Judiths Tränen: Novelle
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Siegfried Binder
Siegfried Binder studierte in Leipzig Jura, in Tübingen und Freiburg i.Br. Philosophie und Psychologie. Er erzählt in seinen Büchern von und der Realität des Lebens, von Angst, Schmerz, Liebe, Freude und Begehren. Sie bestimmen die Existenz des Menschen und sind die Triebkräfte seines Verhaltens.
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Judiths Tränen - Siegfried Binder
haben.
Er war an Hässlichkeit nicht zu überbieten. Er war klein und verwachsen, langnasig, fetthaarig und schieläugig. Man rief ihn Frosch, weil die Breite seines Mundes die Hälfte seines Gesichts einnahm. Zum Gaudi der Unverständigen verstand er sich als Dichter und Seher, recht betrachtet war er ein Naturphilosoph, der die bäuerliche Enge seiner Heimat nie verlassen hatte, sich deshalb nicht mit gleichwertigen Gesprächspartnern gedanklich austauschen konnte und sein Denken allein aus sich heraus entwickeln musste. Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Noah getauft. Er wusste von seiner Familiengeschichte, dass die Großeltern 1917 dem Völkermord der Türken durch Flucht entkommen waren und sich im nördlichen Irak am Tigris als Bauern niedergelassen hatten. Sie hatten ihre aramäische Muttersprache und ihren christlichen Glauben behalten und waren stolz, die Sprache Jesu zu sprechen und dem Volk an zu gehören, das als erstes seiner Lehre sich angeschlossen hatte. Der Frosch sah manche Dinge des tradierten christlichen Glaubens anders, fast ketzerisch, wurde aber toleriert und tolerierte seinerseits. Von seiner Körperstatur eher schwach, vom Aussehen abstoßend, zog er sich als Heranwachsender in die Einsamkeit zurück und suchte die Ruhe der Abgeschiedenheit. Dann dachte er über das Leben, die Vergänglichkeit und die Ewigkeit nach. Er hielt mit seiner Ideenwelt nicht zurück:
„Wir Menschen sind der Natur unterworfen und unterwerfen die Natur. Die Natur ist weder vernünftig noch moralisch. Sie lebt nach den ihr vorgegebenen Gesetzen. Der Mensch ist frei, weil er denken und Neues erschaffen kann. Er entscheidet selbst über gut und böse. Gott haust nicht unter den Sternen, er bestimmt nicht das Weltgeschehen und lenkt nicht unser Schicksal. Ein solcher Gott existiert nicht, er wird uns dereinst auch nicht richten. Gott ist in uns. Jeder Mensch bestimmt sein Sosein selbst. Sittliche Verantwortung haben wir zu aller erst uns gegenüber. Diese Moral ist fordernder als Hunger und Durst. Unsere Freiheit erlaubt uns zu entscheiden, ob wir moralisch leben wollen in Sicherheit trotz unberechenbarer Naturgewalten oder den Gesetzen des Bösen folgen, wo der Mensch des Menschen Feind ist."
Oh, da hatte er was gesagt! Die streng gläubigen Orthodoxen zerrten ihn vor ein Kirchengericht und befragten ihn hochnotpeinlich. Bestreitet er die Existenz Gottes, Jesu Sohnschaft Gottes und seine Auferstehung und Himmelfahrt? Spaltet er die Gemeinschaft, muss er exkommuniziert werden? Da stand er vor den hohen Herren, verdattert und bestürzt und sein so loses Mundwerk brachte kein Wort hervor. Der Pfarrer seines Dorfes, der ihn getauft und kommuniziert hatte, verteidigte ihn: „Brüder, er ist ein besonderes Kind Gottes. Schon früh hatte er Gesichte.
Er gab sie preis und man verdächtigte ihn als Hexer. Man mied ihn, bis man sich im Dorf überzeugt hatte, dass er harmlos ist und nichts weiter darstellt als einen Träumer, Spinner und Sonderling mit skurrilen Ideen und spleenigem Verhalten. In der Schule lernte er schnell, verschlang alle Bücher, denen er habhaft wurde. Er informierte sich übers Internet, was in der Welt geschieht, versteht so manches und vieles nicht. Er hat begriffen, dass in unserer heutigen Welt Lust zum Laster wird, Sinnenfreude zur Perversion verkommt, der Glaube stirbt oder zum Fanatismus mutiert. Sein Gedächtnis ist phänomenal - er kann die Heilige Schrift komplett wortwörtlich Euch wiedergeben. Zuweilen meine ich, dass sein Geist verwirrt ist. Er stellt Dinge in Frage, die ganz offenbar und bewiesen sind. Zum Beispiel, dass Gott im Himmel thront und wir seinen ewigen Gesetzen vertrauen dürfen, dem Wechsel von Tag und Nacht, von Sommer und Winter. Dann wiederum hat er erhellende Gedanken, schwer nach zu vollziehen und von durchdringender Klarheit, wie verglühende Sternschnuppen in der dunklen Nacht. Seht seine Gestalt - genauso verwachsen scheint sein Denken. Ich frage mich, ob er uns nicht überlegen ist und er eine Sprache spricht, die wir noch nicht verstehen. Sein Wesen ist sanft und friedfertig. Nie kommt ein böses Wort über seine Lippen. Er strahlt die Liebe Gottes aus. Lasst ihn in unserer Mitte, ich verbürge mich für ihn. "Der Kirchenrat billigte Noah die Freiheit des Fantasten zu und er fühlte sich in dieser Freiheit gut aufgehoben.
Die Felder und Wiesen der Familie Athra schmiegten sich an den Tigris. An diesem Tage war Noah von seinem Vater beauftragt worden zu überprüfen, ob die als Wasserspeicher für die Tiere angelegten Brunnen noch hinreichend gefüllt seien. Die Wassermenge des Tigris hatte in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen, der Spiegel des Grundwassers war bedrohlich gesunken. Es war Hochsommer und es hatte seit sieben Monaten nicht geregnet. Die trockene Hitze von über 40 Grad ließ die Luft flimmern und zauberte merkwürdige, fließende Gestalten und Gebilde vor die Augen von Noah. Kobolde purzelten zwischen Erde und Himmel, schnitten Grimassen und winkten ihm zu. Sie sprangen wie spielende Lämmer auf Mauern und Türmen, die sich verbogen und zusammenfielen. Ein todblasses Antlitz formte sich, glotzte ihn mit entleerten Augen an, Menschen schrumpften zu Kinderskeletten. Obwohl Noah solche Luftspiegelungen kannte, erschrak er. Ihn beschlichen dunkle Ängste. Von seinen Gefühlen besetzt, schloss Noah die Augen und schritt voran,