Mami 1830 – Familienroman: Mein Herz weint um ein anderes Kind
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"Morgen", sagte Jago, die Hände in den Taschen seiner Scherpa-Jacke, sich Schritt für Schritt zurückziehend aus dem überdachten Eingang der Frühstückspension, "morgen nachmittag fahren wir nach Schönbrunn! Abgemacht?" "Abgemacht", flüsterte Cordula und sah ihm nach, wie er sich ein paarmal um sich selbst drehte und rückwärts stolperte, als könne er den Blick nicht von ihr wenden.
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Mami 1830 – Familienroman - Myra Myrenburg
Mami –1830–
Mein Herz weint um ein anderes Kind
Roman von Myra Myrenburg
»Morgen«, sagte Jago, die Hände in den Taschen seiner Scherpa-Jacke, sich Schritt für Schritt zurückziehend aus dem überdachten Eingang der Frühstückspension, »morgen nachmittag fahren wir nach Schönbrunn! Abgemacht?«
»Abgemacht«, flüsterte Cordula und sah ihm nach, wie er sich ein paarmal um sich selbst drehte und rückwärts stolperte, als könne er den Blick nicht von ihr wenden.
Jago Tobler, der beste, der schönste, der liebenswerteste Mann, der ihr jemals begegnet war.
Sie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt, in sein junges braunes glattes Gesicht, seine funkelnden Zigeuneraugen, seine dunklen Locken, in den Hauch von Verwegenheit, die über seiner Erscheinung lag.
Er war etwas Besonderes, sie hatte es sofort gespürt, aber das eigentliche Wunder bestand darin, daß er sie ebenso verzückt betrachtete wie sie ihn, daß er sich nie von ihr losreißen konnte, ohne die nächste Verabredung getroffen zu haben.
Dergleichen war absolut nicht die Regel.
Entweder, so lehrte die Erfahrung, verliebte man sich hoffnungslos in jemanden, der einem bestenfalls ein flüchtiges Interesse entgegenbrachte, oder man fühlte sich bedrängt von einem anderen, dessen Gefühle man beim besten Willen nicht erwidern konnte. Zwischen diesen beiden Varianten – eine unbefriedigender als die andere – hatte sich Cordulas Liebesleben bisher abgespielt. Den Gedanken an einen Kompromiß hatte sie nie ernstlich in Erwägung gezogen.
Gott sei Dank, wie sie sich jetzt sagte, jetzt, da sich auf wundersame Weise alles zusammenfügte – ihre Wünsche mit seinen Wünschen, ihre Ungeduld mit seiner Ungeduld, die ganze Intensität, mit der sie einander faszinierten.
Es war kaum zu glauben, daß es so etwas gab, und wenn überhaupt, dann mußte doch irgendwo ein Haken sein, ein unüberwindliches Hindernis, etwa in Gestalt einer Ehefrau, die vorerst verschwiegen wurde, oder zumindest einer Freundin, die ältere Rechte geltend machen konnte.
Es gab ein Dutzend möglicher, leicht vorstellbarer Gründe, die dieser rauschhaften Liebe auf den ersten Blick ein jähes Ende bereiten konnten.
Cordula dachte täglich daran. Sie versuchte, sich auf alles gefaßt zu machen: eine niederschmetternde Enthüllung oder ein plötzliches Abkühlen seiner Gefühle oder ein leises Ausklingen, nach und nach, ganz undramatisch, sobald jeder wieder seiner Wege gegangen war.
Ihrer beider Zeit und Aufenthalt war begrenzt. Sie hatten sich nur zufällig kennengelernt, in
Wien, der Stadt der Kongresse. Jago, als Mitglied einer Delegation aus fernen Bezirken, die Cordula nicht einmal dem Namen nach kannte, wohnte in einem alten Palais unweit der Hofreitschule.
Cordula und ein halbes Dutzend anderer Dolmetscherinnen, die sich bei den Tagungen eines deutschen Industrie-Unternehmens abwechselten, waren in der gemütlichen Frühstückspension ›Seraphim‹ untergebracht, die ganz woanders lag. Hätten sie nicht an einem Sonntag vormittag im selben Autobus eine Stadtbesichtigung unternommen, wären sie einander vermutlich nie begegnet.
Cordula Wächter lebte in Frankfurt am Main, und Jago Tobler kam aus Bergkastell, einem weltfernen Waldgebiet im Hochland der Schweizer Alpen.
Nur widerwillig hatte seine Familie zugelassen, daß er, der einzige Sohn und Erbe, Agrarwissenschaften studierte und sich zu diesem Zweck jahrelang im benachbarten Ausland aufhielt. Neues Gedankengut war in Bergkastell nicht gefragt. Die Frist, die man Jago gesetzt hatte, lief unweigerlich ab. Sein Studiengang war beendet. An eine Verlängerung war nicht zu denken.
Cordulas Lebenssituation in diesem schicksalhaften Sommer war bedeutend unkomplizierter. Sie gehörte zum Dolmetscher-Team eines Frankfurter Medizinal-Centers, gemeinsam mit ihrer Freundin Hanne Schwerdt und zwei kessen Berlinerinnen.
Der Team-Chef, Doktor Max Meisel, war ein umgänglicher Mann mittleren Alters, den so leicht nichts erschüttern konnte. Mit mildem Interesse nahm er zur Kenntnis, daß der Aufenthalt in der Stadt Wien auf seine Damen verschiedene Auswirkungen zeigte.
Hanne Schwerdt hatte sich die Haare schwarz färben lassen, und die beiden Berlinerinnen erweiterten täglich ihr Sortiment bunt glitzernder Ohrringe.
Die Stimmung am Frühstückstisch in der Pension ›Seraphim‹ war entsprechend locker, um nicht zu sagen ausgelassen. Doktor Meisel lächelte väterlich in die Runde, ließ sich Kaffee einschenken und zählte im Geiste die Stunden bis zur Rückkehr nach Frankfurt, wo die Dinge hoffentlich wieder in die gewohnte Geleise kamen.
Selbst mit Cordula Wächter schien irgend etwas vorzugehen, das sich niemand erklären konnte, obwohl sie sich rein äußerlich überhaupt nicht verändert hatte. Ihr Haar leuchtete in den bekannten Herbstlaubfarben, nämlich rötlich braun mit goldenen Einsprengseln, ihre nebelgrauen Augen blickten so vergnügt in die Welt hinaus wie immer, und sie trug ihre übliche professionelle Kleidung: Blazerkostüm in dunklem Antrazit, mattblaue Bluse, ganz dezent gemustertes seidenes Halstuch.
Sie trank ein Glas Orangensaft und zwei Tassen Kaffee, aß Cornflakes mit Milch und Zucker, ein frisches Brötchen mit Butter und Honig und wandte sich mit gewinnendem Lächeln an ihren Chef: »Nächsten Monat brauche ich zwei Wochen Urlaub.«
Doktor Max Meisel nahm einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen, aber bevor er sich äußern konnte, fügte sie stirnrunzelnd hinzu: »Mindestens.«
»Wie? Was meinten Sie, Cordula?«
»Mindestens zwei Wochen. Drei wären ideal. Sagen wir – vom zehnten bis zum dreißigsten August.«
»Dazu kann ich im Moment nicht Stellung nehmen«, stieß er gepeinigt hervor, »beim besten Willen nicht! Ich müßte mir die Terminlisten ansehen, die liegen nicht hier, sondern in Frankfurt – aber das wissen Sie doch!«
»Klar, ich wollte nur vorsorglich darauf hinweisen, Herr Doktor!«
»Im August ist nie viel los«, bemerkte Hanne Schwerdt gelassen und fuhr mit der Hand durch ihr rabenschwarzes streichholzkurzes Haar. Max Meisel sah sie irritiert an.
»Ganz im Gegenteil«, widersprach er mit fester Stimme, wobei er sich fragte, was eigentlich mit den Mädels los war. Die eine hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, die andere warf sämtliche Termine über den Haufen!
Warum?
Er war ein beherrschter Mensch, von Natur aus zur Besonnenheit neigend, der nur selten die Stimme hob.
Er faßte Cordula fest ins Auge.
»Warum? Was ist so wichtig?« fragte er halblaut.
»Ach wissen Sie, ich habe eine Einladung, die ich nicht ausschlagen kann, weil zuviel davon abhängt.«
»Aber aufschieben könnten Sie diese Reise – notfalls, meine ich, wenn wir im August keinen Termin frei haben?«
Cordula schüttelte heftig den Kopf mit einer Entschiedenheit, die Doktor Meisel verstummen ließ.
»Es geht um meine Zukunft, Chef, vielleicht um mein ganzes Leben! Ich habe einen Mann kennengelernt – den richtigen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Nun mal langsam! Hier in Wien? Während der letzten vierzehn Tage?«
»Ja.«
»Und damit ist es Ihnen so eilig? Dafür riskieren Sie unseren gesamten Terminplan? Damit können Sie nicht warten, bis wir uns abgestimmt haben, urlaubsmäßig und überhaupt? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Ist es aber.«
»Cordula«, er beugte sich vor und schob sein Gedeck beiseite, »machen Sie keinen Unsinn! Entscheidungen für ein ganzes Leben trifft man nicht in Hast und Eile! Nehmen Sie sich Zeit! Lernen Sie diesen Mann erst einmal kennen! Stürzen Sie sich nicht Hals über Kopf ins Ungewisse!«
»Eben deshalb möchte ich mir ja ansehen, wo er lebt, wie es dort aussieht, was mich erwartet, wenn