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Steinwart Wurzelknopf und die Ebene von Marsandt
Steinwart Wurzelknopf und die Ebene von Marsandt
Steinwart Wurzelknopf und die Ebene von Marsandt
Ebook596 pages7 hours

Steinwart Wurzelknopf und die Ebene von Marsandt

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About this ebook

Nachdem Steinwart wieder zu Hause ist und er seinen Ruhestand genießen will, wird ihm eines Morgens klar vor Augen geführt, dass er sich getäuscht hat, als er glaubte, das Böse besiegt zu haben.
Sind sie zu voreilig gewesen?
Alles scheint ruhig. Dann stellt sich heraus, dass es nur die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm gewesen ist.
Freunde entpuppen sich plötzlich als undurchschaubar. Das Misstrauen wächst.
Auch wenn Steinwart müde ist, versteht er, dass es seine Aufgabe ist, Gorm für immer zur Strecke zu bringen.
Er sammelt die Gefährten um sich, auf die er sich verlassen kann. Erneut stürzt er sich in ein Abenteuer, von dem er nicht weiß, wie es enden wird.
Erlebnisse und Gefahren säumen seinen Fußmarsch, aber auch neue Freunde kreuzen seinen Weg und eine neue Liebe reift in Zeiten der Dunkelheit.
Wird Steinwart es schaffen, das Böse für immer zu tilgen?
LanguageDeutsch
Release dateAug 6, 2015
ISBN9783863321482
Steinwart Wurzelknopf und die Ebene von Marsandt

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    Steinwart Wurzelknopf und die Ebene von Marsandt - Henry Wimmer

    Henry Wimmer

    Steinwart Wurzelknopf

    und die

    Ebene von Marsandt

    1 Ein neuer Tag

    Steinwart gähnte laut und herzhaft und schälte sich aus seinem Bett. Seit er nicht mehr täglich in den Berg musste, hatte er sich auf einen Rhythmus eingependelt, der ihm morgens ein wenig mehr Ruhe schenkte. Zwar wurde er immer noch sehr früh wach, doch das machte ihm nichts aus. Er genoss diese Zeit, setzte sich vor seine neue Wohnung und schaute dem Leben zu, welches an ihm vorbeizog.

    In der ersten Zeit nach all den Geschehnissen hatte er noch die alte gemeinsame Unterkunft bewohnt, die er sich über so viele Jahre mit seiner geliebten Hyazintha teilte. Doch, egal was er auch tat, egal, was er auch sah, er nahm sie in der kleinsten Kleinigkeit wahr. Was dazu führte, dass er sich einfach nicht mehr aus einer dauerhaften Betrübnis lösen konnte.

    Als er Baldur davon berichtete, gab ihm dieser zu verstehen, was er dachte. Baldur war ihm zu seinem besten Freund geworden. Ihm zu Liebe erlernte Steinwart die Gebärdensprache. Heute nun, da die Dunkelheit lange zurücklag, unterhielten sie sich, als habe es nie eine andere Form der Verständigung gegeben.

    Inzwischen waren der Sommer und der Winter zweimal ins Land gezogen. Langsam begannen die Erlebnisse zu verblassen, die so viel Unglück über sie gebracht hatten.

    Doch zurück zu Steinwarts neuer Wohnung.

    Als Baldur ihm erklärte, er täte besser daran, war der Zwerg im ersten Moment schockiert.

    «Du erwartest wirklich, dass ich all das hier, was ich mir mit Hyazintha aufgebaut habe, einfach zurücklasse? Das ist nicht dein Ernst. Das ist ja fast, als würde ich alles infrage stellen, was jemals zwischen uns war!»

    Baldur sah ihn aus seinen großen dunklen Augen an.

    Wenn Steinwart genau hinsah, konnte er noch das erlebte Leid darin lesen. Vor allen Dingen in Phasen, in denen er nur vor sich hinsah, weit entrückt, ließ sich an den tiefen Gräben in seinem Gesicht ablesen, welch unvorstellbare Schmerzen Baldur hatte erdulden müssen.

    Erst nachdem Steinwart über Baldurs Worte nachdachte, erkannte er, wie viel Wahrheit darin steckte. Er würde erst wieder zu sich selbst finden, wenn er mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte. Dass er Hyazintha für immer tief in seinem Herzen tragen würde, war dabei selbstverständlich. Doch seine Frau hätte es nicht gewollt, dass er sich vergrub und zu anderen Gedanken nicht mehr fähig war.

    Wie jeden Abend hielt er auch vor jener Nacht Zwiesprache mit ihr. Als alle gegangen waren, verzog sich Steinwart in sein Schlafzimmer. Er vertraute Hyazintha jeden Abend seine tiefsten Gedanken an. Alles, was ihn bedrückte. Nicht, dass er wirklich eine Antwort erwartet hätte. Er wusste, dass das nicht möglich war. Zumindest nicht ohne die Hilfe der Schmetterlingsfrau. Trotzdem war es ihm, als ob ihn diese inneren Gespräche von sehr viel Last befreiten. Er wusste, dass sie ihn hörte. Dass es eben nur nicht möglich war, eine Antwort zu erhalten.

    «Meine Liebe, da bin ich wieder. Wieder habe ich einen Tag ohne dich hinter mich gebracht. Wahrscheinlich wirst du ohnehin alles wissen, was ich dir hier jetzt erzähle. Aber ich brauche einfach diese wenigen Minuten, in denen ich mich dir ganz nah fühle.

    Baldur meinte heute zu mir, ich soll mir ein neues Zuhause suchen. Ich habe ihn zuerst gefragt, ob er überhaupt wisse, was er da von mir erwartet. Doch nun habe ich nachgedacht. Ich glaube, er hat Recht. Hier erinnert mich zu vieles an unser gemeinsames Leben. Natürlich weiß ich nicht, ob du es gutheißen kannst, wenn ich mir eine neue Unterkunft suche. Aber ich habe beschlossen, dies zu tun. Ich wünschte mir so sehr, du könntest mir ein Zeichen geben. Es würde mir so viel bedeuten.»

    Steinwart lauschte. Aber da kam nichts zurück.

    Als er jedoch aufstand, wehte der Wind ihm durch die offenen Fenster so über den Kopf, dass es ihm von hinten durch sein graues Haar strich. Genauso hatte auch Hyazintha dies immer getan.

    Zufall oder nicht. Für Steinwart war das ein untrügliches Zeichen für ihre Zustimmung.

    Bereits am nächsten Tag machte er sich auf die Suche nach einem neuen Heim. Und er wurde schnell fündig.

    Eine Wohnung, tief in einen riesigen Baum eingebettet, dessen Zweige und Blätter bis hinab zum Boden reichten. Schattig. Und trotzdem so viel Sonne, dass es ihn nicht bedrückte. Das Schönste aber war die Terrasse, die nach hinten heraus auf einen kleinen See zeigte. Steinwart liebte es, dort zu sitzen und stundenlang dem Leben im und auf dem Wasser zuzuschauen.

    So auch an diesem Morgen, da meine neue Erzählung aus Steinwarts Leben beginnt. So friedlich es auch der Anschein war, so täuschte der Schein. Die Freunde gingen damals auseinander, um sich in alle Winde zu verstreuen. Wie so oft im Leben war aus den Beteuerungen sich wiederzusehen, bisher nichts geworden. Steinwart war darüber ein wenig enttäuscht. Aber böse war er nicht. Targor und Barina lebten ihr eigenes Leben. Das war auch gut so. Sie waren noch junge Leute. Was wollten sie mit einem alten Zwerg anfangen?

    Sy-Bita allerdings hatte ihn wirklich zutiefst getroffen. Auch wenn die Schmetterlingsfrau mit eine der Auslöserinnen gewesen war für die Abenteuer in jener Zeit. Auch wenn sie ihnen auf ihre Art manchmal lästig gewesen war, so hatte er doch ein paar mehr Worte zum Abschied erwartet. Als sie aber von einem Moment auf den nächsten verschwand und ihn und seine Freunde vor dem Sumpf Brom alleine ließ, hatte er das lange Zeit nicht begriffen. Sie mochte ihre Gründe dafür gehabt haben, so kurz und schmerzlos das Weite zu suchen, aber das hieß nicht, dass er ihre Beweggründe verstehen musste.

    Steinwart saß an seinem See.

    Auch wenn er ihm nicht wirklich gehörte, nannte er ihn gerne so. Und hatte er nach all den Schwierigkeiten nicht ein wenig Lob und Anerkennung verdient? Von daher beschloss er einfach, dass es sein See sein würde. Sollte doch jemand kommen und etwas anderes behaupten.

    Der Winter war lang und hart gewesen. Erst vor wenigen Tagen hatte die Eisdecke begonnen zu schmelzen. Steinwart gehört nicht zu den Lebewesen, die sich einen Spaß daraus machten, über das blanke Eis zu rutschen. Dafür hatte er einfach zu viel gesunden Respekt vor Wasser. Egal, ob in flüssiger oder in fester Form.

    Ein Heidenspaß aber war es für ihn, den anderen aus seiner sicheren Behausung zusehen zu können. Wie sie auf dem Eis lachten, wie sie rutschten, spielten. Und manchmal, das musste er zugeben, schmunzelte er auch voller Schadenfreude, wenn es jemand die Beine wegzog und derjenige mit einem harten Schlag auf seinem Hinterteil landete.

    Da bis zu diesem Zeitpunkt jedoch alles glimpflich abgelaufen war, gab es keinen Grund hilfreich einzugreifen.

    Heute Morgen wollte er sich nun gar nicht von diesem geliebten Anblick lösen. Wenn er ehrlich war, musste er Baldur mehr als dankbar sein, dass er ihn bewegt hatte, umzuziehen.

    Es war bereits die fünfte oder sechste Tasse heißen Holunderblütentees, die Steinwart seit dem Aufstehen zu sich nahm. Und sicherlich auch bereits das zweite Pfeifchen. Der Zwerg sah in gespieltem Ernst zum Himmel auf.

    «Ich weiß, dass du das nicht gutheißen kannst. Aber lass deinem alten Zwerg doch diese Freude. Was soll es denn bitte nutzen, wenn ich das Rauchen jetzt noch einstelle?»

    Steinwart grinste in sich hinein.

    In diesem Fall sogar froh, dass Hyazintha nicht in der Lage war, ihm die passende Antwort zu geben.

    Gedankenverloren sah er den Eisschollen zu, die langsam begannen auseinanderzubrechen und auseinanderzudriften. Seine rechte Hand, die sein Pfeifchen hielt sank langsam herab. Es war so viel Frieden und stilles Glück in diesem Moment verhaftet, dass Steinwart sich im Nachhinein gewünscht hätte, so wäre es für immer geblieben.

    Doch wer hätte auch nur im Ansatz vermuten können, dass es anders kommen würde. Völlig anders. Dass die Geschehnisse der nächsten Wochen vieles in den Schatten stellen würden von dem, was sie zwei Jahre zuvor erlebten.

    Doch lest selbst.

    2 Schlamm

    Der See beginnt, vor Steinwarts Augen zu schillern. Und plötzlich ist er verschwunden. Nein. Verschwunden ist nicht der richtige Ausdruck. Er verändert sich. Zuerst sind es nur Blasen, die aus dem Wasser aufsteigen. Steinwart beugt sich vor. Ein völlig neues Phänomen, das er bisher noch niemals beobachtet hat. Dann folgt der Gestank. Die Blasen zerplatzen mit einem deutlich hörbaren Geräusch. Und sie hinterlassen etwas, das den Zwerg vor Ekel die Nase rümpfen lässt.

    Plötzlich sind die Erinnerungen wieder da.

    Der Sumpf Brom.

    Diese Erkenntnis führt dazu, dass sich auch die Wasseroberfläche verändert. Dort, wo eben noch kleine Eisschollen friedlich vor sich hin dümpeln, wird das Bild zum Morast. Die Wellen werden schwerfälliger und zäher, bis sie sich nach kurzer Dauer zu einer morastigen Oberfläche verdichten.

    Steinwart spürt, dass sich sein Sessel nach vorn bewegt. Mit einem Mal sitzt er nicht mehr auf der Veranda seines Hauses. Stattdessen stehen seine Beine mitten in sumpfigem Gebiet. Langsam beginnt er zu versinken. Der Zwerg will sich wehren. Doch es ist, als könne er sich nicht bewegen. So sehr er es auch versucht – seine Gliedmaßen gehorchen ihm nicht.

    Schon steht ihm das brackige Wasser bis zum Hals. Steinwart spürt, dass da etwas nach seinen Beinen greift. Dass etwas versucht, ihn tiefer und tiefer zu ziehen. Er beginnt zu spucken, als das Wasser seine Lippen erreicht. Und er weiß plötzlich mit entsetzlicher Klarheit, dass er verloren hat.

    Etwas beginnt, an seine Schultern zu stoßen. Zuerst vorsichtig. Dann heftig und schmerzhaft. Steinwart dreht mit äußerster Willensanstrengung seinen Kopf. Aber er sieht nichts. Nichts als das Moor. Das Moor. Das Moor. Und bleiche Finger, die sich ihm entgegenrecken.

    Was hat das zu bedeuten? Was haben sie nur übersehen?

    Ein heftiger Schlag ins Gesicht holte den Zwerg in die Gegenwart zurück. Seine rechte Wange brannte. Wütend sprang er auf, wirbelte herum – und sah seinem Freund Baldur ins Gesicht. Dieser stand wie verloren dort. Blass und mit einem tiefen Entsetzen in seinem Blick.

    Steinwart sah nach vorne.

    Der See. So, wie er ihn kannte. Das Eis. Enten, die auf den inzwischen wieder freien Wasserflächen nach Futter suchten.

    Hatte er alles nur geträumt? Aber es kam ihm doch so wirklich vor. Selbst diesen widerlichen Geruch hatte er noch in seiner Nase.

    Baldur Hände begannen zu fliegen.

    «Du hast so entsetzlich gestöhnt. Mir war sofort klar, dass etwas mit dir nicht stimmen konnte. Du hast dich auf eine Art und Weise bewegt – nein, eher nicht bewegt -, dass es mir Angst und Bange wurde. Als seist du gefangen. Als halte dich etwas fest und lasse dir keinen Spielraum, eigene Entscheidungen zu treffen.

    Zuerst habe ich dich nur gerüttelt. Aber du warst so weit weg, dass ich keine Chance hatte, dich zu wecken. Bitte verzeih mir, mein Freund, dass der Schlag in dein Gesicht das Einzige war, das mir noch einfiel.»

    Baldur sah Steinwart an, gefangen zwischen der Angst, etwas falsch gemacht zu haben und der Freude darüber, dass er möglicherweise den einzigen Entschluss gefasst hatte, der seinen Freund befreite.

    «Baldur. Keine Sorge. Wie könnte ich dir böse sein? Ich habe einen solch schrecklichen Alptraum erlebt, dass ich mir nicht mehr sicher sein konnte, ob es sich um Wahn oder Wirklichkeit handelte. Ich war plötzlich wieder im Sumpf. Da griff etwas nach mir. Es zog mich etwas hinunter. Baldur, ich habe Angst. Das war mehr als ein böser Traum. Haben wir damals etwas übersehen?

    Jetzt, da du mich zurückgeholt hast, verblasst es wieder. Vielleicht lache ich morgen darüber. Vielleicht sind es nur die trüben Gedanken nach einem langen Winter, die meinen Geist verrücktspielen lassen.

    Jedenfalls danke ich dir von Herzen, dass du mich befreit hast. Und der Schlag ins Gesicht …», Steinwart rieb sich die schmerzende Wange, «na, den bekommst du zu gegebener Zeit zurück.»

    Die beiden Männer lachten, was die Situation spürbar entkrampfte. Doch beide konnten sich nicht ganz von den Erlebnissen befreien.

    Baldur blieb lange an jenem Tag.

    Einerseits wollte er Steinwart nicht alleine lassen, andererseits genoss er die Stunden mit seinem Freund. Die gemeinsamen Erlebnisse hatten dazu geführt, dass sie sich weit mehr zusammengehörig fühlten als davor. Außerdem war Steinwart der Einzige, der sich die Mühe genommen hatte, die Gebärdensprache gemeinsam mit ihm zu erlernen.

    Seitdem war Baldur froh, sich wenigstens einer Person gegenüber wieder in jeder Hinsicht offenbaren zu können. Das Schreiben war einfach nicht seine Sache. Wie viel einfacher war es da, sein Herz mit Hilfe seiner Finger ausschütten zu können.

    Gegen Abend saßen sie immer noch gemeinsam auf der Veranda. Alles was über den Tag hinweg gesagt werden sollte, war gesagt. Jetzt war es nur wichtig, bei einer gemeinsamen Pfeife von Steinwarts kräftigem und würzigem Tabak, seinen Gedanken nachhängen zu können. Jeder für sich und jeder auf seine Weise.

    Erst als die Nacht schon fast wieder in den neuen Tag überging, machte Baldur sich auf, nach Hause zu gehen. Steinwart war ihm dabei überhaupt nicht böse, dass sein Freund dermaßen lange geblieben war. Es hatte sich inzwischen so eingespielt. Die gemeinsamen Unterhaltungen waren ebenso wichtig geworden, wie das gemeinsame Schweigen.

    «Ich glaube, ich sollte mich jetzt auf den Weg in meine eigenen vier Wände machen. Schlaf gut, Steinwart. Und solltest du Hilfe benötigen, weißt du ja, wo du mich findest.»

    Baldur ließ dabei im Raum stehen, dass Steinwart kaum eine Möglichkeit haben würde, ihn zu rufen, sollte es eine brenzlige Situation geben. Vor ein paar Tagen hatten sie noch darüber gesprochen, möglicherweise zusammenzuziehen. Hier bei seinem Freund war genügend Platz. Und der Vorschlag war schließlich von Steinwart selbst gekommen. Doch so gut sie sich auch verstanden, nach kurzer Diskussion kamen sie von diesem Thema wieder an.

    Es war wichtiger, die gemeinsamen Freiräume nicht aufzugeben.

    «Alles klar, Baldur. Pass auf deinem Weg auf. Wir sehen uns morgen. Schlaf gut.»

    Als Steinwart die Tür hinter ihm schloss, holte er seinen Sessel von der Veranda, schloss den Vorhang und begann, noch einige Sachen vom Tage wegzuräumen. Hyazintha hatte ihn so erzogen. Wieso sollte er jetzt etwas daran ändern.

    Als er wieder in den Wohnraum zurückkam, rümpfte er die Nase. Was war das für ein Geruch, der begann, sich in seinem Zimmer auszubreiten?

    Der Zwerg ging alle Ecken ab. Doch er fand nichts. Bis, ja bis er wieder zu seinem Sessel kam. Dort wurde im unmittelbaren Umfeld der Gestank so intensiv, dass er wusste, die Quelle gefunden zu haben.

    Steinwart drehte den Sessel auf den Kopf.

    Eine dicke Schicht dunklen Schlamms klebte an den Beinen. Vorsichtig aber mit klopfendem Herzen näherte Steinwart seinen rechten Zeigefinger den dunklen Anhaftungen. Er roch daran. Ein eindeutiger fauler Geruch ging davon aus. Das war ohne Frage verunreinigter Boden aus dem Sumpf. Verunreinigt von bösen Gedanken, sowie unzähligen Geschöpfen, die dort ihr Ende fanden.

    Mit einem nie gekannten Ekel trug der Zwerg den Sessel nach draußen. Wusch den Schlamm von den Sesselbeinen. Dann seine eigenen Hände. Als er den Schlamm ins Wasser warf und dieser sich leicht drehend entfernte, war es ihm, als wolle das Moor ihn über die weite Entfernung verhöhnen.

    «Bitte nicht schon wieder», stöhnte er. «Wie ist das nur möglich?»

    Hinterfragen aber wollte er die Situation nicht. Dazu hatte er zu viel erlebt.

    Unruhig wälzte er sich wenig später in seinem Bett. In den Schlaf zu finden, war unmöglich. Er lauschte jedem Geräusch. Jedes Knacken ließ ihn zusammenfahren. Nein, das war kein Zustand.

    Wenig später, tief in der Nacht, klopfte es an Baldurs Tür.

    Als er öffnete, ohne selbst auch nur eine Minute geschlafen zu haben, stand ein völlig aufgelöster Steinwart vor ihm.

    «Komm herein», sprachen Baldurs Hände.

    3 Nachtaktiv

    Der Wald lag dunkel da. Und friedlich. Etliches an nachtaktivem Getier hatte sich auf Beutezug begeben. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht erkennbar sein mochte, pulsierte das Leben überall.

    Doch leider auch an Stellen, an denen das Leben nicht mehr war, als eine bloße Verhöhnung desselben. Seit Tagen schob sich an diesem Stück des Waldes eine fingerdicke Wurzel Zentimeter um Zentimeter durch den lockeren Waldboden. Angefangen als eine kaum erkennbare Faser war sie inzwischen angewachsen. Dort, wo sie die Bäume streifte, zog sie ihnen Lebenskraft ab. Auch wenn das jetzt noch nicht erkennbar war, würde es spätestens der nächste Herbst zeigen. Die betroffenen Bäume würden ihre Blätter wesentlich früher abwerfen als gewöhnlich. Sofern es fruchttragende Bäume waren, würde ihr Obst nicht mehr sein, als eine Hülle. Gefüllt mit fauligem Inhalt. Im übernächsten Jahr würden sie bereits kein Laub mehr tragen. Und ein, zwei Jahre darauf würden nur verkrüppelte Stümpfe mahnend zum Himmel zeigen.

    Das interessierte die parasitäre Wurzel allerdings überhaupt nicht.

    Stattdessen stellte sie in sich selbst bereits den Hunger fest, auf fleischliche und blutgetränkte Nahrung. Dass sie diese augenblicklich noch nicht erhielt, war leicht zu erklären. Von dort, wo sie herkam, aus dem Sumpf Brom, nahm sie vieles mit. Zum einen die tiefe Bosheit, zum anderen aber auch den infernalischen Gestank. Sie konnte soweit vorrücken, wie sie wollte. So lange ihre Anfänge mit dem Sumpf verbunden waren, würden sie diesen Geruch nicht los. Dies führte dazu, dass die Tiere ihr aus dem Weg gingen, sobald sie ihre Ausdünstungen witterten.

    Doch die Wurzel war nicht dumm.

    Sie lernte von Tag zu Tag dazu. Und wenn sie auch vielen Pflanzen, Sträuchern und Bäumen deren Lebenskraft nahm, so verleibte sie sich diese auch selbst ein. Mit all den Fähigkeiten, die sie damit auf räuberische Art und Weise erlangte.

    Seit einigen Tagen hatte sie überrascht festgestellt, dass sie inzwischen fähig war, gewisse Früchte und wohlriechende Blüten zu reproduzieren. Diese Tatsache half ihr seitdem, größere Käfer und sonstige Insekten in sich aufzunehmen. Was ihrem zügigen Wachstum sehr entgegenkam. Nur an größere Waldtiere hatte die Wurzel sich bisher noch nicht herangewagt. Das sollte sich nun aber heute ändern. Sie fühlte sich stark genug, einen Versuch zu wagen.

    Kurz nach Mitternacht kam ihr Vormarsch zum Erliegen. Sie war gerissen genug, zu erkennen, dass eine fortwährende Bewegung ihre Beute eventuell irritiert hätte. Nach und nach bildeten sich auf ihrer Oberfläche pralle und saftige Beeren. Sie verströmten den Duft frischen, in der Sonne gereiften Obstes. Gerade jetzt, so kurz nach dem Winter, würde kaum ein Beerensammler dem widerstehen können. Dass die Beeren letztendlich zerplatzten, sobald sie berührt wurden und wieder nur der Geruch nach Jauche zurückblieb, tat nichts zur Sache. In diesem Moment befände sich ihr Opfer bereits in ihrer Gewalt.

    Die ersten nachtaktiven Nager kamen bereits auf sie zu. Aber es schien, als sei ihr Hunger noch nicht groß genug. Irgendwo sagte ihnen ihr Instinkt, dass es völlig unmöglich war, zu dieser Jahreszeit schmackhaftes Obst zu bekommen.

    Die Wurzel aber hatte alle Zeit der Welt. Auch wenn sie von einer gewissen Ungeduld getrieben war, hieß das nicht, dass der Erfolg sich gleich heute oder morgen einstellen müsse. Ihr Vorhaben war sowieso auf ein größeres Ziel ausgerichtet. Da war eine Kraft im Hintergrund, die sie anspornte, für die jedoch ebenfalls Zeit keine Rolle spielte.

    Vorsichtig näherte sich ein Eichhörnchen. Scheinbar ein junges Tier, dem es noch an entsprechender Lebenserfahrung fehlte. Langsam kroch es heran. Verharrte. Kroch wieder ein Stück näher. Rückte ein Stück zurück. Irgendwo gefangen zwischen einem großen Hunger und Gier nach den Beeren sowie den Urinstinkten, die warnten, zu nahe zu kommen.

    Irgendwann aber wurde der Hunger so übermächtig, dass das Eichhörnchen jegliche Vorsicht außer Acht ließ. Mit einem Satz stürmte es vorwärts, um nach den Beeren zu greifen.

    Doch wie groß war seine Verwirrung, als es nur eine infernalisch stinkende Brühe in seinen Pfoten hielt. Es sah sich panisch um und stürmte in großen Sätzen davon.

    Die Wurzel stöhnte verärgert auf.

    Ihre Kraft hatte noch nicht ausgereicht, das Tier an sich zu ketten und anschließend zu verspeisen. Heute vielleicht noch nicht, vielleicht auch noch nicht morgen. Aber die Wurzel würde sich entwickeln, sie würde lernen. Und bald schon in der Lage sein, auch weit größere Geschöpfe zu reißen. Alles im Hinblick auf ein großes Ziel. Alles nur für IHN.

    Ein Stück entfernt von der Wurzel verendete ein junges Eichhörnchen unter entsetzlichen Qualen. Nur weil es den Fehler gemacht hatte, die Flüssigkeit an ihren Pfoten abzulecken. So sehr sie auch stinken mochte – Reinlichkeit war mit eines der obersten Gebote.

    Als es begriff, dass es das besser gelassen hätte, war es bereits zu spät.

    Weder Steinwart, noch Baldur verspürten den Drang, sich schlafen zu legen. Zu viel war am vergangenen Tag passiert, das nun aufgearbeitet werden musste. Steinwart begriff sehr schnell, dass er sich nur etwas vorgemacht hatte, als er versuchte, alles auf einen dummen, nichtssagenden Traum zu reduzieren. Andererseits aber fehlte ihm, ebenso wie Baldur, die Vorstellung, was nun zu tun sei.

    Sie hatten bei den Vorfällen zwei Jahre zuvor immer in der Gruppe entschieden. Nun aber war die Gruppe, zumindest was Targor, Barina und Sy-Bita betraf, weit verstreut.

    Natürlich konnte Steinwart gemeinsam mit Baldur den Rat einberufen. Sie hatten sich hierüber bereits unterhalten, wobei sie sich aufgrund gegensätzlicher Meinung fast in die Haare geraten wären.

    Steinwart war zuerst mit dem Vorschlag gekommen.

    «Was hältst du davon, wenn wir morgen früh sofort den Rat aufsuchen? Meister Dachs steht uns leider nicht mehr zur Verfügung. Und ob uns dieser neue Literat weiterhelfen kann, der vor einiger Zeit in unseren Wald kam – du weißt, dem ich unsere Erlebnisse erzählte – wage ich zu bezweifeln.»

    Etwas hilflos schaute Steinwart seinen Freund an.

    «Steinwart, mein Freund, warum meinst du, wir sollten nicht einmal einen Versuch machen, mit ihm zu reden? Er schien mir ein helles Köpfchen zu sein. Ich habe Angst, dass der Rat viel zu sehr in seine eigenen und alltäglichen Probleme verstrickt ist. Solange er nicht tatsächlich betroffen ist wird er keinen Anlass sehen, überhaupt aktiv zu werden. Außerdem ist er nicht mehr so stark besetzt wie damals, als …«

    «So ein Unsinn. Wir haben ihn gewählt. Also hat er auch unsere Interessen zu vertreten. Wir gehen morgen zu ihm. Und damit Schluss jetzt.»

    Baldur schüttelte den Kopf, war aber klug genug, seine Hände jetzt schweigen zu lassen. Einen aufgebrachten Zwerg, wie Steinwart nun mal einer war, wieder auf den Boden zu bekommen, war schwierig genug. Daher schwieg Baldur.

    Er nahm seine Krücken aus geschnitztem Holz, die neben seinem Sessel standen und erhob sich mühsam.

    «Wir werden sehen, was der neue Tag uns bringt. Aber jetzt sollten wir endlich versuchen, ein wenig Schlaf zu finden.»

    Wenig später ertönte ein gleichmäßiges Schnarchen zweier in Ehren ergrauter Zwerge aus Baldurs Hütte.

    Die Wurzel aber schob sich stetig vorwärts.

    Sie folgte einem inneren Kompass. Auch wenn der Weg noch weit war, sie würde sich nicht von der Erreichung ihres Zieles abbringen lassen.

    Schließlich hatte sie das versprochen.

    4 Ergon

    Obwohl die beiden Freunde bis fast in den aufziehenden neuen Morgen wach waren, schlugen sie schon sehr früh wieder die Augen auf. Erst nach und nach wurde Steinwart bewusst, was ihn geweckt hatte. Es waren nicht laute Geräusche, das Singen der Vögel oder die Zwerge auf dem Weg in ihre Mine, die sich lautstark unterhielten. Es war das genaue Gegenteil, das Fehlen sämtlicher Geräusche. Eine unnatürliche Stille lag über dem Wald.

    Steinwart spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Wenn ihm bis in die letzte Nacht das eine oder andere vielleicht noch nicht völlig klar gewesen war, so machte ihm diese furchtbare Stille einfach nur große Angst.

    Der Zwerg ging mit zögernden Schritten vor Baldurs Hütte. Er wusste nicht wirklich, was er sich vorgestellt hatte, dort vorzufinden. Doch als er draußen stand, stellte er fest, dass eigentlich alles wie immer war. Alles, bis auf fehlende Bewegung und absolute Lautlosigkeit.

    Steinwart wollte sich bereits wieder umdrehen, um ins Haus zurückzukehren, da zog etwas im Baum, der ihm am nächsten war, seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Volk wilder Bienen hatte sich auf den Weg gemacht, um zu erkunden, wo vielleicht die ersten Vorboten des Frühlings zu finden waren. Doch statt zu fliegen, verharrten die Insekten regungslos in der Luft. Selbst die Stellung ihrer Flügel ließ nicht die geringste Bewegung erkennen. Es schien, als seien sie in durchsichtiges Wachs gegossen und an den Himmel geheftet worden.

    Steinwart ging ein Stück den Weg hinauf und stieß auf eine ihm unbekannte Gruppe jüngerer Zwerge, die sich auf den Weg zum Berg gemacht hatte. Auch von ihnen ging nicht die geringste Regung aus. Er näherte sein Gesicht dem vordersten Mitglied der Gruppe. So nahe, dass ihre Nasen sich fast berührten. Doch es waren weder Atemzüge zu vernehmen, noch ein Aufblitzen von Leben in den Augen.

    Was ihm jedoch am unheimlichsten auffiel, war die Tatsache, dass er selbst in der Lage war, sich ungehindert fortzubewegen. War das von einer Macht gewollt, die er sich nicht erklären konnte? Oder war sie einfach nicht in der Lage, seiner Herr zu werden.

    Mit einem Mal fiel ihm Baldur ein. Er hatte völlig vergessen, nach seinem Freund zu sehen.

    «Ich bin ein Idiot», schalt er sich selbst. «Nicht, dass er Hilfe benötigt.»

    Damit rannte er los und stürmte wieder ins Haus hinein.

    Er fand Baldur in dessen Wohnraum vor. Sein Freund hatte gerade versucht, nach seiner Krücke zu greifen, als ihn diese unnatürliche Starre befiel. Einen Arm ausgestreckt. Mit dem anderen hielt er sich an einer Säule inmitten seiner Hütte fest.

    Steinwart klopfte ihm auf die Schultern.

    «Baldur. Hörst du mich?»

    Keine Reaktion. Nicht die allerkleinste Regung.

    Fast war Steinwart geneigt, Baldur die Ohrfeige zu geben, die er selbst am gestrigen Tag von ihm erhalten hatte. Doch bevor er den Gedanken beendete, stürmten plötzlich sämtliche Geräusche wieder auf ihn ein.

    Vom Fehlen jeglicher Laute, hin zu einem völlig normalen Geräuschpegel war der Unterschied so enorm, dass der Zwerg auf die Knie sank und sich seine Ohren zuhielt. Vielleicht war es aber auch nur die Anspannung und die Angst, die ihn so reagieren ließen.

    «Was ist denn mit dir los. Bis du jetzt völlig durchgedreht?»

    Baldur stand neben ihm. Auf seine Krücke gestützt und mit einem sorgenvollen Blick. Langsam rappelte Steinwart sich wieder auf.

    «Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Sprich. Fühlst du dich gut?»

    Von draußen waren die lautstarken Unterhaltungen der Gruppe von Zwergen zu hören, die sich langsam entfernten und nach und nach immer leiser wurden.

    Baldur schüttelte seinen Kopf und ließ erneut seine Hände die Unterhaltung führen.

    «Vielleicht erklärst du mir einmal, wieso du dich hier aufführst, als sei dir der Leibhaftige auf den Fersen. Du hast kaum noch Farbe im Gesicht. Wenn du dich nicht gut fühlst, verschieben wir unseren Besuch beim Ratsvorsitzenden auf den Nachmittag.»

    Steinwart legte seine Hände auf Baldurs Schultern und schaute ihm tief und forschend in die Augen.

    «Sag, weißt du denn wirklich nicht, was eben passiert ist? Wie du und alle anderen Lebewesen zur völligen Regungslosigkeit verdammt waren? Nur ich selbst war in der Lage meine Schritte bewusst zu lenken. Wobei ich mir selbst dessen jetzt nicht mehr völlig sicher bin. Wenn man nicht registriert, was einem widerfährt, wie kann man dann sicher sein, nicht auch selbst Momente dieser Starre durchgemacht zu haben?

    Baldur, wir haben keine Zeit zu verlieren. Lass uns aufbrechen.»

    Baldur schloss seine Wohnungstür, verriegelte sie und machte sich mitsamt Steinwart auf den Weg. Wenn sein Freund einen solchen Aufstand machte, würde er gute Gründe dafür haben.

    Ich erinnere mich daran, dass ich falle. Eben noch habe ich krampfhaft versucht, mich festzuhalten. Gerade rief ich noch den Namen meines Begleiters, jetzt habe ich ihn vergessen.

    Mir ist kalt. So entsetzlich kalt.

    Ich will meine Augen schließen. Doch ich wage es nicht.

    Die Ängste, die von mir Besitz ergreifen, sobald ich meine Lider schließe, sind so furchtbar real. Schlimmer als jede Wirklichkeit.

    Wenn ich die Augen öffne, sehe ich Schatten, die mich umkreisen.

    Ich habe das Gefühl, sie wollen nach mir greifen. Doch sie wagen es nicht.

    Noch nicht.

    Ihre Angriffe kommen näher und näher.

    Immer noch falle ich in rasender Geschwindigkeit.

    Dann greift das erste dieser furchtbar hässlichen Wesen zu.

    Eine scharfe Kralle reißt mir mein Wams auf.

    Ich höre den Triumphschrei, als das Wesen erkennt, dass ich keine Gefahr darstelle.

    Von diesem Moment an, hat mein Leiden einen Namen und erst nach und nach erkenne ich, dass ich es selbst bin, der diese schrillen Schreie in Agonie ausstößt.

    Schon ein ganzes Stück vor der Hütte des Ratsvorsitzenden trafen sie ihn auf dem Weg zu seinem Feld an. Ergon lief vor ihnen und hatte noch nicht bemerkt, dass sich die Freunde näherten. Seit den Ereignissen von vor zwei Jahren hatte sich viel verändert. Den Ratsvorsitz nahm jetzt ebenfalls ein Zwerg ein. Was es, zumindest nach Steinwarts Ansicht, wesentlich einfacher machen würde, auf den Punkt zu kommen. Schließlich sprach man in jeglicher Hinsicht ein und dieselbe Sprache.

    Ergon war wesentlich jünger als Steinwart und Baldur. Er trug einen mächtigen Bauch vor sich her. Seine Haare waren standesgemäß geflochten. Schließlich hatte er einen wichtigen Posten inne. Da sollte, ja musste man zeigen, dass man auf sich zu achten wusste.

    Ergon war ein netter Kerl, doch manchmal fehlte es ihm an Weitsicht und am Willen, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen. Während Steinwart diese Gedanken durch den Kopf gingen, war er fast schon gewillt umzukehren. Hätte er doch nur gestern Abend nicht wieder so impulsiv reagiert und stattdessen auf Baldur gehört.

    Doch jetzt war die Chance dahin. Ergon hatte sie entdeckt. Sie würden ihm nicht entwischen können, ohne über ihre Probleme zu reden.

    «Was führt euch zu mir, Freunde? Glaubt mir, manchmal ist es eine Last mit meinem Amt. Bis in die Nacht habe ich Probleme wälzen müssen. Und heute Morgen sieht es auch nicht anders aus. Doch ich habe das Amt angenommen und ich tue es gerne. Ich wusste, worauf ich mich einließ.»

    Steinwart beobachtete den Vorsitzenden des Rates. In dessen langen und stolz getragenen Bart verloren sich unzählige Reste eines ausgiebigen Frühstücks. So viel zum Thema der bereits früh gewälzten Probleme.

    Steinwart grinste – doch dann wurde er schlagartig wieder ernst.

    5 Blutleer

    Sag mal, Ergon, ist dir heute Morgen irgendetwas seltsam vorgekommen? Irgendetwas, das anders war als sonst?»

    Ergon sah Steinwart mit großen Augen an.

    «Ich weiß zwar nicht genau, was du mir sagen willst, aber tatsächlich ist mir heute Morgen etwas seltsam aufgestoßen.»

    Steinwart hielt die Luft ein.

    Sollte es wirklich möglich sein, dass nicht nur er diese unerklärlichen Vorfälle erlebt hatte? Inzwischen zweifelte er ja bereits an seinem eigenen Verstand. Hatte er einfach nur schlecht geschlafen, dass er sich Dinge einbildete, die nur er alleine erlebte?

    Doch wenn auch Ergon ...

    Der Ratsvorsitzende schlug Steinwart fest auf die Schultern und bewegte sein Gesicht so nah er konnte auf den Zwerg zu. Steinwart wich zurück. Doch Ergon kam ihm immer einen Schritt hinterher. Oh, wie Steinwart solche übertriebene Nähe hasste.

    Schließlich begann Ergon zu lachen. Bröckchen flogen aus seinem Mund. Und Steinwart ekelte sich. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten und stieß sein Gegenüber vor die Brust.

    «Sag, hast du noch nie etwas von Anstand gehört? Jetzt bleib mir endlich vom Leib und sage mir, was du erlebt hast!»

    Mit einem zutiefst beleidigten Blick stand Ergon für einen Moment still, bevor er Antwort gab.

    «Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du solltest dich daran gewöhnen, wer hier das Sagen hat. Nur weil Herr Zwerg der Meinung ist, damals die Welt gerettet zu haben, leidet er jetzt an Großmannssucht. Bist wohl nicht damit einverstanden, dass man mich damals gewählt hat.»

    «Dich?» Steinwart fuhr wütend auf.

    «Ich habe niemals Interesse gehabt an diesem ganzen Unsinn. Bilde dir ruhig etwas darauf ein, wenn es dir dann besser geht.»

    Die beiden stritten wir die Kesselflicker. Das kommt unter Zwergen ebenso vor, wie unter den Menschen. Doch sie würden sich nach kürzester Zeit wieder verstehen. Deshalb sah Baldur auch keinen Anlass, einzugreifen oder für jemanden Partei zu nehmen.

    Mit puterrotem Kopf schrie Steinwart weiter.

    «Vielleicht sagst du mir, in Dreiteufelsnamen jetzt endlich, was du erlebt hast. Ich – muss – das – wissen. Geht das in deinen Dickschädel hinein? Vererzt und abgeklopft!»

    «Na, dann werde ich es dir sagen. Sitz du mal wie ich beim Frühstückstisch, den dein Weib gedeckt hat. Und dann stellst du fest, dass sie deine Lieblingsmarmelade vergessen hat. Einfach so. Was ist denn das für ein Frühstück?»

    Steinwart musste ein solch verdutztes Gesicht gemacht haben, dass der Ratsvorsitzende für einen Moment ebenso dumm schaute.

    Dann begannen beide zu lachen, fielen sich in die Arme und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.

    Hätte Baldur noch reden können, so hätte er gesagt «Ich fasse es nicht.»

    Nachdem sich die beiden Streithähne nun beruhigt hatten, startete Steinwart einen neuen Versuch und klärte Ergon über seine Erlebnisse des gestrigen Abends sowie des heutigen Morgen auf.

    Ergon setzte sich auf einen Baumstumpf und hörte ernst zu, ohne Steinwart ein einziges Mal zu unterbrechen.

    Erst als sein Gegenüber seine Ausführungen beendete, äußerte er sich dazu: «Mein Freund, wenn mir das jemand anderer erzählt hätte, hätte ich das ins Reich der Phantasie verwiesen. Bei dir aber ist das etwas völlig anderes. Du hast zu viel erlebt, als dass ich es mit einem Handstreich abtun sollte. Ich will mir nicht später den Vorwurf machen, ich hätte nicht rechtzeitig reagiert. Was ich eben über dich sagte, war übrigens nicht ernst gemeint. Ich denke, das weißt du.»

    Steinwart winkte lächelnd ab, wurde aber schlagartig wieder ernst: «Was meinst du, was zu tun ist? Ich denke, wir sollten zuerst in einem kleineren Kreis versuchen, zu ergründen, was hier passiert. Wenn wir jetzt eine große Veranstaltung machen, könnte das zu Panik führen. Es muss ja alles nichts zu sagen haben. Aber ich spüre, dass da mehr ist, als ich mir selbst eingestehen will.»

    Während Steinwart das sagte, stockte er und schaut den Vorsitzenden groß an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Zuerst war es nur ein Drehen der Schultern. Als jucke ihn etwas zwischen den Schulterblättern. Doch plötzlich wurde das Zucken immer heftiger. Ergon öffnete den Mund, als wolle er schreien. Aber er konnte es nicht. Erstickte Laute klangen aus seiner Kehle. Dann brach er leblos zusammen.

    Alles war in Bruchteilen von Sekunden geschehen, ohne dass die beiden Freunde hätten eingreifen können.

    Als Ergon am Boden lag, bückten sie sich über ihn und sahen im letzten Moment, wie sich eine dünne Ranke aus dem Mund des Zwerges zurückzog. Blitzesschnell verschwand sie, huschte aus dem rechten Hosenbein und spulte sich zurück in Richtung des Waldes.

    Baldur wollte hinterherlaufen. Steinwart aber hielt ihn zurück.

    «Mach dich nicht unglücklich. Da sind Kräfte am Werk, denen wir nichts entgegenzusetzen haben. Jedenfalls jetzt nicht.

    Schau dir Ergon an. Wie blass er ist. Es ist, als sei kein Tropfen Blut mehr in seinem Leib. Als habe sich die Ranke an und in ihm bedient. Fällt dir auch dieser Gestank auf? Das ist derselbe wie gestern Abend an meinem Sessel. Ich befürchte, wir haben im Moor etwas zurückgelassen, das erneut auf dem Weg ist, ein eigenes Leben zu führen.

    Lass uns jetzt Hilfe holen. Wir können ihn schließlich nicht hier so liegenlassen.»

    Zufrieden spürt er, wie das Blut dieses Opfers ihn belebt. Wie neue Kraft in ihm entsteht. Die Wurzel wird wachsen. Noch einmal wird er sich nicht so kurz vor dem Ziel aufhalten lassen. Seine Helfer sind auf dem Weg zu der einzigen Person, die ihm gefährlich werden kann.

    Es war ein hartes Los, Ergons Weib aufsuchen zu müssen, um ihr zu erklären, was vorgefallen war. Doch Zwerginnen sind stark. Sie leben tagtäglich mit der Sorge, dass ihre Männer nicht wiederkommen. Der Berg kann grausam sein.

    Die Freunde blieben bis zum Abend bei Ergons Frau, halfen ihr seinen Leichnam aufzubahren und zu waschen. Dann erst machten sie sich auf den Weg zurück zu Baldurs Haus.

    Es war wieder stockfinster. Auch wenn ihnen die Dunkelheit sonst nichts ausmachte, war es jetzt so, dass sie sich ständig umsahen. Bei jedem Knacken im Gehölz fuhren sie zusammen. Ihre Schritte wurden unwillkürlich schneller und schneller. Schließlich rannten sie. Nur ein sicheres Ziel erreichen. Das war der Gedanke, der sie antrieb.

    Ein sicheres Ziel?

    Als Baldur den schweren Riegel von innen auf die Tür warf und diese damit fest verschloss, stand Steinwart wie vom Donner gerührt hinter ihm und zeigte mit ausgestrecktem Arm vor sich.

    «Baldur, schau!»

    Der Klang von Steinwarts Stimme, ließ Baldur erschreckt herumfahren.

    Vor ihnen saß Ergon. Mit blutleerem und verdrehten Gesicht.

    6 Karlotta

    Es war ein vertrautes Gesicht. Und doch so unsagbar fremd. Ständig bewegten sich die Mundwinkel Ergons. Als kaue er auf etwas herum oder als suche er nach Worten, die er nicht mehr finden konnte. Schließlich spuckte er aus. Alles in Steinwart weigerte sich, genauer hinzusehen, was dort vor seinen Füßen lag. Aber sein Blick wurde wie magisch angezogen.

    «Das ist doch nicht möglich», flüsterte er in Baldurs Richtung. «Er hat sich die Spitze seiner Zunge abgebissen. Die Spitze seiner Zunge. Aber wieso…?»

    Alles in dem Zwerg schauderte.

    Immer noch saß das, was einmal Ergon gewesen war, grinsend in dem Sessel. War es überhaupt ein Grinsen? Oder nicht doch viel mehr die entgleisenden Gesichtszüge, die der Tote nicht mehr zu kontrollieren wusste. Steinwart spürte, dass er sich viel zu sehr mit dem Könnte, dem Wenn und dem Vielleicht beschäftigte. Stattdessen sollte er lieber dem immer stärker werdenden Fluchtreflex nachgeben.

    «Baldur, lass uns verschwinden. Wenn er uns angreift, werden wir ihm kaum etwas entgegensetzen können.»

    Baldur klopfte Steinwart auf die Schulter, sodass dieser sich verwirrt umsah.

    Die Hände seines Freundes flogen aufgeregt.

    «Meinst du etwa, ich hätte es nicht versucht? Doch die Tür ist geschlossen. Ich kann sie nicht öffnen. Als sei sie von allen Seiten vernagelt. Ich würde ebenso gerne flüchten wie du. Aber es geht nicht.»

    Ein Geräusch hinter ihm, ließ Steinwart herumwirbeln.

    Ergon war aufgestanden und bewegte sich mit ungelenken Bewegungen auf ihn zu. Steinwart wollte nach hinten ausweichen. Doch das ging nicht, weil Baldur hinter ihm stand und durch die verriegelte Tür gehindert war, nach außen zu treten. Links und rechts standen klobige Schränke, sodass er auch nicht zu Seite weg konnte.

    «Wie heute Morgen. Heute Morgen bist du mir auch zu nahe gekommen. Viel zu nahe. Ich weiß nicht, ob du mich noch verstehen kannst. Aber wenn du meinst, uns hier den Garaus machen zu können, sage ich dir, wir werden uns zu wehren wissen.»

    Steinwart wusste nicht, weshalb er diese Worte wählte. Ihm war völlig klar, dass sie nicht die geringste Chance haben würden. Und doch musste er etwas sagen. Sich schweigend in sein Schicksal zu geben, das wollte er auf gar keinen Fall.

    Ergon

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