Sophienlust 100 – Familienroman: Wo ist mein Elternhaus?
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"Habt ihr es schon gehört?" Henrik sprang aus dem Wagen seiner Mutter, kaum dass Denise von Schoenecker angehalten hatte. Sofort umringten die Kinder von Sophienlust den Jungen. "Was ist denn los? Erzähl doch!", riefen sie durcheinander. Denise von Schoenecker hastete ins Haus. Sie hatte diesmal keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern. Da muss schon etwas Schlimmes passiert sein, dachte Pünktchen, wenn Tante Isi sich nicht einmal die Zeit nimmt, uns guten Tag zu sagen. Sie hörte sich nun mit den anderen Kindern Henriks Schilderung an.
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Sophienlust 100 – Familienroman - Bettina Clausen
Sophienlust –100–
Wo ist mein Elternhaus?
Roman von Bettina Clausen
»Habt ihr es schon gehört?« Henrik sprang aus dem Wagen seiner Mutter, kaum dass Denise von Schoenecker angehalten hatte.
Sofort umringten die Kinder von Sophienlust den Jungen. »Was ist denn los? Erzähl doch!«, riefen sie durcheinander.
Denise von Schoenecker hastete ins Haus. Sie hatte diesmal keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern.
Da muss schon etwas Schlimmes passiert sein, dachte Pünktchen, wenn Tante Isi sich nicht einmal die Zeit nimmt, uns guten Tag zu sagen. Sie hörte sich nun mit den anderen Kindern Henriks Schilderung an.
»Zwei Züge sind zusammengeknallt«, sprudelte Henrik atemlos hervor.
»Was? Ist das wirklich wahr?« Die Kinder redeten durcheinander.
Dominik brachte sie wieder zum Schweigen. »Lasst doch Henrik erst mal fertigerzählen. Was für Züge?«, fragte er seinen Halbbruder.
»Ein Güterzug und ein Personenzug. Kurz vor Maibach.« Henrik war genauestens informiert.
»Um Gottes willen, ein Personenzug!« Pünktchen schaute zu Dominik empor. »Da sind doch bestimmt viele verletzt worden. Was meinst du, Nick?«
Der Fünfzehnjährige wandte sich mit einer stummen Frage an seinen jüngeren Bruder.
»Freilich«, bestätigte Henrik rasch. »Sie liegen alle im Maibacher Krankenhaus. Deswegen will Mutti ja Frau Dr. Frey anrufen. Die wird auch gebraucht. Und ihr Mann auch.«
»Stellt euch das mal vor. Zwei so riesige Züge, wenn die zusammenstoßen! Was das für einen Krach gibt!«, meinte Fabian.
»Denk lieber an die armen Menschen«, sagte Vicky leise. »Ob auch welche gestorben sind?«
»Weiß ich nicht.« Henrik schüttelte den Kopf. Alles, was er wusste, hatte er erzählt.
Während die Kinder nun über das Unglück diskutierten, rief Denise von Schoenecker Frau Dr. Anja Frey an. Doch die Ärztin wusste schon Bescheid. Das Maibacher Krankenhaus hatte alle Ärzte der Umgebung um Hilfe gebeten.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir auch gern helfen«, fügte Denise hinzu. »Lassen Sie es mich wissen, wenn wir etwas tun können.«
»Vielen Dank«, antwortete Anja Frey. »Soviel ich weiß, befanden sich auch Kinder im Zug. Ich werde also auf Ihr Angebot zurückkommen müssen.«
Zusammen mit ihrem Mann fuhr Anja Frey nach Maibach. Ihre fünfjährige Tochter Felicitas ließ sie bei Elise Karsten zurück. Die Haushälterin und Tante der Ärztin war oft mit dem Kind allein. Es machte ihr nichts aus. »Ich kümmere mich schon um Filzchen«, meinte sie. Das war Felicitas’ Kosename. So nannten sie sie alle.
Filzchen spielte im Garten mit ihrem Spaniel Stoffel. »Gehst du weg, Mutti?«
»Ja, Filzchen. Ich muss ins Krankenhaus, Tante Elise macht dir ein Mittagessen. Sei schön brav.« Sie gab ihr schnell einen Kuss.
Das Mädchen setzte sein Spiel in dem sonnigen Garten fort. Erst zum Mittagessen kam es ins Haus. »Hast du für Stoffel auch etwas gekocht, Tante Elise?«
»Aber freilich. Wir werden doch deinen Stoffel nicht verhungern lassen.« Elise Karsten wusste, wie sehr Filzchen an dem Spaniel hing.
Filzchen hatte drei Löffel von ihrem Brei gegessen, da hörte sie schon wieder auf zu essen. »Warum bleibt Mutti heute so lange weg, Tante Elise? Ist etwas passiert?«
Die Haushälterin wusste von dem Unglück. Sie brachte es Filzchen schonend bei. »Aber nun iss brav weiter, Filzchen. Deine Mutti kommt bestimmt am Abend nach Hause.«
»Tante Elise?« Filzchen legte schon wieder den Löffel aus der Hand. »Können wir nicht nach Maibach zum Krankenhaus fahren?«
»Nein, Filzchen. Das können wir nicht. Warum willst du denn dort hin?«
»Wir können doch Mutti und Vati abholen.«
Elise Karsten überlegte einen Moment. Dann entschied sie sich dagegen. »Nein, Filzchen. Deine Mutti hat gesagt, wir sollen zu Hause bleiben.«
»Vielleicht hat sie nicht gewusst, wie lange es dauern wird.« Die Kleine gab keine Ruhe.
»Das hat sie bestimmt gewusst. Und wenn wir jetzt hinfahren, dann müsstest du den ganzen Nachmittag im Krankenhaus sitzen. Da ist es doch hier im Garten viel schöner.«
Das leuchtete Filzchen ein. Also spielte sie weiter. Aber schon nach einer Stunde kam sie wieder ins Haus und meinte: »Vielleicht kommen Mutti und Vati schneller mit nach Hause, wenn wir sie abholen, Tante Elise?«
Die ältere Frau lächelte nachsichtig. Sie kannte Filzchens Hartnäckigkeit. Wenn sich die Kleine etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann erreichte sie es meistens auch. »Deswegen können sie auch nicht schneller kommen, Filzchen. Sie können das Krankenhaus erst dann verlassen, wenn sie mit der Behandlung der Patienten fertig sind.«
»Dann warten wir eben dort auf sie. Bitte, komm doch, Tante Elise«, drängte das Kind. »Wir können uns doch in den Garten des Krankenhauses setzen und dort warten. Dort ist es auch schön.«
»Also gut«, seufzte die Tante und gab sich geschlagen. Sie hatte ohnehin noch einige Besorgungen in der Stadt zu erledigen. »Du gibst ja sonst doch keine Ruhe.«
Filzchen klatschte in die Hände. »Komm, Stoffel! Wir fahren in die Stadt.« Schnell nahm sie die Hundebürste vom Regal und strich dem Spaniel glättend übers Fell. »Jetzt bist du schön genug. Muss ich mich umziehen, Tante Elise?«
»Ja. Zieh das Kleidchen hier an. Komm, ich helfe dir.«
Eine halbe Stunde später verließen die beiden das Doktorhaus. Elise Karsten erledigte zuerst in Maibach ihre Einkäufe. Dann fuhr sie mit Filzchen zum Krankenhaus.
Die Schwester an der Pforte kannte sie schon. »Warten Sie wieder auf Herrn und Frau Dr. Frey? Heute wird es aber spät werden.«
Elise nickte. »Wir setzen uns in den Garten.«
Während die Tante eine Strickarbeit aus der Tasche zog, spazierte Filzchen um die Blumenrabatten herum. In ihrer aufgeschlossenen fröhlichen Art sprach sie auch manchmal Patienten an und verwickelte sie in eine kindliche Unterhaltung. Auf diese Art hatte sie schon manchen kleinen Sonnenstrahl in das Herz eines verzweifelten Kranken gezaubert.
Neugierig blickte sie jetzt an der ein wenig düsteren Fassade hoch. »Wo Mutti und Vati jetzt wohl sind, Stoffel?«
Der Hund schaute sie nur an. Er wartete auf ein neues Spiel. Doch Filzchen hatte sich etwas anderes ausgedacht. »Du gehst jetzt zu Tante Elise, Stoffel. Ich will hineingehen ins Krankenhaus. Da kann ich dich nicht mitnehmen.« Sie gab dem Hund einen Klaps aufs Hinterteil. Gehorsam trabte der Spaniel davon.
Filzchen aber huschte schnell in die Vorhalle des Krankenhauses. Von hier aus kam sie leicht in den ersten Stock zu den Operationssälen. Aber sie traf dort weder die Mutter noch den Vater an. Es war diesmal auch alles ganz anders als sonst. Viel aufgeregter.
Unsicher schlurfte Filzchen über den blankgebohnerten Gang. Ob sie jemanden nach der Mutter fragen sollte? Aber alle schienen es eilig zu haben. Schwestern und Ärzte. Niemand achtete auf sie.
Plötzlich blieb Filzchen stehen. Am anderen Ende des Ganges saß jemand, der es nicht eilig hatte. Ein kleiner Junge. Aber gar so klein war er eigentlich nicht mehr. Filzchen stellte es fest, als sie näher kam. Bestimmt geht er schon in die Schule, dachte sie.
Verlassen hockte der Junge auf der Bank vor dem großen Operationssaal. Filzchen blieb an der gegenüberliegenden Wand stehen und musterte ihn neugierig. Er hatte dichtes braunes Haar und lustige Sommersprossen. Aber er sah gar nicht lustig aus.
Spontan überquerte Filzchen den Gang und setzte sich neben ihn. Doch der Bub bemerkte sie gar nicht. Er starrte auf die weiße geschlossene Tür des Operationssaales. Keine Sekunde wandte er den Blick davon ab.
»Ist da jemand von dir drin?«, fragte Filzchen leise.
Nun zuckte der Junge zusammen. Überrascht stellte er fest, dass plötzlich ein kleines Mädchen neben ihm saß.
Filzchen wiederholte ihre Frage. Da nickte er. »Ja.«
»Oh!« Voller Mitleid tastete Filzchen nach der Hand des Jungen. Sie dachte, er würde sie zurückziehen. Jungen waren da ja manchmal komisch. Doch er tat das nicht. Ohne sich zu rühren ließ er geschehen, dass die Kleine seine Hand streichelte. Seit Stunden hatte sich niemand um ihn gekümmert. Er war sich vorgekommen, als sei er ganz allein auf der Welt. Doch nun saß plötzlich ein kleines Mädchen neben ihm, das sogar Verständnis für den schmerzenden Kloß in seiner Brust hatte. Auf jeden Fall sah es so aus.
Scheu blickte der Junge Filzchen von der Seite an. Ob er ihr von diesem schmerzenden, drückenden Gefühl erzählen sollte? Oder von dem Unglück? Von dem furchtbaren Moment, in dem sich plötzlich die ganze Welt in Flammen, Ruß, Schreie und Stöhnen aufgelöst hatte? Aber wahrscheinlich verstand sie das noch gar nicht. Sie ging ja noch nicht einmal zur Schule.
»Ich heiße Filzchen«, sagte die Kleine da leise. »Und du?«
»Andy.« Er schaute sie wieder an. »Wieso heißt du Filzchen? Das ist doch gar kein Name.«
»Nein. Eigentlich heiße ich auch Felicitas. Aber alle sagen Filzchen zu mir. Mein Vati, meine Mutti …«
Als Filzchen das letzte Wort aussprach, zuckte der Junge zusammen. Er erinnerte sich wieder an seine Mutter, die jetzt da drinnen hinter der weißen Tür lag. Wie lange bloß noch?
Filzchen deutete seine Bewegung richtig. »Ist deine Mutti da drin? Oder dein Vati? Oder alle zwei?«, fragte