichtsystem arbeiteten und für die Betreuung von unserer Tochter immer so in die Schichten gehen mussten, dass nachmittags einer von uns beiden die Tochter von der Krippe abholen und versorgen konnte. So blieb es irgendwie dabei, dass wir uns die wenige Zeit, die wir zusammen waren, weiterhin auf Deutsch unterhielten und ich in Vorbereitung auf den geplanten Urlaub 1991 mich allein zu schulen begann. Es war wirklich bedauerlich, dass ich mich nur schlecht mit der Mutter verständigen konnte. Dabei hatte ich so viel zu erzählen und so viele Fragen an sie.

    Wir machten meine Schwiegermutter nicht nur mit meiner Familie bekannt und mit unserer Lebensweise vertraut, sondern informierten sie auch genau über die sich förmlich überschlagenden Ereignisse in der „noch DDR" nach der Grenzöffnung. Am Ende ihres Urlaubs, fragten wir sie, was sie uns raten würde. Zusammen nach Kuba zu fliegen oder sich auf eine unbestimmt lange Trennung einzulassen?

    Sie sagte: „Das Leben bei uns in Kuba ist völlig anders als hier. Hier habt ihr viele materielle Dinge, die wir in Kuba in dieser Menge und Auswahl nicht haben. Ich würde aber nie in einem kapitalistischem Land freiwillig leben wollen. Ich habe dieses System als Kind und mit meiner Familie erleben müssen. Du, Vladimir, und deine Kinder sind Farbige. Vergiss das nicht. Deine Frau würde es schwer haben hier allein. Bei uns ist euch unsere Hilfe sicher. Ich glaube, dass es besser wäre, mit nach Kuba zu kommen. Das kapitalistische System ist eine ideale Brutstätte für Egoismus, menschliche Kälte und Gewalt. Ich ziehe es vor, in einer Gesellschaft mit weniger Luxus, aber viel Freundlichkeit, Fröhlichkeit und auf Vertrauen basierender Sicherheit zu leben."

    Aufmerksam lauschte ich Vladimirs Übersetzung. Ich kannte das kapitalistische System nur aus den Schulbüchern. Aber was seine Mutter sagte, sprach mir aus dem Herzen. Auch ich kann ohne unnötigen Luxus leben und liebe fröhliche, fleißige, zielstrebige Menschen, die zu ihrem Wort und ihren Taten stehen. Ich liebe vertrauensvolle Sicherheit. Ich hasse Gewalt und lehne Menschen ab, die ständig damit beschäftigt sind, andere Leute zu diskriminieren oder übers Ohr zu hauen. Ich hatte plötzlich mehr Vertrauen zu dem mir noch unbekannten Kuba als zu diesem neuen Deutschland. Es begann mich zu reizen, mich einmal in einem völlig unbekannten Leben zurechtfinden zu müssen, mich, während hier sich zusehends alle Kaufhäuser mit prallgefüllten bunten Regalen präsentierten, mit einer weitaus bescheideneren, wenig auf Überfluss orientierten Lebensweise vertraut machen zu müssen. Es war wie eine Herausforderung: Viel Natur, wenig Reichtum zusammen mit meinem Mann und meinem Kindern. Ich sagte zu und Vladimir und ich leiteten alles in die Wege, damit wir als Familie gemeinsam in sein Heimatland übersiedeln konnten.

    Die Durchsage der Stewardess rief mich zurück in die Gegenwart. Ich versuchte in meine Schuhe zu schlüpfen, die ich mir während der letzten Flugstunden von den Füßen gestreift hatte. „Hoffentlich geht es dem Baby in meinem Bauch gut", dachte ich. Meine Füße jedenfalls waren so arg geschwollen, dass ich kaum in meine Schuhe kam.

    Unsere Töchter waren anfangs vom Fliegen sehr begeistert. Doch 14 Stunden Flug sind eine lange Zeit. Die beiden Jüngeren schliefen schon seit einigen Stunden. Sie waren ganz benommen, als wir sie weckten. Unsere Große hatte sich fast ohne Pause per Kopfhörer Musik oder Märchen angehört. Sie war aufgeregt, als sie erfuhr, dass wir jetzt landen und dann wirklich in Kuba sein würden. Alle schnallten sich an. Wie schon so oft während des Fluges beobachtete ich nicht nur unsere drei Töchter, sondern legte meine Hände irgendwie schützend auf meinen Bauch. Immer erst, wenn ich ein inneres leises Klopfen gegen meine Bauchdecke verspürte, fühlte ich mich beruhigt. „Es lebt, es fühlt sich wohl, hieß das für mich. Wenn ich doch nur nicht immer so eine verdammt große Angst besonders vor dem Start- und Landemanöver hätte! Mein Mann, der das genau wusste, nickte mir Mut machend zu. „Keine Angst, du wirst sehen, gleich hat uns die Erde wieder! Ich krallte meine Finger in die Sitzlehnen und hoffte aus ganzem Herzen auf eine sichere Landung. Geschafft! Der Pilot hatte saubere Arbeit geleistet. Als wir wie alle das Flugzeug verließen, schlug uns eine schwülwarme, feuchte Luft entgegen. Es goss dazu wie aus Fässern. Am Ende der Gangway stand ein Bus, der kaum alle Passagiere fasste. Wir hatten das Glück, bei der ersten Tour dabei zu sein. Es war drückend warm in dem vollen Bus. Ich glaube, nicht nur mir und meinen Kindern lief im Nu der Schweiß in Bächen den Rücken hinunter. Zum Glück war der Weg zum Hauptgebäude kurz. Während der Regen noch heftig prasselte, überließen wir uns der Zollabfertigung! Wir brauchten „nur drei Stündchen, um alle Formalitäten zur Zufriedenheit der Zollbeamten zu erfüllen. Dann endlich durften wir, genau wie die anderen schon lange vor uns, den Zoll passieren. Warum das so lange gedauert hat? Ganz einfach. Wir sind eben eine große Familie, dazu noch eine Mischehe aus zwei verschiedenen Nationalitäten. Da gibt es unglaublich viel zu fragen und unzählige Formulare auszufüllen. Selbst meine für Notfälle mitgebrachten DM musste ich auf Heller und Pfennig aufführen. Auch die anderen neunundzwanzig heimkehrenden Kubaner mussten vor dem Passieren viele Fragen schriftlich beantworten. Man wollte z. B. wissen, wo sie waren, warum sie dort waren, wie lange sie dort waren usw. Schließlich wurden wir, nachdem alles geklärt war, ganz offiziell und herzlich vom kubanischen Zoll willkommen geheißen. Hatten sozusagen unsere erste Lektion zum Thema „Geduld und Abwarten hinter uns.

    Warten und Abwarten lernt man auf Kuba. Geduld und Warten. Warten mit Geduld. Das macht einen enorm großen Teil des kubanischen Lebensstils aus. Drei Jahre lang wurde ich da immer wieder auf harte Proben gestellt. Doch davon wusste ich an unserem Ankunftstag auf Kuba noch nichts.

    Für uns war jetzt erst einmal wichtig, unser Gepäck zu bekommen. Also mischten wir uns unter all das bunte und aufgeregt schnatternde Volk, was wie gebannt die vorbeigleitenden Gepäckstücke auf dem Förderband ab taxierte. „Da! Unser erster Koffer!" – Ja, und das war es dann auch, Stromausfall! Notbeleuchtung! Meine europäische Denkweise ließ mich nicht in Panik geraten. Ich beruhigte meine Kinder dahingehend, dass das Problem sicher gleich gefunden und gelöst sein wird. Weit gefehlt liebe Mama! Geduldiges Warten war wieder angesagt. Es verging eine Stunde. Es verging eine zweite. Ist denn so etwas möglich? Was hatte das zu bedeuten? Ganz Kuba sparte Strom! Selbst mein Mann wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass wir gerade ganz aktuellen kubanischen Alltag erlebten. Als er das letzte Mal 1986 Urlaub in seinem Heimatland machte, gab es so etwas noch nicht.

    Endlich! Nach ca. 2 Stunden und 30 Minuten plötzlich wieder Strom! Alle jubelten! Eine Stunde später war dann auch das letzte Gepäckstück, unser Kinderwagen, übers Band angekommen. Das wäre also auch geschafft! „So, Papa! Wie geht‘s nun weiter?"

    Mit einem Bus sollte die Reise fortgesetzt werden. Doch obwohl wir uns alle bereits seit Stunden in und vor dem Flughafengebäude aufhielten, war von einem Bus nicht mal ein Schräubchen zu sehen. Mein Mann machte sich mit einigen anderen Männern auf, um zu erfahren, was hier gespielt wurde. Eigentlich erwartete ihr Land sie doch mit all ihren bestandenen Facharbeiterbriefen in ihrem Reisegepäck zurück!? Oder nicht?

    Wir erfuhren, dass der geplante Bus auf der Fahrt zum Flughafen kaputtgegangen sei. Man bemühe sich jetzt um einen Ersatzbus. Geduld! Die Kinder waren inzwischen todmüde. Da hieß es endlich, unser Bus sei vorgefahren. Na super! Nun wird es ja wohl vorwärtsgehen!

    Alle strömten auf die Straße. Da stand er. Viele der Kubaner riefen entsetzt: „Was ist denn das? Das ist ne Schrottmühle aber doch kein Bus!" Sie hatten vollkommen recht. Ich traute mich gar nicht, diesen Blechkasten scharf anzuschauen. Der hätte vor Beleidigung glatt die ersten Blechteile fallen lassen. Der Busfahrer sah das nicht so dramatisch. Wir sollten nicht so zimperlich sein und uns lieber mit dem Einsteigen beeilen. Guantanamo sei schließlich nicht gleich über die Straße. Jetzt begann ein Geschubse und Gedränge. Jedem wurde schnell klar, dass hier nicht alle reinpassen würden. Ein paar Vernünftige riefen: „Seid doch nicht alle wie die Rindviecher! Zuerst Mütter mit Kindern! Die Kinder auf den Schoß! Väter mit Gepäck dazu...!" Gut gedacht, doch Theorie und Praxis...!

    Schließlich hatten wir‘s geschafft. Wir waren drinnen. Die Männer schoben, drückten und quetschten das Gepäck, bis alles irgendwie reinpasste. Der Busfahrer verlor die Geduld. „Abfahrt! Einige Männer standen noch draußen. Es passte aber auch wirklich beim besten Willen kein Mäuseschwanz mehr in unser klappriges Fahrzeug. „Macht euch keine Sorgen. Da kommt noch irgendwann ein zweiter Bus, rief der Fahrer, bereits anfahrend, ihnen zu. Die Zurückgebliebenen taten mir leid.

    Unsere Kinder, die wir auf dem Schoß hatten, schliefen sofort ein. Soraida saß auf meinem Schoß vor meinem Bauch. Ab und zu boxte unser Baby von innen. Es fühlte sicher die zusätzliche Wärme und auch den leichten Druck des Körpers seiner Schwester. Mein Mann hatte die dreijährige Yanays auf seinem Schoß, die sich dicht an ihren Papa kuschelte und ebenfalls gleich einschlief. Maria saß zwischen uns und beobachtete genau wie ich den wunderschönen Sonnenuntergang. Dann schlief sie ein, und ihr Kopf ruhte auf meiner rechten Schulter. Es war eine angenehme Stille im Bus. Die meisten Fahrgäste schliefen.

    Kurz bevor wir Havanna verließen, bog der Bus in eine Seitenstraße und fuhr uns zu einer Bankfiliale. Vladimir sagte, wir bräuchten jetzt ein bisschen Geduld, da hier allen anwesenden Kubanern ihr Geld, welches sie all die Jahre nach Kuba transferiert hatten, ausgezahlt wurde. Mein Mann hatte in der Tasche eine in Berlin ausgestellte Quittung für etwa 8.000 Pesos. Wir warteten wohl zwei Stunden, bis alle ihr Geld hatten. Ich merkte, dass die Männer verärgert waren. Vladimir erzählte mir, dass fast alle nicht den vollen Betrag ausgezahlt bekommen hätten. Auch ihm fehlten noch 4.000 Peso. Das ist sehr viel Geld. Man hatte den Männern gesagt, sie sollten in einem halben Jahr noch einmal vorsprechen und würden dann den Rest nachgezahlt bekommen. Das bedeutete, dass sie nach sechs Monaten wieder diese lange Reise nach Havanna machen mussten, nur um das ihnen rechtmäßig zustehende Geld zu bekommen. Viele Männer schimpften: „Schmarotzer! Die wollen uns nur hinhalten. Das Geld werden die uns nicht in hundert Jahren geben... Als alle wieder eingestiegen waren, ging die Fahrt weiter. Der Fahrer fuhr gleichmäßig und zügig. Die Luft durch die offenen Busfenster war angenehm lau. Der Regen hatte schon lange aufgehört. Ich fühlte mich wohl und sogar geborgen. Mein Mann saß dicht bei mir. Wir waren alle gesund beieinander. Das war die Hauptsache! Alle vier bis sechs Stunden hielt der Bus an Raststätten. Da hieß es: „Alles aussteigen und die verrenkten und verschlafenen Glieder sortieren und wieder in Bewegung bringen!

    Massenauflauf auf den Klo‘s! „Hygiene wo bist Du!?" Ich war entsetzt! Doch was sein muss, muss sein. Die Kinder nahm ich da nicht mit hinein. Natur gab es reichlich... An jeder Raststätte war auch eine Imbissmöglichkeit. Überall fast das gleiche Angebot: Kaffee schwarz, sehr süß, in finkennapfähnlich kleinen Tässchen gereicht und trockene oder mit Käse belegte Brötchen dazu. Viele Kubaner füllten sich ihre mitgebrachten Flaschen mit für mich undefinierbaren Fruchtgetränken. An jeder Raststätte das gleiche Angebot, die gleichen Klo‘s, aber eine unglaublich schöne, laue, angenehm zu schnuppernde Nachtluft. Das war ein Genuss, da mal so richtig tief durchzuatmen! Wunderbar! Der Blick zum Himmel glich einem Traum. Ein blankgeputztes, geheimnisvoll blinkendes Sternenzelt. Klar, unendliche Tiefe verratend und doch die Sterne wie zum Greifen nah. Von diesen sternklaren, angenehm lauen Nächten auf Kuba schwärme ich heute noch.

    Der anbrechende Morgen brachte uns empfindlich kühle Luft durch die noch immer geöffneten Fenster unseres Busses. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich diese Fenster gar nicht schließen ließen. So bedeckten wir unsere noch fest schlafenden Kinder mit unseren Jacken und einer Babydecke aus unserer Reisetasche. Langsam ließen sich genauere Umrisse und schließlich Einzelheiten der mir noch völlig fremden Natur dieser karibischen Insel erkennen. Bei der nun folgenden Rast beobachtete ich neben dem üblichen Gang zur Toilette, dass viele der reisenden Kubaner ihre Zahnbürste zückten, um sich gleich gründlich die Zähne zu putzen und ihr Gesicht mit einer Handvoll kaltem Leitungswasser zu erfrischen. Nach dieser so beendeten Reisemorgentoilette bestiegen alle wieder den Bus, und weiter ging die Fahrt. Es schienen neue Menschen im Bus zu sitzen! Lebhaftes Morgengeschnatter, Scherze und freundliches Gelächter begleiteten jetzt die Fahrt. Auch unsere Kinder waren hellwach und bestaunten genau wie ich die vorbeigleitenden kleinen Dörfer, Zuckerrohrfelder, Weideflächen und natürlich die Palmen. Es gibt ganz verschiedene Palmensorten. Das fiel meinen beiden großen Töchtern sofort auf.

    Fuhren wir dann durch Städte, wusste man bei all den vielen Leuten auf den Straßen nicht, wohin man zuerst sehen sollte. Meine Kinder fanden die Autos auf den Straßen komisch. Viele von denen waren nicht komisch, sondern so altmodisch, dass einem Oldie-Liebhaber das Herz höher schlagen könnte. Nicht nur die Modelle, auch der Zustand der meisten Autos war faszinierend. Krachend, stinkend – aber sie fuhren! Manche waren so toll blank geputzt, das sie in der nun schon kräftigeren Sonne des jungen Tages blendeten. Auffallend waren überall die an größere Gebäude geschriebenen, und durch ihre leuchtend weißen Buchstaben weithin gut sichtbaren Worte: Socialismo o muerte oder Viva la Revolución.

    Von meinen Mann wusste ich bereits, dass das kubanische Volk sehr stolz auf die Errungenschaften seiner sozialistischen Revolution war. In jeder größeren Stadt hielt der Bus, um stets einige seiner Fahrgäste zu verabschieden. Diese hatten ihren Heimatbezirk erreicht. Mein Mann sagte mir schon, dass wir mit zu den Allerletzten gehören würden, die den Bus verlassen werden. Da es im Verlauf der Stunden immer leerer und wärmer im Bus wurde, wechselten wir unsere europäische Herbstkleidung, holten aus der Reisetasche Sommerkleidung hervor, und ich legte mich einfach lang ausgestreckt auf eine der inzwischen freien Sitzbänke. Ach! Das tat gut! Sicher hatte auch mein Baby jetzt wieder besser Platz in meinem Bauch. Während ich mich so entspannte, hatte mein Mann alle Hände voll zu tun, darauf zu achten, dass sich unsere begeisterten Kinder nicht zu weit aus den offenen Fenstern hängten. Außerdem riefen die beiden Großen ständig: „Papa was ist denn das? Papa, was machen denn die Leute dort? Immer häufiger hielt nun der Fahrer seinen halbleeren Bus auf offener Strecke an, um Fußgänger einsteigen zulassen, die mit Handzeichen zu verstehen gegeben hatten, dass sie gern mitgenommen werden möchten. Ich staunte darüber. Die fröhlich Eingestiegenen erzählten uns, seitdem sie dort in Europa nacheinander alle dem Sozialismus den Rücken kehrten, gebe es aus der Sowjetunion keinen Treibstoff bzw. Benzin und Petroleum mehr. Deshalb bekommen private Autobesitzer und Motorradbesitzer auf Kuba Benzin nur auf Zuteilung. Busse, Lkws und Traktoren erhalten Benzin und Petroleum vom Staat und sind seit kurzem von Fidel verpflichtet worden, alle Fußgänger mitzunehmen, sofern sie dies durch ein Zeichen kundgetan hatten. „Das klappt ganz prima! Und so helfen wir uns untereinander! erklärte uns lachend einer der neu Eingestiegenen. Ich hatte mich inzwischen auch wieder zu meinen Töchtern ans Fenster gesetzt und stellte fest, je weiter wir gen Süden der Insel fuhren, desto interessanter wurde die Natur. Sie wurde bergiger, üppiger und attraktiver, teilweise richtig urwaldmäßig. Doch die Behausungen, oft einfache Holzhütten in mehr oder weniger gutem Zustand, die klapprigen Pferde vor eben so alten Holzkarren, die mit Reisig, Säcken, Früchten oder anderen Dingen beladen die Landstraße entlang schlichen, ließen auf eine sehr einfache, sogar ärmliche Lebensweise vieler Kubaner schließen. Das stimmte mich nachdenklich und bereitete mir irgendwie ahnungsvolles Unbehagen. Leise und etwas verunsichert fragte ich meinen Mann: „Du sagtest doch, dass deine Familie in einem Haus aus Stein wohnt, oder? Und das Haus sei ein großes Haus? „Ja, mein Schatz. Was hast du? Warum fragst du? Ich wies nur mit dem Kopf auf ein wieder vorbeigleitendes, windschiefes Holzhaus, vor dem auch gerade noch ein Pferd graste, welches fast nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien. „Ach so! Nein, keine Angst, so leben wir nicht", beruhigte mich Vladimir. Nun gut, ich ließ mich überraschen! Die exotische Landschaft wiederum tat mir gut, gab mir mein seelisches Gleichgewicht wieder zurück.

    Am späten Nachmittag hielt der Bus in Guantanamo. Endstation! Bis auf uns stiegen alle aus und wurden unter Tränen der Freude von den sie erwartenden Angehörigen in die Arme geschlossen. Wir hatten Glück. Der Busfahrer hatte in dem Ort, in dem die Familie meines Mannes wohnte, Verwandtschaft und bot uns an, uns vor der Tür des Hauses meiner Schwiegereltern dort in Manuel Tames abzusetzen. Er sagte zu Vladimir: „Dein Vater ist Ernesto, und du bist Negro, sein Sohn! Junge, da brauchst du mir nicht erst zu erklären, wo euer Haus ist. Deinen Vater kenne ich. Ist ein prima Kerl! Also ab geht die Post!"

    Dreißig Minuten später waren wir in Manuel Tames, fuhren durch die engen, aber von Fußgängern bunt belebten Straßen, direkt vor das Haus meiner Schwiegereltern. Mann hatte uns dort schon viel früher erwartet und sich gesorgt. Alle freuten sich nun um so mehr, dass wir doch noch angekommen waren. Ich lernte die 16 jährige Schwester, Katja und den 23 jährigen Bruder, Manuel, kennen. Katja war ebenso dunkelhäutig wie mein Mann, groß und gut entwickelt für ihr Alter. Manuel war genauso kräftig wie Vladimir, hatte hellere Haut als mein Mann aber es war unglaublich, wie ähnlich sich die beiden waren. Herzlich wurden wir von allen begrüßt und ins Haus geführt. Es herrschte allgemeine große Freude und aufgeregtes Durcheinandergerede. Alle halfen das Gepäck hereinzutragen. Unsere Töchter wurden umarmt und mit Küssen übersät. Das war ihnen alles zu viel. Sie klammerten sich an mich, als wollten sie sagen: „Mami, wo sind wir denn hier hingeraten?" So dachte auch ich. Das soll nun also das große Haus sein? Von Außen sah dieser Betonflachbau bedeutend größer aus. Doch konnte Vladimirs Mutter nur eine Hälfte des Hauses nutzen. Der Grund: Vladimirs Eltern waren seit ca. 9 Jahren geschieden. Das Haus wurde damals nach der Scheidung geteilt. Der Mutter blieben auf der linken Seite drei ca. 6 m² große Räume, eine 12 m² große Küche mit Lehmfußboden und eine Duschecke mit eingebauter Toilette, die ihr Lebensgefährte gemauert hatte.

    Hier sollten nun mit uns insgesamt neun Personen aus drei Generationen leben! Ich kämpfte mit den Tränen. So hatte ich mir das alles absolut nicht vorgestellt. Aus der zweiten Haushälfte begrüßten uns Vladimirs Vater, dessen zweite Frau Elvia, deren 17 jährige Tochter und Reden, der somit jüngste Sohn des Vaters meines Mannes. Meinen Schwiegervater sah ich an jenem Tag zum ersten Mal. Auf den ersten Blick konnte ich kaum Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn feststellen. Doch als er zu sprechen begann, erkannte ich unverkennbar die gleiche Stimme und Übereinstimmungen in Mimik und Gestik. Kein Zweifel. Das war sein Vater nur sehr viel hellhäutiger und sehr wohl genährt. Elvia war eine rotblonde, schlanke, etwas abgearbeitet wirkende weißhäutige Frau von Mitte vierzig. Der kleine Reden war ebenfalls sehr hell und genauso alt wie unsere Tochter Yanays, also drei Jahre. Meine Töchter lachten amüsiert, als ich ihnen sagte, dass Reden ein Bruder von ihrem Papa und damit ihr Onkel sei. Es war inzwischen gegen 18 Uhr und der 15.9.1990. Am 13.9.1990 hatten wir in der Morgendämmerung unsere Berliner Wohnung verlassen und uns seitdem nicht mehr gründlich waschen können, kein Bett gesehen. Wir sehnten uns nach einem Bad und ich mich ganz besonders nach einem Bett! Ab diesem Tag galt es, sich kubanisch zu baden. Dazu nehme man sich einen Eimer kaltes oder, wenn man will, etwas angewärmtes Wasser, einen kleinen Schöpfbehälter und gieße sich mit dessen Hilfe das Nass über den Körper. Das nennt man dann Duschen. Eben eine Frage der Gewöhnung. Nach dieser langen Reise ohne Zweifel ein erfrischender Genuss.

    Zum Abendbrot, welches die Mutter jetzt erst zu kochen begann, gab es braune Bohnen, Reis und Ei. Meine Kinder und ich schliefen längst, als dieses Mahl von den anderen zu nächtlicher Stunde gegessen wurde. Ich schlief so fest, dass ich nicht merkte, wann mein Mann sich, sicher erst lange nach Mitternacht, zu uns legte. Er, ich und unsere jüngste Tochter schliefen zusammen in einem Bett, welches fast die Breite europäischer Ehebetten hatte. Die Matratze war so ausgelegen, dass wir uns stets alle drei in der Mitte des Bettes trafen. Das war mit einem bereits dicken, schwangeren Bauch nicht sehr bequem. Unsere beiden anderen Töchter schliefen im Nebenraum in einem eben so breiten Bett und teilten es sich mit Vladimirs Schwester. Mehr Betten gab es in diesem Haus nicht. Ich war am anderen Morgen entsetzt und fühlte mich beschämt, als ich sah, dass Vladimirs Mutter und deren Lebensgefährte im dritten Raum la sala, sprich Wohnzimmer, sich ein Schlaflager auf dem Betonfußboden bereitet hatten. Der Bruder Manuel schlief bei seiner Freundin. Die

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