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Psychoanalytische Pädagogik - Psychoanalyse in der Pädagogik
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Psychoanalytische Pädagogik - Psychoanalyse in der Pädagogik

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About this ebook

Mit der Entstehung der Psychoanalyse tauchte auch die Frage nach ihrer pädagogischen Relevanz auf. Die neuen Theorien von der Rolle des Unbewussten in den zwischenmenschlichen Beziehungen, vom Kind als Triebwesen und von der unauslöschlichen eigenen Kindheit im Menschen übten einerseits auf viele Pädagogen eine große Faszination aus und reizten zur Erprobung einer "neuen" Erziehung, andererseits stießen sie auf den heftigen Widerstand der traditionellen Pädagogik. In den vergangenen vierzig Jahren hat sich die Psychoanalytische Pädagogik im Kanon erziehungswissenschaftlicher Theorien etabliert und eine umfangreiche Praxis entfaltet. Über ihre Geschichte, ihre theoretische Besonderheit und ihre praktischen Leistungen will das Buch informieren.
LanguageDeutsch
Release dateJul 6, 2016
ISBN9783170241800
Psychoanalytische Pädagogik - Psychoanalyse in der Pädagogik
Author

Helmwart Hierdeis

Prof. em. Dr. phil. Helmwart Hierdeis ist Psychoanalytiker und war als Erziehungswissenschaftler an den Universitäten Bamberg, Erlangen-Nürnberg, Innsbruck und Bozen-Brixen tätig.

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    Book preview

    Psychoanalytische Pädagogik - Psychoanalyse in der Pädagogik - Helmwart Hierdeis

    Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

    Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

    Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne

    Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

    Berater der Herausgeber

    Ulrich Moser

    Henri Parens

    Christa Rohde-Dachser

    Anne-Marie Sandler

    Daniel Widlöcher

    Helmwart Hierdeis

    Psychoanalytische Pädagogik

    Psychoanalyse in der Pädagogik

    Verlag W. Kohlhammer

    Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

    Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden.

    Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezählt

    1. Auflage 2016

    Alle Rechte vorbehalten

    © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

    Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

    Print:

    ISBN 978-3-17-024178-7

    E-Book-Formate:

    pdf:       ISBN 978-3-17-024179-4

    epub:    ISBN 978-3-17-024180-0

    mobi:    ISBN 978-3-17-024181-7

    Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

    Geleitwort zur Reihe

    Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

    In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

    Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

    Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

    Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungs-psychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

    In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

    Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

    Die Herausgeberinnen und Herausgeber

    Cord Benecke, Lilli Gast,

    Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

    Inhaltsverzeichnis

    Geleitwort zur Reihe

    1 Einleitung: Gegensätzliche Einschätzungen

    2 Zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik

    2.1 Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Psychoanalytische Pädagogik: Zur Begriffsgeschichte

    2.1.1 Pädagogik – Erziehungswissenschaft

    2.1.2 Psychoanalytische Pädagogik

    2.1.3 Zeitgeschichtliche Facetten

    2.2 Psychoanalyse und Erziehung bei Sigmund Freud

    2.2.1 Freuds Bruch mit der anthropologischen und pädagogischen Tradition

    2.2.2 Psychoanalytisch »aufgeklärte« Erziehung

    2.3 Psychoanalyse und Erziehung im Umfeld Sigmund Freuds

    2.3.1 »Mittwoch-Gesellschaft« und Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik

    2.3.2 Vertreter der Psychoanalytischen Pädagogik

    2.4 Die Rezeption von Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik vor 1945

    2.4.1 Geisteswissenschaftlich orientierte Pädagogik in Beispielen

    2.4.2 Reformpädagogik und Jugendbewegung

    2.5 Psychoanalyse und Psychoanalytische Pädagogik nach 1945

    2.5.1 Nachkriegszeit: Neubeginn durch Erinnerung

    2.5.2 Politisierung der Psychoanalytischen Pädagogik

    2.5.3 Universitäre und außeruniversitäre Institutionalisierung der Psychoanalytischen Pädagogik

    3 Systematische Aspekte

    3.1 Psychoanalytische Pädagogik als Wissenschaft

    3.1.1 Theorieprobleme der Herkunftswissenschaften

    3.1.2 Psychoanalytische Pädagogik als Wissenschaft: Vier Positionen

    3.2 Rückblick

    3.2.1 Entdogmatisierung versus Verständigung

    3.2.2 Psychoanalytische Pädagogik auf der Suche nach sich selbst

    3.2.3 Innerpsychische Besetzung des pädagogischen Terrains durch die Psychoanalyse?

    3.2.4 Vom Risiko psychoanalytisch-pädagogischen Handelns

    3.2.5 Psychoanalyse: Evidenz ihrer pädagogischen Relevanz

    4 Psychoanalytische Pädagogik als Theorie und Praxis pädagogischer Beziehungen

    4.1 Allgemeine Merkmale

    4.2 Asymmetrische Beziehungsstruktur

    4.2.1 Beispiel Familie

    4.2.2 Beispiel Schule

    4.2.3 Asymmetrie auf Zeit

    4.3 Übertragung und Gegenübertragung

    4.3.1 Übertragung

    4.3.2 Gegenübertragung

    4.4 Nähe und Distanz

    4.5 Verstehen

    4.5.1 Erkenntnisleitende Gefühle

    4.5.2 Psychoanalytisches Verstehen als »szenisches Verstehen«

    4.6 Bildung der Gefühle

    5 Professionalisierung

    5.1 Wissen und Handeln

    5.2 Psychoanalytische Selbstreflexion

    5.3 Wege zur psychoanalytisch-pädagogischen Professionalisierung

    Kommentierte Literatur

    Glossar

    Literatur

    Internetquellen

    Stichwortverzeichnis

    Personenverzeichnis

    Für Sebastian, Johannes und Antonia

    1          Einleitung: Gegensätzliche Einschätzungen

    »Die Psychoanalytische Pädagogik ähnelt […] einem Kind, das von seinen potentiellen Eltern, der Psychoanalyse und der Pädagogik, wenn nicht gerade verleugnet, dann doch gleichermaßen misstrauisch beobachtet, ja manchmal sogar als illegitim betrachtet wird« (Trescher, 1992, S. 197).

    »Jeder macht zuerst einmal seinen pädagogischen Job […]. Aber die Art und Weise, wie er das tut oder auch, wie er wissenschaftlich darüber reflektiert, verändert sich auf der Basis dessen, was ich […] den ›psychoanalytischen Ich-Zustand‹ nannte« (Bittner, 2015, S. 39).

    Angenommen, jemand sucht zu Beginn seines Pädagogik- oder Lehramtsstudiums in der Präsenzbibliothek seiner künftigen Universität eine Übersicht über das Fach Pädagogik, greift sich das Taschenbuch Erziehungswissenschaft: Ein Grundkurs Abb. 1).

    Vermutlich sagen ihm die meisten Namen und Begriffe aus seinem künftigen Fach zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig. Auch von den vier »Krisen« in der neueren Geschichte der Pädagogik kann er noch keine Vorstellung haben. Aber sicher ist er schon einmal, vielleicht in der Oberstufe des Gymnasiums, dem Philosophen Immanuel Kant, dem Gesellschaftstheoretiker Karl Marx und dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud begegnet und wundert sich nun, dass sie hier im Zusammenhang mit seinem gewählten Studienfach auftauchen. Möglicherweise bleibt er bei Freud hängen und entdeckt unter der Überschrift »Theorienpluralismus« neben sechs zusätzlichen, offenbar selbständigen pädagogischen Theorien tatsächlich eine Richtung mit Namen »Psychoanalytische Pädagogik«. Falls seine Neugier noch nicht erloschen ist, könnte er einen weiteren Erkundungsschritt machen und nach einer Auskunft suchen, was diese Bezeichnung besagt. Das Sachregister in Lenzens Buch führt ihn unter »Pädagogik, psychoanalytische« zu folgender

    Aus urheberrechtlichen Gründen kann die Abbildung in der elektronischen Ausgabe nicht angezeigt werden.

    Abb. 1: Lenzen (Hg.), Erziehungswissenschaft Copyright © 1994 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

    Textstelle (er registriert, dass es die einzige im Buch ist, die sich auf diese pädagogische Theorie bezieht):

    »Einen Griff neben die Geisteswissenschaftliche Pädagogik leistete auch der Versuch einer Wiederbelebung Psychoanalytischer Pädagogik (Hvh. D. L.). Sie hat keineswegs den gleichen Rang wie die anderen Ansätze. Zwar leugnet sie nicht das Vorhandensein eines Sinns in den Handlungen der Menschen; im Gegensatz zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird dieser Sinn aber nicht als kollektiver Sinn, sondern als individueller Sinn verstanden. Die Geschichte, die hier rekonstruiert wird, ist nicht die Geschichte einer Kultur, sondern eines Individuums, seiner Leidens- und Lebensgeschichte. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf die Rolle des Unbewußten. Soweit dieses Unbewußte immer auch das Produkt einer individuellen und damit intentional gesteuerten Lebensgeschichte ist, muß der Mensch letztlich als Subjekt begriffen werden […]« (Lenzen, 2002, S. 33).

    Wenn er die Textpassage in ihre Einzelaussagen zerlegt, kann er ihr folgende Feststellungen entnehmen:

    •  Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik bildet einen Maßstab für die Zuordnung und Bewertung anderer theoretischer Richtungen.

    •  Die Psychoanalytische Pädagogik muss schon einmal lebendig gewesen sein, war dann aus irgendwelchen Gründen »tot«, und der »Versuch einer Wiederbelebung« war ein »Griff neben die Geisteswissenschaftliche Pädagogik«.

    •  Psychoanalytische Pädagogik und Geisteswissenschaftliche Pädagogik haben nichts miteinander zu tun.

    •  Die Psychoanalytische Pädagogik hat nicht den »gleichen Rang« wie die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und die »anderen Ansätze«.

    •  Das wichtigste Kriterium für Gemeinsamkeit wäre ein den »menschlichen Handlungen« unterstellter »kollektiver Sinn«. Das ist offenbar bei der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik der Fall, nicht aber bei der Psychoanalytischen Pädagogik, weil sie ausschließlich einen »individuellen Sinn« erkennt.

    •  Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik rekonstruiert die Sinnhaftigkeit der »Geschichte einer Kultur«.

    •  Die Psychoanalytische Pädagogik rekonstruiert die Sinnhaftigkeit individueller »Leidens- und Lebensgeschichten«.

    •  Die Psychoanalytische Pädagogik geht davon aus, dass das »Unbewusste« Ergebnis einer »individuellen und damit intentional gesteuerten Lebensgeschichte ist« und den Menschen dadurch zum »Subjekt« macht.

    •  Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik kennt offenbar kein solches »Unbewusstes«. Zumindest spielt es in ihrer Theorie des Subjekts keine Rolle.

    Der Studienanfänger fühlt sich überfordert. Er kann noch nicht beurteilen, ob die Sätze zutreffen oder nicht. Aber ihm fällt auf, dass eine Aussage unter den anderen heraussticht, weil sie eine Einschätzung enthält: Die Psychoanalytische Pädagogik habe nicht den gleichen Rang wie die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und die anderen Richtungen. Worin der Unterschied liegt, erfährt er nicht. Dennoch läuft der Satz seiner Erwartung zuwider, dass Werturteile in der Wissenschaft nichts zu suchen haben, zumindest aber als solche zu kennzeichnen sind und einer Begründung bedürfen. Das hat er schon auf dem Gymnasium gelernt.

    Es könnte aber auch sein, dass ihm beim weiteren Herumstöbern ein zweibändiges Werk mit dem Titel Klassiker der Pädagogik (Scheuerl, 1979) ins Auge fällt. Das tut schon auf den beiden Einbänden kund, um welche Personen es da gehen soll. Und siehe da: Auf dem Umschlag des zweiten Bandes entdeckt er neben Marx und Nietzsche auch Freud. Er stutzt: einmal Freud als Urheber einer randständigen pädagogischen Theorierichtung, die den anderen pädagogischen Theorien irgendwie nicht das Wasser reichen kann – und dann Freud als pädagogischer »Klassiker«, als »hervorragende(r) Begründer und Reformer pädagogischer Modelle und Traditionen«, wie der Klappentext verkündet. Wie soll das zusammengehen? Er schlägt das Buch auf und stößt im Beitrag Sigmund Freud (1856–1939) von Günther Bittner (1979, S. 46 ff.) zunächst auf einige befremdliche Begriffe wie »Verdrängung«, »Abwehr«, »Tarnung«, »Vater-/Muttermord« und »Todestrieb«. Aber dort, wo es um die Pädagogik geht, entdeckt er Aussagen zur sexuellen Entwicklung, zu den Eltern-Kind-Beziehungen und zur Autorität und damit Themen, die er auf seine eigenen Erfahrungen beziehen kann. Dass es die Psychoanalytische Pädagogik als Theorie und Praxis schon seit mehr als hundert Jahren geben soll und das nicht nur in Deutschland, erstaunt ihn als jemanden, der doch mindestens dreizehn Schuljahre hinter sich hat. Weshalb hat er noch nie davon gehört? Hatten auch seine Lehrerinnen und Lehrer keine Ahnung gehabt oder den psychoanalytischen Blick auf die Pädagogik für unnötig gehalten?

    Sollte er, durch den Widerspruch animiert, der Sache weiter auf den Grund gehen wollen, so würde er feststellen, dass in den beiden gegensätzlichen Würdigungen von Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik Einschätzungen zum Ausdruck kommen, wie sie ihre Theoriegeschichte seit mehr als hundert Jahren begleiten. Falls er inzwischen nicht völlig verwirrt ist (oder durch seine Studienordnung zu ganz anderen Themen hingelenkt wird), hat er ausreichend Möglichkeiten, zwischen der Marginalisierung der Psychoanalytischen Pädagogik und einer ihr angemessenen Würdigung zu einem eigenen Urteil zu kommen.

    2          Zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik

    Lernziele

    Wenn Sie die nachfolgende komprimierte Darstellung zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik durchgearbeitet haben, sollten Sie in der Lage sein,

    •  die Begriffe »Pädagogik« und »Psychoanalytische Pädagogik« zu umschreiben und in ihrem theorie- wie zeitgeschichtlichen Kontext zu skizzieren,

    •  das Verständnis der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik vom Kind und von dessen Erziehung zu charakterisieren und die Auffassung der Psychoanalytischen Pädagogik dagegenzusetzen,

    •  den Zusammenhang zwischen Freuds Anthropologie und seinen Vorstellungen von Erziehung zu beschreiben,

    •  verständlich zu machen, was Freud unter einer psychoanalytisch aufgeklärten Erziehung verstanden hat,

    •  Freuds Hauptargument für eine psychoanalytische Ausbildung von Berufserziehern zu benennen,

    •  die wichtigsten Überlegungen zur Psychoanalytischen Pädagogik der genannten Protagonisten wiederzugeben und Unterschiede zwischen ihren Konzepten anzuführen,

    •  die Einschätzung von Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik durch einige Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wiederzugeben und zu beurteilen,

    •  Verbindungen zwischen der Deutschen Jugendbewegung, der Reformpädagogik und der Psychoanalytischen Pädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts herzustellen,

    •  die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Entwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik zu beschreiben,

    •  die wichtigsten Schritte bei der Wiederkehr der Psychoanalytischen Pädagogik in der Nachkriegszeit nachzuzeichnen,

    •  Beispiele für die Institutionalisierung der Psychoanalytischen Pädagogik von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart zu nennen,

    •  eine vorläufige Bewertung des Stellenwerts der Psychoanalytischen Pädagogik im Kontext der wissenschaftlichen Pädagogik abzugeben.

    2.1       Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Psychoanalytische Pädagogik: Zur Begriffsgeschichte

    2.1.1     Pädagogik – Erziehungswissenschaft

    »Pädagogik« bezeichnet seit mehr als 200 Jahren die Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein war sie überwiegend philosophisch-geisteswissenschaftlich legitimiert und dementsprechend hermeneutisch ausgerichtet. Heute umfasst die pädagogische Theorie als Folge der Ausdifferenzierungen in den Human- und Gesellschaftswissenschaften eine ganze Reihe unterschiedlicher Aussagensysteme. Sie setzen entweder die methodologische Tradition der Geisteswissenschaften fort, indem sie Wissen über plausible Zusammenhänge im Rahmen der sog. »Erziehungswirklichkeit« zu gewinnen suchen und systematisieren, oder sie verstehen sich im Sinne eines behavioristisch-nomothetischen Wissenschaftsverständnisses. In diesem Fall versuchen sie herauszufinden, welche Regel- und Gesetzmäßigkeiten die menschliche Entwicklung im Rahmen ihrer sozialen, materialen und medialen Umwelt, des erzieherischen Verhaltens und Handelns, der Beziehungen zwischen den Generationen und des kognitiven, sozialen und emotionalen Lernens über den gesamten Lebenslauf hinweg mitbestimmen. Daneben hat sich, auch unter dem Einfluss anderer Wissenschaften vom Menschen, eine Reihe von Mischkonzepten entwickelt. Dafür bietet die aktuelle pädagogische Biographieforschung ein anschauliches Beispiel: Sie arbeitet empirisch-historiographisch an den geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens, hermeneutisch an literarischen Texten und Erzählungen über subjektive Entwicklungsverläufe und greift u. a. auf Forschungsergebnisse der Humanbiologie, Neurologie, Bindungsforschung, Soziologie, Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse zurück. Eine solche interdisziplinäre Kooperation ist möglich, weil sich die Vertreter der unterschiedlichen Paradigmen nicht gegenseitig die Wissenschaftlichkeit absprechen.

    Die Entstehung zahlreicher pädagogischer Institutionen infolge des sozialen Wandels seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (u. a. Kindergarten, Verdichtung und Ausdifferenzierung des Schulsystems, Jugendarbeit, Behindertenarbeit, Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung) erzwingt eine Professionalisierung der Pädagogen und damit die Suche nach gesichertem Wissen für die Berufsausübung.

    •  So taucht bereits im 19. Jahrhundert die Forderung nach einer »exacten Erziehungswissenschaft« auf (Schreber, zit. n. Oelkers, 2005, S. 65).

    •  Nach der Jahrhundertwende formuliert Otto Willmann aus einer christlichen Philosophie heraus Fundamentalbegriffe der Erziehungswissenschaft (Willmann, 1908).

    •  Der Freud-Schüler Siegfried Bernfeld erhebt 1925 in seiner berühmt gewordenen Streitschrift Sisyphos die Forderung nach einer Erziehungswissenschaft, die das bisher übliche Glauben und Meinen in der Pädagogik durch gesichertes Wissen ersetzen soll (1925/1981, S. 13).

    •  1929 findet in Kassel der erste Kongress über »Wesen und Wert der ›Erziehungswissenschaft‹« statt (Spieler, 1932, Sp. 534).

    Der Terminus drückt in diesen Jahren aber nicht mehr aus als das unbestimmte Bedürfnis nach eindeutigen Methoden und einem eigenen Gegenstandsbereich, wie ihn auch die anderen Wissenschaften für sich reklamieren. Die Beweggründe dafür liegen teils in einem Gefühl des Ungenügens sowohl der Wissenschaft als auch der Praxis gegenüber, teils in dem Wunsch, endlich von den anderen Wissenschaften anerkannt zu werden. Der Begriff »Erziehungswissenschaft« etabliert sich aber erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich sollte er ausschließlich den empirisch-rationalen Aussagensystemen über Erziehung und Bildung vorbehalten bleiben – das war jedenfalls das Anliegen einiger ihrer Vertreter (vgl. Brezinka, 1971; Rössner, 1975). Jedoch bürgerte sich in der Folgezeit bei zahlreichen Autoren eine synonyme Verwendung mit Pädagogik ein. Das ist auch heute noch der Fall.

    2.1.2     Psychoanalytische Pädagogik

    Ich habe mich im Rahmen dieser Darstellung für den Begriff »Pädagogik« entschieden, ohne schon hier auf die wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Problematik der Begriffswahl einzugehen, die in der Disziplin immer wieder einmal zu Diskussionen führt (vgl. Figdor, 2012, S. 63 ff.; 1989a, S. 136 ff.; Datler, 1992, S. 11 ff.). Zum einen ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, »Pädagogik« zur Zeit Freuds der Begriff schlechthin, wenn es um Erziehung und Bildung geht. Er wird auch von ihm gelegentlich verwendet. Zum andern prägen die Pädagogen unter den ersten Freud-Schülern, als sie die Bedeutung der Hinweise auf Erziehung in Freuds Schriften und das Gewicht ihrer persönlichen psychoanalytischen Erfahrungen und Erkenntnisse für die Erziehung erkennen, den Begriff »Psychoanalytische Pädagogik« und tragen ihn 1926 durch die Gründung der gleichnamigen Zeitschrift nach außen (ZfpP, 1926 ff.). Wenn Paul Federn und Heinrich Meng für das Periodikum dennoch mit dem Satz werben: »Die Psychoanalyse findet ihren letzten Sinn und ihren reinsten Erfolg als Erziehungswissenschaft« (Federn & Meng, 1926; Hvh. im Original), dann geht es ihnen offenbar darum, der Pädagogik den Geruch einer bloßen Praxislehre zu nehmen und sie als Wissenschaft zu propagieren. Ob die Protagonisten nun (meist) von Psychoanalytischer Pädagogik oder (selten) von Psychoanalytischer Erziehungswissenschaft sprechen: Sie verbinden mit den Begriffen noch keine genauen Vorstellungen hinsichtlich ihrer theoretischen und praktischen Reichweite und benennen damit auch keinen fest umrissenen Gegenstandsbereich. Aber eines ist ihnen klar: Es geht nicht nur um den im Sinne der Psychoanalyse angemessenen Umgang mit dem Kind, sondern auch um die Eignung

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