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Kunst sehen und verstehen
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Kunst sehen und verstehen

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About this ebook

Vor Museen stehen die Besucher Schlange, die Medien berichten über den Kunstmarkt in großen Geschichten, Maler sind in, Bilder sind ein Hype. Doch – was bedeutet das eigentlich? Wer sich nicht nur mit Bauchgefühl auf Kunst einlassen möchte, braucht dazu eine Anleitung. Dafür öffnen sich in diesem Buch die fünf Schubladen der Gattungsgeschichte. Historien-, Porträt-, Genre-, Landschaftsmalerei und Stillleben werden auf unterhaltsame Weise eingeführt. Die Gattungen machen es möglich, Bilder nach zentralen Motiven zu erkennen und zu ordnen. Nichts einfacher als das! – wenn da nicht auch noch die moderne und zeitgenössische Kunst wäre. Dazu freilich lohnt es sich, einen Blick auf die Stilgeschichte zu werfen. So zeigt das Buch, wie sich die Kunst seit dem Mittelalter verändert hat, wo sie heute steht, wohin sie geht. Man begreift, warum Kunst schön ist und welches Abenteuer es bedeutet, sich auf sie einzulassen. Ohne Vorurteile, ohne Vorwissen, ohne Angst!
LanguageDeutsch
PublisherStyria Verlag
Release dateOct 25, 2013
ISBN9783990401583
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    Book preview

    Kunst sehen und verstehen - Sibylle Zambon

    SIBYLLE ZAMBON

    SEHEN UND VERSTEHEN

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Kunst: Was ist das?

    1|1 Kunst ist

    1|2 Ursprünge

    1|3 Kunst kommt (nicht) von Können

    1|4 Imagination, Idee, Originalität

    1|5 Der Kunstmarkt

    Kunst hat uns etwas zu sagen – Hat sie das?

    2|1 Keine Kunst ohne Künstler

    2|2 „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" (Kurt Tucholsky)

    2|3 Das Publikum – das sind Sie!

    Nur keine falschen Hemmungen!

    3|1 Ihr Bauchgefühl oder: Wie Sie einen persönlichen Zugang zu Kunst finden

    3|2 Was Ihnen Ihr Kopf sagt oder: Wie Sie einen sachlichen Zugang finden

    Schubladen, die für Ordnung sorgen

    4|1 Porträtmalerei – Wie hätten Sie’s denn gern?

    4|1|1 Was ist ein Porträt?

    4|1|2 Von wahrer Geistesgröße und weiblichen Kleiderstöcken – Der Künstler als Porträtist

    4|1|3 Von Herrschern, Händlern und Idolen – Das Porträt im Laufe der Zeit

    4|1|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

    4|2 Die Genremalerei – Der Sitz im Leben

    4|2|1 Was ist Genremalerei?

    4|2|2 Schmutzmaler und Moralapostel – Die Maler des Genres

    4|2|3 Von Narren, Huren und einem Delirium tremens – Genremalerei im Laufe der Zeit

    4|2|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

    4|3 Landschaftsmalerei – Dichtung oder Wahrheit?

    4|3|1 Was ist Landschaftsmalerei?

    4|3|2 Forschen und träumen in der Natur – Der Künstler als Landschaftsmaler

    4|3|3 Vom freien Malen und Malen im Freien – Die Landschaftsmalerei im Laufe der Zeit

    4|3|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

    4|4 Das Stillleben – Von stillem Leben und toter Natur

    4|4|1 Was ist ein Stillleben?

    4|4|2 Von stillen Werkern und erfolgsverwöhnten Frauen – Maler und Malerinnen des Stilllebens

    4|4|3 Von Speiseresten und schwer verdaulichen Tulpenzwiebeln – Das Stillleben im Laufe der Zeit

    4|4|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

    4|5 Die Historienmalerei – Von Geschichte und Geschichten

    4|5|1 Was ist Historienmalerei?

    4|5|2 Der Künstler als Gelehrter – Der Historienmaler

    4|5|3 Die Quellen der Historie

    a) „Du sollst dir kein Bildnis machen!" – Die Bibel und bibelnahe Schriften als Quelle

    b) Die Entdeckung der Nacktheit – Mythologie als Quelle

    c) Geschichte als Quelle – „Große Taten, große Menschen – große Malerei?"

    d) Dichtung als Quelle – Von Helden, Hölle und Hysterie

    4|5|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

    Eine Zeitreise durch Klischees

    5|1 Das Mittelalter (600–1500) – Wie finster war es?

    5|2 Renaissance und Manierismus (1400–1600) – Wer wird denn da wiedergeboren?

    Spätphase der Renaissance: Manierismus

    5|3 Barock und Rokoko (1600–1789) – Mehr Schein als Sein?

    Spätphase des Barock: Rokoko

    5|4 Klassizismus (1770–1850) – Zurück in die Antike?

    5|5 Romantik (1790–1850) – Zeit für Gefühle

    Varianten der Romantik: Nazarener und Präraffaeliten

    5|6 Die Moderne (ab 1850–1950) – Im Sog der Ismen oder: Ist weniger mehr?

    a) Realismus und Naturalismus (1840–1880)

    b) Impressionismus (1860–1900)

    c) Symbolismus und Jugendstil (1880–1910)

    d) Fauvismus und Expressionismus (1905–1925)

    e) Kubismus und Futurismus (1907–1925)

    f) Konstruktivismus und De Stijl (1913–1930)

    g) Dadaismus und Surrealismus (1916–1945)

    5|7 Die Moderne in Nordamerika

    5|8 Nach 1945

    5|9 Willkommen im Dschungel – Die Gegenwartskunst

    Zu guter Letzt

    Anmerkungen

    Anhang

    Literaturverzeichnis

    Bildnachweis

    Impressum

    Kunst: Was ist das?

    Sie sind gefragt: Bevor Sie weiterlesen, sind Sie gefragt: Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Kunst denken?

    Ein Gemälde in einem Museum

    Eine Kirche

    Die Häkeldecke Ihrer Großmutter

    Gar nichts

    Antwort: Nun, wie auch immer Ihre Antwort lautet, Sie haben entweder bereits eine Vorstellung von Kunst oder Sie sind, was Kunst betrifft, noch nicht vorbelastet. Beides sind gute Voraussetzungen, um sich näher damit zu befassen.

    1|1 Kunst ist …

    Darüber, was Kunst sei, herrscht weitgehend Uneinigkeit. Einig ist man sich lediglich darin, dass sie schwer zu definieren ist. Selbst Künstler, die als Schöpfer den Entstehungsprozess eines Werkes miterleben und gestalten, haben Schwierigkeiten, wenn es gilt, in Worte zu fassen, was sie produzieren. Viele haben es dennoch versucht, fast ebenso viele Antworten haben sie gefunden. Hier folgt eine kleine, keineswegs repräsentative Auswahl ihrer Aussagen. Sie zeigt, dass es gar nicht so einfach ist, diesen eigentlich so geläufigen Begriff in den Griff zu bekommen.

    So schwingt in den Worten des Schweizer Malers Johann Heinrich Füssli aus dem 18./​19. Jahrhundert noch unüberhörbares Pathos: „Die Kunst ist die Dienerin der Natur, das Genie und Talent sind die Gehilfen der Kunst." Seiner Sache schon weniger sicher war sich dagegen Vincent van Gogh, er fand: „Ich kenne noch keine bessere Definition für das Wort Kunst als diese: Kunst, das ist der Mensch!" Und Pablo Picasso, der große Maler des 20. Jahrhunderts, äußerte sich philosophisch: „Wir alle wissen, dass Kunst nicht die Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können." Wem das zu wenig konkret ist, helfen vielleicht die Worte Joseph Beuys’ von 1985 weiter: „Das Kunstwerk ist das allergrößte Rätsel, aber der Mensch ist die Lösung." Der russische Maler El Lissitzky schließlich stellte lakonisch fest: „Wenn du mich fragst, was die Kunst sei, so weiß ich es nicht. Wenn du mich nicht fragst, so weiß ich es." Mit diesen Worten scheint er sich ganz gut aus der Affäre zu ziehen.

    Trotzdem wollen wir noch zeitgenössische Gewährsleute zu Rate ziehen, die eigens für dieses Buch befragt wurden. Eine ausführliche und durchdachte Definition widmet Ihnen der Kunsttheoretiker und Kurator Jean-Christophe Ammann:

    „Kunst ist dem Menschen in die Wiege gelegt, als ein Gestaltungswille. In der Kunst projiziert sich der Mensch als Künstler, sowie jeder Mensch sich projizierend seinem Leben eine Gestalt gibt. Der Mensch, der sich nicht projiziert, regrediert. Insofern ist Kunst eine Notwendigkeit. Aus abendländischer Sicht unterliegt Kunst dem Wandel. Ohne Wandel keine Kontinuität. Jedoch muss auch gesagt sein: ohne Kontinuität kein Wandel. Für beides steht der Künstler ein: für das Existenzielle und die kollektive Biografie."

    Einen etwas anderen Ansatz vertritt die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist: „Ziel der Kunst ist es, zur Evolution beizutragen, die Hirnkapazität zu erweitern, eine objektive Sicht auf die soziale Entwicklung zu garantieren, positive Energien zu erzeugen, Vernunft und Instinkt miteinander zu versöhnen, Klischees und Vorurteile zu zerstören." ¹

    Bringen wir’s zum Schluss auf den Punkt, wie der Yello-Musiker und Künstler Dieter Meier. Er findet: „Art reaches parts of my mind, other things don’t. Also: „Kunst erreicht Teile meiner Seele, die andere Dinge nicht erreichen.

    Abb. 1: Diese Malereien wurden 1994 in den Höhlen von Chauvet in Frankreich entdeckt. Sie sind etwa 30.000 Jahre alt und zählen zu den ältesten Zeugnissen für künstlerisches Schaffen.

    1|2 Ursprünge

    Immerhin stimmen doch einige der genannten Zitate darin überein, dass Kunst etwas mit dem Menschen zu tun habe. Und in der Tat reicht ihr weites Feld in seiner zeitlichen Dimension bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurück ² . Zu den ältesten Zeugen menschlichen Kunstschaffens zählen etwa die Pferde in den Höhlen von Chauvet in Frankreich. Diese Malereien sind rund 30.000 Jahre alt. Sie wurden einst für rituelle Zwecke geschaffen, um die Jagd günstig vorzubereiten. Historisch gesehen gehen die Anfänge der Kunst also bis in die Altsteinzeit zurück.

    In seiner räumlichen Ausdehnung erstreckt sich das Kunstschaffen über die ganze Welt. Überall da, wo der Mensch ist oder wo er als denkendes Wesen seine Spuren hinterließ, trifft man auf Kunst.

    Abb. 2: Joseph Benoît Suvée (1743 – 1807)

    Dibutade oder Die Entdeckung der Malerei, 1793 Öl auf Leinwand, 131,5 x

    267 cm

    Groeningemuseum Brügge

    Allerdings nicht immer in der Gestalt von Bildern, die man an die Wand hängen kann, sondern einmal als Verzierung auf einem Gebrauchsgegenstand, als Schmuck, ein andermal als kultisches Gerät. Kunst ist also eng mit dem Menschen verknüpft, dessen Schöpferkraft Grundbedingung für ihre Entstehung ist. Oder anders gesagt: Ohne Mensch keine Kunst. Interessant wäre sicher auch die Frage, ob die Umkehrung dieses Satzes ebenso Gültigkeit hat. Kann man die Behauptung wagen ohne Kunst kein Mensch? Wir wollen uns hier nicht in philosophischen Gedanken verlieren, sondern diese Frage einfach im Raum stehen lassen. Vielleicht finden Sie im Verlauf Ihrer Auseinandersetzung mit Kunst Ihre ganz persönliche Antwort dazu.

    Die Anekdote zum Thema: Laut Plinius dem Älteren (1. Jahrhundert nach Chr.) gehen die Ursprünge der Malerei auf eine Liebesgeschichte zurück: So musste Dibutade, ein Mädchen aus Korinth, von ihrem Geliebten Abschied nehmen. Bevor er sie verließ, machte sie ein Bildnis von ihm, indem sie seinen Schattenwurf an der Wand nachzeichnete.

    1|3  Kunst kommt (nicht) von Können

    „Das könnte ich auch!" Eine häufig geäußerte Reaktion von Menschen, die sich mit moderner Kunst konfrontiert sehen. Mit dieser Bemerkung meinen sie nicht etwa, dass sie selbst künstlerisch tätig sind. Nein, sie wollen damit andeuten, dass unmöglich Kunst sein kann, was sie als Laien auch zustande bringen würden. Kunst ist für sie etwas, das nicht jeder kann, etwas, das eine überragende Fertigkeit erfordert. Kunst kommt für sie von Können. Und tatsächlich haben sie recht!

    Kunst hatte ursprünglich die Bedeutung von Können. Das lateinische Wort ars, das wir gemeinhin mit Kunst übersetzen, bezeichnete nämlich in der Antike ganz allgemein eine Fähigkeit, Fertigkeit oder gar eine Wissenschaft. Das galt auch im Mittelalter. So meinte das mittelhochdeutsche Wort kunst ein Wissen, eine Geschicklichkeit oder aber eine Erleuchtung. Im engeren Sinne wurde also die Vervollkommnung eines Handwerks, wie beispielsweise der Buchmalkunst, aber auch einer Fähigkeit, etwa der, Reden zu halten (Redekunst oder Rhetorik), oder sogar die Kriegführung als Kunst aufgefasst. Bezeichnenderweise konnotiert der Begriff nun aber auch die Bedeutung von Wissenschaft und Erleuchtung. Das sind zwei interessante Aspekte, die im Kapitel Keine Kunst ohne Künstler noch aufgegriffen werden.

    Abb. 3: Hans Holbein d. J.,

    Heinrich VIII. ca. 1539/​40, 88,2 x

    75

     

    cm

    Tempera auf Holz Palazzo Barberini, Rom

    Notabene: Seit dem Altertum kannte man die sieben freien Künste, also die septem artes liberales, bestehend aus Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Astrologie, Geometrie und Musik. Sie ermöglichten dem freien Mann (deshalb freie Künste) den Zugang zum eigentlichen Studium. Malerei und Bildhauerei sind nicht aufgeführt. Sie gehörten zu den praktischen Künsten, den sogenannten artes mechanicae. Sie dienten dem direkten Broterwerb und wurden deshalb als niederer als die freien Künste eingestuft.

    Im Mittelalter wurden Malerei, Bildhauerei und Architektur in der Regel vom Kollektiv einer Bauhütte oder einer Malschule ausgeführt. Eine zentrale Rolle kam den Skriptorien, den Schreibstuben der Klöster, zu, wo in Gemeinschaftsarbeit großartige Kunstwerke der Buchmalkunst geschaffen wurden. Mit dem Aufstieg der Städte im ausgehenden Mittelalter entwickelten sich dann die „praktischen Künste" zunehmend im Rahmen des Zunftwesens. Obwohl die Zünfte und ihre Mitglieder gesellschaftlich angesehen waren, war man dann in der Renaissance bemüht, die Malerei gegenüber den freien Künsten intellektuell aufzuwerten. Bildnerisches Schaffen sollte fortan der Musik oder Dichtkunst ebenbürtig als freie Kunst wahrgenommen werden. (vgl. Kapitel Der Künstler).

    Notabene: Der deutsche Maler Hans Holbein d. J. (1498 – 1543) erhielt 1520 durch Heirat die Gelegenheit, der Basler Malerzunft „Zum Himmel" beizutreten. Das verschaffte ihm so lukrative Aufträge wie die Ausmalung des Großratssaales im Basler Rathaus (1521) und indirekt eine Karriere im Ausland. 1523/​24 arbeitete er für den französischen König, 1532 verließ er Basel für immer, um Hofmaler Heinrichs VIII. von England zu werden. Dort porträtierte er nicht nur den König und drei seiner insgesamt sechs Ehefrauen, sondern auch zahlreiche andere Prominente aus Adel und Wissenschaft.

    Eine weitere Facette des Kunstbegriffs erschließt sich aus der Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes künstlich, das zunächst klug, geschickt oder kenntnisreich meinte. Bald aber wurde künstlich auch im Sinne von „von Menschenhand geschaffen" verwendet und dem Begriff natürlich gegenübergestellt. So übernahm das Gemälde als geschicktes Abbild der Natur eine wichtige Informationsfunktion in einer Zeit, als es noch keinen Fotoapparat gab. Kunstwerke entstanden also etwa, um der Welt oder Nachwelt Macht und Aussehen Heinrichs VIII. zu demonstrieren, um das Vergnügen spielender Kinder festzuhalten (vgl. Brueghel, Kapitel Genremalerei), sie entstanden beim Versuch, ein besonders dekoratives Arrangement von Früchten oder Blumen möglichst naturnah abzubilden (vgl. Kapitel Stillleben) oder eine schöne Landschaft wiederzugeben (vgl. Meindert Hobbema, Kapitel Landschaft), aber auch, um die Bombardierung der Stadt Guernica 1937 im Spanischen Bürgerkrieg zu dokumentieren (vgl. Picasso, Kapitel Historienmalerei). Aus diesen verschiedenen Bedürfnissen des Abbildens entwickelten sich im Lauf der Zeit die Kunstgattungen Porträt, Genre, Landschaft, Stillleben und Historie.

    1|4 Imagination, Idee, Originalität

    Abbildfunktion oder gar Augenzeugenschaft sind indessen keine unabdingbaren Voraussetzungen für die Entstehung von Kunst. So versteht es sich von selbst, dass ein Künstler nicht in jedem Fall auch (Zeit-)Zeuge sein kann oder konnte. Der Maler Matthias Grünewald (vgl. S. 129), der um 1500 die Leiden Christi am Kreuz malte, tat dies nach seiner Vorstellung. Er hatte weder Jesus Christus noch den Originalschauplatz je gesehen und doch schwebte ihm ein inneres Bild dieser Szene vor. Eine innere Anschauung, die einerseits durch Vorbilder geprägt war, andererseits aber auch durch seine individuellen Ideen. Jedem Kunstwerk liegt also eine Idee oder ein Konzept zugrunde. Dieses beinhaltet neben dem Was, nämlich dem Thema, auch das Wie, nämlich die Umsetzung.

    Das bringt uns zu weiteren Kriterien dessen, was Kunst ausmacht, nämlich zu Imagination, Idee und Originalität des Künstlers. Gerade diese Dimensionen gewannen im Laufe der Jahrhunderte die Vorrangstellung über die eigentliche Kunstfertigkeit und erreichten 1917 einen Höhepunkt. In jenem Jahr nämlich wollte der französische Künstler Marcel Duchamp unter dem Pseudonym R. Mutt ein Pissoir mit dem sprechenden Titel Fontaine in einer New Yorker Ausstellung zeigen. Das Objekt wurde zwar von der Jury – der auch Duchamp selbst angehörte – abgewiesen, später aber mehr als rehabilitiert: Bis heute gilt es (beziehungsweise Fotos und Repliken davon) als ein Schlüsselwerk moderner Kunst.

    Abb. 4: Marcel Duchamp (signiert R. Mutt)

    Das Original Fontaine 1917, fotografiert von Alfred Stieglitz

    Notabene: Ein Pissoir soll Kunst sein? Kein Wunder, denken Sie jetzt vielleicht, dass ich damit nichts anfangen kann. Und in der Tat ist es, seit Kunst auf diese und andere Weise scheinbar ad absurdum geführt wurde, nicht einfacher geworden, sie zu verstehen. Allerdings: Vieles wird plausibel, wenn man die Zusammenhänge der Zeit und die Vita des Künstlers berücksichtigt.

    Tatsächlich dominieren Idee und Originalität in der Gegenwartskunst gelegentlich auf unangenehme Weise. Was man heutzutage als Kunst betrachtet – und das muss sich nicht unbedingt mit dem decken, was man in hundert Jahren dafür halten wird –, bestimmt eine Gruppe von Insidern und wird für eine solche produziert. So jedenfalls sehen es viele Kunstkritiker. Glauben wir ihnen, dann ist für den Laien Kunst, und insbesondere die moderne Kunst, zunächst ein Buch mit sieben Siegeln. Damit er überhaupt entscheiden kann, ob ihm ein Kunstwerk zusagt, benötigt er Aufklärung, die ihm nur durch Experten zuteilwerden kann. ³ Das tönt nach Exklusivität seitens der Kunst und nach Anstrengung und Aufwand vonseiten des Publikums. Doch lassen Sie sich dadurch nicht einschüchtern. Sie werden im nächsten Kapitel eine Methode kennenlernen, die es Ihnen ermöglicht, mit der Kunst – selbst der Gegenwartskunst – fertigzuwerden.

    Das Zitat zum Thema: Der französische Bildhauer Auguste Rodin (1840 – 1917) war jemand, der der Originalität durchaus skeptisch gegenüberstand. „Die Originalität, wie sie das große Publikum versteht, existiert nicht in der hohen Kunst. Die Künstler, die nicht Geduld genug haben, um zu dem wirklichen Talent vorzudringen, ergeben sich dem Bizarren, der Absonderlichkeit des Themas oder den Formen ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Und das nennen sie dann Originalität, aber das hat gar keinen Wert." ⁴ Ob sich seine Kritik auf Duchamps Fontaine bezog, entzieht sich meiner Kenntnis.

    1|5 Der Kunstmarkt

    Wer ganz nüchtern und schnörkellos wissen will, was Kunst ist, liest am besten die Zeitung. Allerdings nicht den Kultur-, sondern den Wirtschaftsteil. Denn der Kunstmarkt ist zu einer nicht zu vernachlässigenden Determinante von Kunst geworden. Er offeriert Experten wie Laien ein allgemein verständliches Bewertungskriterium: den Preis. Seit den 1980er-Jahren ist ein Kunstboom zu verzeichnen, der auch durch zwei Krisen nicht wesentlich geschmälert werden konnte. Kunstwerke sind als Investitionsgüter bei privaten und öffentlichen Anlegern nach wie vor sehr gefragt. Gerade in Zeiten volatiler Finanzmärkte suchen Investoren vermehrt nach sicheren Alternativen. Tatsächlich hat sich der Kunstmarkt in den letzten zehn Jahren als relativ stabil erwiesen. Seit dem gewaltigen Aufschwung, den die Branche in den Jahren von 2004 bis 2007, dank immenser Bonuszahlungen der Banken, erlebte, wird sie gar mit dem Goldmarkt verglichen. Auch die Zukunft sieht rosig aus, denn die Zahl finanzstarker Investoren aus den aufstrebenden Wirtschaftsmächten Brasilien, Russland, Indien und China ist am Wachsen und drängt auf den Kunstmarkt. Man stelle sich vor: Über 800.000 Dollarmillionäre und 128 Milliardäre wurden 2010 allein für China ermittelt. Die großen Auktionshäuser, die eigentlichen Umschlagplätze für Kunstwerke, verzeichnen denn auch eine Verschiebung der Kunstmarktzentren weg von den traditionellen Kunstnationen England und den USA nach Hongkong.

    Immer neue Rekorde werden von Auktionshäusern wie Sotheby’s oder Christie’s gemeldet. 1987 sorgten Vincent van Goghs Sonnenblumen noch für Schlagzeilen, als sie bei einer Auktion die Rekordsumme von 24,75 Millionen Pfund einbrachten. 2010 machte der marschierende dem rauchenden Mann den Titel des teuersten Kunstwerks streitig: Alberto Giacomettis Schreitender Mann I übertrumpfte den ehemaligen Spitzenreiter, Pablo Picassos Garçon à la pipe, nur um kurze Zeit später wieder von einem Picasso auf Platz zwei verwiesen zu werden ⁶ . Die Preise hatten mittlerweile die Grenze von 100   Millionen US-$ überschritten und wurden bereits kürzlich wieder von Edvard Munchs Der Schrei mit einem Erlös von 119,9   Mio. Dollar in den Schatten gestellt.

    Freilich gehört die Mehrzahl der Künstler nicht zur Kategorie dieser Topgehandelten. Während sie noch bis ins 19. Jahrhundert mehrheitlich im Auftrag von Kirche, Adel oder Großbürgertum arbeiteten, emanzipierten sie sich danach aus diesen Auftragsverhältnissen. Kunst wurde nun vermehrt durch Vermittler, Galerien und Auktionshäuser an Sammler verkauft. Der Markt begann zu spielen. Der Künstler – und mit ihm die Kunst – gewann an Unabhängigkeit (vgl. Kapitel Keine Kunst ohne Künstler). Oft jedoch ging diese auf Kosten einer gesicherten Existenz. Viele Maler hätten wohl ein sorgenfreieres Leben führen können, wenn ihnen zu Lebzeiten auch nur ein Bruchteil der Anerkennung – insbesondere der finanziellen – erwiesen worden wäre, die sie heute genießen.

    Die Anekdote zum Thema: Ende 1877 schien für Claude Monet die [finanzielle] Lage aussichtslos; da fasste sein Malerkollege Édouard Manet einen Plan. Er schrieb an einen Freund: „Ich besuchte gestern Monet und fand ihn niedergebrochen und verzweifelt. Er bat mich, irgendjemanden zu finden, der 10 oder 20 seiner Bilder, jedes zu 100 Franc, übernehmen würde. Dem Käufer stünde die Auswahl frei. Sollen wir die Angelegenheit unter uns ausmachen: sagen wir, jeder bringt 500 Franc auf? Natürlich darf niemand, er am allerwenigsten wissen, dass das Angebot von uns kommt."

    Zusammenfassung: Kunst ist an das Dasein des Menschen geknüpft. Sie bezeichnete ursprünglich eine Fertigkeit, ein Wissen, eine Meisterschaft in einem Handwerk oder einer anderen Disziplin. Als künstlich galt im Mittelalter etwas vom Menschen willentlich Geschaffenes, im Gegensatz zu dem von Natur aus Vorhandenen. Kunst diente bis ins 19. Jahrhundert einem Zweck, das heißt, sie sollte repräsentieren und darstellen. Sie wurde im Auftrag der Kirche oder des Adels, später auch des reichen Bürgertums, ausgeführt. Lange Zeit definierte sie sich über die Kunstfertigkeit. Erst im 19. Jahrhundert gewann die Idee des Künstlers und dessen Originalität die Oberhand. Je mehr sich die Kunst vom Mäzenatentum (Auftraggeber) löste, umso mehr wurde sie dem freien Markt unterworfen.

    Kunst hat uns etwas zu sagen – Hat sie das?

    Wir leben bekanntlich in einer Kommunikationsgesellschaft, und das nicht erst seit gestern. Allerdings stehen uns heute viel mehr technische Mittel des Informationsaustausches zur Verfügung als beispielsweise noch unsern Großeltern. Was sich aber bis heute nicht geändert hat, sind die Grundsätze des Informationsflusses, wie sie in sogenannten „Kommunikationsmodellen" dargestellt werden. Ihnen gemeinsam ist das Grundschema von Produzent ➞ Mitteilung ➞ Konsument. Oder anders: Sender ➞ Botschaft/​Medium ➞ Empfänger. Das heißt nichts anderes, als dass Kommunikation eine Übermittlung von Information von einem Absender zu einem Empfänger mittels eines Mediums ist.

    Sie sind gefragt: Was heißt das für Sie als Betrachter oder Betrachterin von Kunst? Wie sieht ein entsprechendes Diagramm aus, an dem Sie beteiligt sind?

    Antwort: Wenn wir davon ausgehen, dass der Künstler seine gestalterische Botschaft nicht einfach ins Nichts hinausschickt, sondern mit einem Publikum rechnet, sieht das Diagramm so aus:

    Künstler ➞ Kunstwerk ➞ Publikum/​Ich

    Übertragen auf die Kunst ist das Kunstwerk das Bindeglied oder Medium, das die Informationen beziehungsweise Botschaft an Sie übermittelt. Der Künstler aber ist der Urheber, derjenige, der etwas mitzuteilen hat. Oder anders gesagt: keine Kunst ohne Künstler.

    2|1 Keine Kunst ohne Künstler

    Sie sind gefragt: Welche Künstler kennen Sie (ankreuzen) und von welchem haben Sie auch schon einmal ein Werk gesehen? (Buchstabe ins passende Kästchen setzen.)

    ❑ Andy Warhol (A)

    ❑ Leonardo da Vinci (B)

    ❑ Claude Monet (C)

    ❑ Pablo Picasso (D)

    Antwort: B, C, A, D.

    Kennen Sie einen, zwei oder alle? Leonardo da Vinci, das Universalgenie des 15. Jahrhunderts, Maler der Mona Lisa? Claude Monet, dessen Ausstellungen jeweils Rekordbesucherzahlen erzielen und dessen berühmte Seerosen- und Blumenbilder beliebte Kalendermotive sind? Pablo Picasso, der Maler des 20. Jahrhunderts schlechthin, oder Andy Warhol, der Mitbegründer der Pop-Art, dessen Porträt Marilyn Monroe zum Status einer Pop-Ikone verhalf? Bei allen genannten Malern sind sich Fachkreise und Laien einig: Es handelt sich zweifelsfrei um Künstler. Niemand käme auf die Idee, ihr Können oder ihre Leistungen infrage zu stellen. Was aber unterscheidet sie von anderen Malenden, die diesen Titel nicht für sich beanspruchen können? Was genau macht einen Künstler aus?

    „Er ist eben ein Künstlertyp." Ein oft gehörter Satz. Eine Mischung aus Bewunderung und Entschuldigung, aus der man nicht ganz klug wird. Ein Satz, der vieles offen lässt, anderes ausschließt, aber mit Sicherheit bestimmte Vorstellungen in Ihnen weckt. Natürlich gibt es nicht den Künstler, ebenso wenig wie es den Pfarrer, den Lehrer oder den Arzt gibt, und doch scheinen sich gewisse Eigenschaften, Erwartungen und Ansprüche unter dem Begriff Künstler zu subsumieren.

    Sie sind gefragt: Mit welchen positiven oder negativen Eigenschaften charakterisieren Sie den „Künstlertyp"?

    Antwort: Wie wär’s mit: außergewöhnlich, genial, begabt, verrückt, voller Ideen, ein Könner, ein Einzelgänger, ein Individualist, ein Außenseiter, schräg, würde ihm meine Buchhaltung nicht anvertrauen etc.?

    Die wohl früheste Beschreibung von Künstlern findet sich im 2. Buch Moses im Alten Testament der Bibel. Verfasst im 5. Jahrhundert v. Chr. nimmt das Zeugnis Bezug auf die Erbauung der Stiftshütte, des transportablen Heiligtums der Israeliten.

    Hintergrund zum Thema: Die Geschichte berichtet, wie Gott die beiden Künstler Bezalel und Oholiab mit den Arbeiten für das Heiligtum betraut. Dabei geht es um mehr als um die Erteilung eines Auftrages an zwei Begabte. Es ist von göttlicher Inspiration der beiden Beauftragten die Rede, die sich nicht nur auf die auszuführende Arbeit, sondern auch auf die Anleitung weiterer Helfer erstreckt. Von Bezalel wird gesagt, Gott habe ihn mit seinem Geist erfüllt, ihm Können und Umsicht gegeben und ihn zu jeder künstlerischen Tätigkeit befähigt. So könne er Bilder und Gegenstände entwerfen (Idee) und sie in Gold, Silber oder Bronze ausführen, Edelsteine schneiden und fassen und Holz kunstvoll bearbeiten (Fertigkeit), und er sei auch in der Lage, andere zu solchen Arbeiten anzuleiten (Vermittlung). Welche Bedeutung dieser künstlerischen Tätigkeit zukommt, zeigt sich in der umfangreichen Beschreibung, die fünf Kapitel (von vierzig) des ganzen Buches einnimmt. Immer wieder

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