TEXT+KRITIK 211 - Emine Sevgi Özdamar
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TEXT+KRITIK 211 - Emine Sevgi Özdamar - edition text kritik
2008.
[7|8] Ortrud Gutjahr
Inszenierungen eines Rollen-Ich
Emine Sevgi Özdamars theatrales Erzählverfahren
Eine langjährige Theaterpraxis ist schöpferischer Antrieb und praller Fundus für das literarische Schreiben von Emine Sevgi Özdamar. Die in der Türkei geborene Autorin stand bereits als Schülerin in Bursa auf der Bühne, erlebte Mitte der 1960er Jahre während eines Arbeitsaufenthaltes in Berlin die dortige Theaterszene, besuchte anschließend die Schauspielschule in Istanbul und übernahm erste Theaterrollen. Sie kehrte dann infolge des Militärputsches 1971 erneut nach Deutschland zurück und hospitierte an der Volksbühne in Ostberlin, nahm nun als Schauspielerin und Regieassistentin am Schauspielhaus Bochum ein Engagement an und gastierte an weiteren Häusern. Weit entfernt von derzeitigen Bestrebungen des postmigrantischen Theaters, Schauspielern mit Migrations- oder Fluchterfahrungen auf der Bühne eine Stimme zu geben, erhielt Özdamar in Deutschland zunächst kleinere oder auch stumme Rollen, wie die der türkischen Putzfrau oder der trojanischen Königstochter Andromache.¹ Der Film besetzte sie zunächst für die Figur der vornehmlich kopftuchtragenden Ehefrau und Mutter, die sie in frühen Filmen wie Konrad Sabrautzkys »Freddie Türkenkönig« (1978), Thomas Draegers »Metin« (1979), Hark Bohms »Yasemin« (1988) und Jürgen Haases »Eine Liebe in Istanbul« (1990) gab.
Als Dramatikerin stellte sich Özdamar erstmals mit der Burleske »Karagöz in Alamania« vor, die 1986 unter ihrer Regie am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wurde. Das bereits 1982 publizierte Stück erschien in einer zur Rollen-Prosa umgearbeiteten Fassung, wie auch der 1988 schon anderweitig veröffentlichte Monolog »Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland«², in Özdamars erster Erzählsammlung »Mutterzunge« (1990). Mit diesem gleitenden Übergang vom dramatischen zum epischen Schreiben transformiert Özdamar nicht allein eigene Theatererfahrungen in Erzählform, sondern entwickelt dabei auch ein genuin theatrales Schreibverfahren. Von daher ist der für Özdamars Werk entscheidende Sprachwechsel nicht, wie häufig angenommen, der Übergang vom Türkischen ins Deutsche, sondern der Wechsel in eine Literatursprache, mit der die Inszenierung kulturell heterogener Sprach- und Darstellungselemente auch erzählerisch gelingt.
Özdamars episches Werk umfasst drei Romane, die unter der Bezeichnung »Istanbul-Berlin-Trilogie« firmieren, und zwei Erzählsammlungen. In diesen [8|9]Texten ist die Narration durchweg einer namenlosen Ich-Erzählerin überantwortet. Diese bringt sich nach dem Biografie-Modell durch eine chronologische Erinnerungserzählung früherer Lebensphasen als ein Ich mit individueller Geschichte selbst hervor. Nach dem Muster des Künstlerromans sind Stationen einer Entwicklung zum und im Theater vergegenwärtigt und der Beginn des literarischen Schreibens angedeutet. Dabei fällt auf, dass einzelne Lebensepisoden in den Romanen und Erzählungen leicht variiert Wiederholung finden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass diesen Ereignissen ein Wahrheitskern inhärent ist, der sich durch Bearbeitungen und Transformationen erst deutlich herauskristallisiert. Im Hinblick auf die zumindest partiell offensichtliche Übereinstimmung von Erzähltem und Biografie der Autorin unterstützt diese leitmotivische Form der Narration zusätzlich die Vorstellung, dass hier eine autofiktive Lebensgeschichte entlang des Geländers einer faktual-authentischen gestaltet ist.
Unzweifelhaft hat Özdamar mit ihrem überschaubaren wie in sich vernetzten Erzählwerk ein unvergleichliches türkisch-deutsches Migrations- und Theaterepos mit Reminiszenzen an die eigene Lebensgeschichte vorgelegt. Doch wird eine auf biografische Aspekte verkürzende Lesart dem inszenatorischen Charakter ihrer Texte nicht gerecht. Schon allein die narrative Figuration einer Erzählerin, die nach dem Credo »Theater ist mein Leben« (B 12)³ ihr früheres Selbst gleich der »Protagonistin« ihres Lebensspiels in unterschiedlichen Rollen performiert, verdeutlicht, dass hier von einer artifiziellen Inszenierung biografischen und zeitgeschichtlichen Materials zu sprechen ist und erst ästhetische Formgebung den Authentizitätscharakter des Erzählten verbürgt.
Bekannt wurde Özdamar mit ihrer Erzählsammlung »Mutterzunge« (1990), in der sie bereits die Auseinandersetzung ihrer Ich-Erzählerin mit Theaterrollen und der Muttersprache im Prozess des Fremdsprachenlernens thematisiert. Der Durchbruch gelang ihr dann mit dem Erstlingsroman »Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus« (1992), der ihr schon vor Erscheinen – allein für einen Leseauszug – den Ingeborg-Bachmann-Preis einbrachte. Hier gestaltet die Erzählerin ihr Heranwachsen in verschiedenen Orten der Türkei als auktoriale Erinnerungsinstanz, die einer kindlich-naiven Weltsicht und damit auch dem phantasiebegabten Kind, das sie einmal war, Raum gibt. Mit dieser Konzeption ihrer Ich-Erzählerin folgt Özdamar gerade nicht dem Modell der autoreflexiven Erinnerungserzählung, bei der ein gegenwärtiges Ich seine Erzählhoheit gegenüber dem früheren Ich kritisch hinterfragt wie auch behauptet und damit auf Distanz zu überwundenen Denk- und Verhaltensweisen geht. Ganz im Gegenteil ermöglicht ihre theatral-dialogische Aufspaltung der Erzählerin in einen erinnernden und einen vergegenwärtigten Anteil eine dichte Annäherung an das eigene Selbst in seinen [9|10]unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Denn Özdamar lässt die Sprache ihrer jeweiligen Texte zu einer Bühne werden, auf der die Erzählerin mit sich als einem jeweils anderen Selbst ins Spiel kommt.
So wechselt die Ich-Erzählerin schon im Folgeroman »Die Brücke vom Goldenen Horn« (1998) verstärkt in einen ironisch-humoresken Erzählgestus, wenn sie sich zunächst in der Rolle einer jungen türkischen Gastarbeiterin inszeniert, die sich im Arbeiter- und Studentenmilieu Berlins orientiert, und dann als Schauspielschülerin, die in Istanbuls Boheme verkehrt. Aspekte ihrer Entwicklung greift sie teilweise in der Erzählsammlung »Der Hof im Spiegel« (2001) wieder auf und gibt über imaginäre Vergegenwärtigungen einer tiefen Trauer über den Tod der Mutter Ausdruck. Im tagebuchförmigen Roman mit dem Titel »Seltsame Sterne starren zur Erde« (2003) schlüpft sie in eine Beobachter-Rolle bei Theaterproben und verfasst ein Arbeitstagebuch, in dem sie über die Bühnenkunst und eigene Inszenierungsideen reflektiert. Der Ich-Erzählerin in Özdamars Werk kommt also einerseits eine identifizierbare, biografische Geschichte zu, die in den Romanen der »Istanbul-Berlin-Trilogie« und flankierend in den Erzählungen Gestalt gewinnt. Andererseits erscheint dieses einzigartige »Ich« in einer Vielheit von Emanationen, denn es ist nichts weniger als ein »Rollen-Ich«, das sich in jedem Text in eine andere Protagonistin hinein entwirft. Erst mit der Erfindung dieser – als Rollen-Ich angelegten – Erzählinstanz bringt sich die Theater- und Filmschauspielerin, Dramatikerin und Regisseurin Özdamar auch als Epikerin hervor.
Zur-Sprache-Kommen
Özdamars Erzählerin entwickelt im Fortgang der Narration ihre »Biographie künstlerischer Auseinandersetzung«. Durch den Verweis auf Werke der Weltliteratur und global zirkulierende Filme wie auch die Erinnerung an Begegnungen mit bedeutenden Theaterschaffenden, Schriftstellern, Malern und Intellektuellen inszeniert sie sich memoirenhaft als Kennerin wie Mitglied von Künstlerszenen in Istanbul und Berlin. Mit einer Vielzahl von Zitaten aus Romanen, Gedichten, Liedern, Theaterstücken und theoretischen Texten, die den Fluss ihres Erzählens unterbrechen wie vorantreiben, gibt sie darüber hinaus Quellen ihrer Inspiration an. Sprachlich stellt sich die Erzählerin jedoch über ein Deutsch aus, das jenseits lektorierender Zensur durch grammatikalische und idiomatische Verwerfungen gekennzeichnet ist. Ihr Erzählen ist durch Stakkatosätze, Ellipsen, Aneinanderreihungen und Wiederholungen geprägt und integriert türkische Ausdrücke, Redewendungen, Witze und Sprichwörter, die teilweise direkt übersetzt und damit in verfremdeter Form ins Deutsche übertragen sind. Die Narration gibt sich [10|11]damit als mehrsprachiger Arbeitsprozess am Deutschen als interkultureller Literatursprache zu erkennen.
Die Erinnerungserzählung ist als Reihung von Episoden angelegt, die nicht selten mit pikareskem Gestus über den Entwicklungs- und Bewusstseinsstand des früheren Selbst Auskunft geben. Dabei enthält sich die Ich-Erzählerin weitgehend der Kommentierung oder Beurteilung der Lebensgeschichte ihrer Protagonistin und verzichtet auf Einfühlung in deren Seelenlage. Denn vergleichbar dem zeichenhaften Einsatz von Medien und Requisiten auf der Bühne verdeutlichen genaue Beobachtungen der Außenwelt sowie sinnliche Eindrücke und bildliche Vorstellungen inneres Geschehen. Geht es um tiefgreifende Emotionen wie Trauer oder Lust, so kippt lakonisches in märchenhaftes oder surreal-phantastisches Erzählen. Pointenhaft zugespitzte Sentenzen sind hingegen vorherrschend, wenn die Erzählerin mit ihrem früheren Selbst in ironisch-humoresker Weise in Dialog tritt. Häufig sind den szenischen Beschreibungen Sprachspiele eingelagert, um Entwicklungsstufen der Protagonistin zu verdeutlichen.⁴ Von daher liegt die Sprachkompetenz der Erzählerin nicht in der souveränen Verfügung über die deutsche Hochsprache, sondern im Vermögen, den sprachlichen Migrationsprozess durch kennzeichnende Artikulationsweisen und einen situationsadäquaten Ton zur Darstellung bringen zu können.⁵
So führt die Erzählerin in Özdamars Werk ein reiches Repertoire an sprachlichen Stilen und Registern ins Spiel, um sich in unterschiedlichen Lebens-Rollen zu performieren. Darüber hinaus aber erzählt sie auch davon, wie sich eben dieses Repertoire durch immer neue Inszenierungen von Sprache aufgebaut, erweitert und erneuert hat. Im »Sterne«-Roman, der sich durch dichte Sprach- und Theaterbeobachtungen auszeichnet, gestaltet die Erzählerin ihr Tagebuchschreiben als ein Zur-Sprache-Kommen. Doch die Gründungsszene des Erzählens geht bei Özdamar wie in einem analytischen Drama auf einen uneinholbaren Anfang vor der Sprache zurück, der doch nur in der Sprache zu haben ist.
Bereits zu Beginn des »Karawanserei«-Romans ist mit dem Gestus des unzuverlässigen Erzählens das Phantasma einer souveränen Position innerhalb des Erzählgeschehens theatral ausgestaltet. Denn aus der wiederholt gehörten Geschichte über die Zugfahrt ihrer hochschwangeren Mutter unter der Obhut von Soldaten entwickelt die Erzählerin eine surreale Szene, in der sie sich zur Protagonistin ihres Geborenwerdens macht. Dabei ist sie Beobachterin und Akteurin zugleich, wie auch ein Film vor ihrem inneren Auge verdeutlicht: »Ich fiel in Ohnmacht und bin erst an einem Augusttag wach geworden und habe sofort geweint. Ich wollte wieder ins Wasserzimmer rein und den Film mit den Soldaten weitersehen, der Film war zerrissen, wohin sind die Soldaten gegangen?« (K 11)⁶ Durch die Transformation der ihr überlieferten Geschichte in eine selbst erzählte gebiert sich das »Ich« als [11|12]Erzählerin selbst. Doch ist damit auch ein Riss angezeigt, da sich nun die Frage stellt, wie und vor allem in welcher Sprache weiter zu erzählen ist.
Erzählspiel
In ihrem weitgehend auf Deutsch verfassten Werk erschreibt Özdamar ihre ganz eigene Literatursprache, indem sie sich der Muttersprache aus Fremdsprachenperspektive zuwendet. So lässt sie ihre Ich-Erzählerin reflektieren, dass mit der Mutter eine stimmlich eingefärbte Sprache verbunden ist: »Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie in ihrer Mutterzunge gesagt hat, nur dann, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache.« (M 9)⁷ Die Erzählerin verweist mit der erinnerten Stimme und der fremd gewordenen Semantik ihrer Erstsprache auf ihre notwendige Trennung von überkommenen Werten. Denn die durch Nachahmung erworbene Sprache wird erst über das klangliche Affektregister der mütterlichen Stimme emotional zur »Muttersprache« kodiert. Erlernte Sprachbedeutungen amalgamieren mit affektiven Besetzungen und werden solcherart grundlegend für kulturspezifisches Wertebewusstsein. Unwillkürlich erwirbt das Kind beim Spracherwerb in Interaktion mit Bezugspersonen auch Erfahrungswissen darüber, wie sowohl Menschen und Dinge als auch Handlungen und Vorstellungen zu bewerten sind. Durch bestätigende Anerkennung und Belohnung erfüllter Verhaltenserwartungen übernimmt es damit auch kulturell verbindliche Werte mit der Sprache. Özdamar bringt solch unhinterfragte Wertorientierungen im Zeichen kulturellen Wandels durch literarische Sprachspiele in Bewegung, wie dies die körperbezogenen Inszenierungen der Erzählerin verdeutlichen.⁸
Im »Karawanserei«-Roman ist die Muttersprache durch emotionale Bindungen und die rege Phantasie der kindlichen Protagonistin geprägt. Elaboriert wird die familiäre Sprache durch Einflüsse anderer Sprachformen innerhalb der Türkei. Das Mädchen lernt von der Großmutter Gebete und Märchen und erfährt von der Mutter, dass die Sprachenvielfalt der Türkei im volkstümlichen Figurentheater bewahrt ist: »Im Schattenspiel gibt es Juden, Griechen, Armenier, Halbstarke, Nutten, jeder spricht einen anderen Dialekt, jeder ist ein anderes Musikinstrument, redet nach seiner eigenen Zunge und versteht die anderen nicht« (K 157). Nach einem Besuch beim Großvater in Anatolien erkennt sie Distinktionen zwischen Hoch- und Dialektsprache und kann die Mutter in Istanbul nicht mehr umarmen, weil »eine Mauer aus dem fremden Dialekt« (K 53) zwischen ihnen steht. Die Sprachmächtigkeit der in dialektaler Mehrsprachigkeit erfahrenen, adoleszenten Protagonistin verdeutlicht die Erzählerin durch die Wucht der Worte, mit denen diese ihr Fortgehen aus der Türkei Mitte der 1960er Jahre durch[12|13]setzt. Dabei wird der Abschied von der Mutter seitens der Erzählerin mit Allusionen an die griechische Tragödie inszeniert: »Ich hatte das Meer hinter meinem Rücken, seine Stimme mischte sich in meine und zog das Wort ›Gehen‹ in die Länge, als ob es der Chor dieses Wortes wäre.« (K 369