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GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor): postapokalyptischer Roman
GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor): postapokalyptischer Roman
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GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor): postapokalyptischer Roman

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About this ebook

Es geschieht, was die Welt am meisten fürchtet. Ein mutiertes Vogelgrippe-Virus (H5N1) löst eine weltweite Pandemie aus, die den Planeten verwüstet und die Menschheit fast ausrottet. Nur zwei Prozent der Weltbevölkerung überleben.
Eine sterbende Mutter weiß, dass ihr kleines Kind zu den wenigen gehört, die immun gegen das Virus sind. Was kann sie tun, um das Überleben ihres Kindes zu sichern, bevor ihr nahender, tragischer Tod eintritt?

Währenddessen trägt Graham das letzte Familienmitglied zu Grabe. Dem Rat seines Vaters folgend begibt er sich in die Wildnis, zur Blockhütte der Familie, und durchlebt dabei Triumphe und Tragödien. Wieder und wieder muss er sich anpassen, um zu überleben. Gerade als er das Gefühl hat, diese neue Welt endlich in den Griff zu bekommen, überrascht ihn die Nachricht, dass er nicht allein ist. Eine versteckte, aber verwundbare Gemeinschaft von Preppern (1) lebt in der Nähe. Wird er die Kraft haben, den Gefahren zu begegnen und zu überleben? Und noch wichtiger: Wird er in der Lage sein, die ihm Anvertrauten zu beschützen?

(1) "Prepper" bezeichnet Personen, die sich mittels individueller Maßnahmen auf jedwede Art von Katastrophe vorbereiten: durch Einlagerung von Lebensmittelvorräten, die Errichtung von Schutzbauten oder Schutzvorrichtungen an bestehenden Gebäuden, das Vorhalten von Schutzkleidung, Werkzeug, Waffen und anderem. Dabei ist es unwichtig, durch welches Ereignis oder wann eine Katastrophe ausgelöst wird. Viele Themen der Prepper überschneiden sich mit denen der Survival-Szene. [Quelle: Wikipedia]
LanguageDeutsch
Release dateJun 12, 2017
ISBN9783958351691
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    Book preview

    GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor) - A.R. Shaw

    Verlag

    Einführung

    Einige meinen, China habe bei der Entwicklung des H5N1-Virus lediglich beabsichtigt, einen Impfstoff zu kultivieren, wenngleich in dem Wissen um die katastrophale Gefahr für die eigene Bevölkerung, sollte das Virus außer Kontrolle geraten. Andere sagen, China habe das Virus nur aus finsteren Motiven entwickeln können, da sie es in einer waffenfähigen Form erschaffen hatten. Am Ende war es gleichgültig, was ihre Absichten gewesen sein mochten. Sie hatten ohne ausreichende Sicherheitsvorkehrungen mit Pandoras Box gespielt und das Virus entfesselt. Es traf nicht nur die Menschen in China. Angefacht wie ein Buschfeuer von einem starken Wind verbreitete es sich als Flächenbrand über die ganze Welt. Mehr als sechs Milliarden Menschen fielen dem Virus zum Opfer. Die zwei Prozent der Menschen, die überlebten und aus irgendeinem Grund immun waren, wurden zu Trägern des Erregers. Zum Virus selbst lässt sich lediglich feststellen, dass es als die China-Pandemie bekannt wurde.

    1| Schlimmer als der Tod

    Zitternd stand Hyun-Ok im prasselnden Regen des pazifischen Nordwestens. Sie musste einfach mit eigenen Augen sehen, welche Bedrohung von dem grauenhaften Mann in der Ferne ausging. Einmal hatte sie sein Gebrüll gehört, gefolgt von einem Gewehrschuss und einem schrecklichen, menschlichen Schrei. Sie hatte ihn bereits von der Kandidatenliste gestrichen. Er konnte ihr nicht helfen. Jetzt musste sie sichergehen, dass er keine unmittelbare Gefahr für sie und ihren Sohn darstellte.

    Mit todesstarrem Griff klammerten sich ihre Hände an die Seitenwände der Ladefläche des verlassenen schwarzen Pick-ups, hinter dem sie Zuflucht gesucht hatte. Entsetzt schnappte sie nach Luft, als der Wahnsinnige einen kleinen, völlig zerschrammten Radlader startete und sein Opfer mit der Schaufel aufhob. Noch lebendig und schreiend schüttete er es in das immense Feuer, das er den ganzen Tag in einem großen, stählernen Müllcontainer gefüttert hatte. Hyun-Ok trauerte still um den Unglücklichen, dessen Seele gerade als Funken himmelwärts stob.

    Sie schlich sich davon. Ihr gebrochenes Schluchzen ging in einen Hustenanfall über, der tief aus ihrer infizierten Lunge kam. Endlich erstarben die gequälten Schreie. Sie mussten unbedingt aus diesem Teil der Stadt verschwinden! Der Verrückte namens Campos hatte Schilder aufgestellt: ›Unbefugten ist der Zutritt verboten‹. Was er getan hatte, sagte ihr, dass er seine Warnung ernst meinte.

    Sie war die einzige Hoffnung ihres Sohnes. Sie hatte wenig Zeit, sein Überleben zu sichern. Mit jedem Tag schwächte die Krankheit Hyun-Ok mehr. Sie wusste, dass sie bald sterben würde. Aber sie durfte ihren fünfjährigen Sohn nicht sich selbst überlassen, schon gar nicht mit jemandem wie Campos in der Nähe. Nach tagelanger Suche war nur eine Person übrig geblieben, die infrage kam. Schon viel zu viel wertvolle Zeit und Energie hatte sie das gekostet. Schon bald musste Bang in Händen sein, die ihn beschützten.

    Der, an den sie dachte, hatte ohnehin noch ein Mitglied seiner Familie zu begraben. Die wenige Zeit, die ihr noch blieb, konnte sie genauso gut mit ihrem Sohn verbringen. Es hatte keine Eile mehr.

    So gut sie konnte, erholte sich Hyun-Ok von ihrem Hustenanfall und setzte ihren Heimweg fort. In der Stille der Nacht würde sie den Wald durchqueren, verborgen vor den wenigen verbliebenen Menschen. Seit sie erkannt hatte, dass ihr Sohn Bang keine Anzeichen der Viruserkrankung zeigte, war sie in jeder Nacht unterwegs gewesen.

    Ein geliebter Mensch nach dem anderen war unter ihren Händen gestorben. Bang war ihr nicht von der Seite gewichen. Zuerst hatte ihre alte Mutter gehen müssen, dicht gefolgt von ihrem Vater. Kurz darauf ihr Mann, obwohl er sich verzweifelt an das Leben geklammert hatte und nicht gewillt gewesen war, seine Frau und seinen Sohn aufzugeben.

    Bedeckt vom Schweiß des Fiebers und mit heiserer Stimme hatte ihm Hyun-Ok versichert, dass es seinem Sohn gut gehen würde. Sie hatte ihn gedrängt, sich fallen zu lassen ins friedliche Jenseits. »Ich werde bald bei dir sein, Liebster«, hatte sie gesagt, das Gesicht voller Tränen. So schwach, wie sie zu diesem Zeitpunkt schon gewesen war, hatten sie die Tränen überrascht.

    Die Zärtlichkeit und die Wahrhaftigkeit ihrer Worte hatten ihn aufgeschreckt. Sein Blick war von ihr zu seinem Sohn an der Seite des Bettes gesprungen. Unter großen Schmerzen hatte er sich aufgerichtet, um Bang ins Gesicht zu sehen. »Er darf auf keinen Fall allein und wehrlos sein in dieser verrückt gewordenen Welt!«

    Hyun-Ok hatte versucht, ihren Liebsten mit Worten zu trösten, während sie ihn sanft zurück auf das Kissen gedrückt hatte. Dann hatte sie ihm ihren Plan offenbart, wie sie ihren Sohn zu schützen gedachte. Er hatte sie beide fest an sich gedrückt und laut zu einem Gott mit tauben Ohren gebetet. Wie gerne hätte er seine Frau und seinen Sohn gleich mitgenommen. Dann hatte er sie leise für immer verlassen.

    Seitdem war gerade einmal eine Woche vergangen. Noch in jener Nacht, nachdem Bang eingeschlafen war, hatte sich Hyun-Ok auf den Weg gemacht und begonnen, die wenigen Überlebenden in ihrer Nachbarschaft auszukundschaften. In schwarze Kleidung gehüllt und den zahlreichen Gefahren trotzend hatte sie die anderen ausgespäht und sich allein auf ihren Instinkt verlassen, wenn es darum ging, sie einzuschätzen. Sechshundert Menschen hatten ursprünglich in ihrer unmittelbaren Umgebung in Issaquah, einem Vorort von Seattle, gelebt. Bei einer Überlebensrate von nur zwei Prozent musste es ungefähr zwölf Überlebende geben. Überlebende, die man jetzt nur noch als Träger bezeichnete. Sieben hatte sie gefunden.

    Die erste Person, auf die sie zwei Straßen weiter gestoßen war, hatte sie sofort ausgeschlossen. Sie war zu alt gewesen, um Beschützer eines Kindes von fünf Jahren zu sein. Die ältere Dame hatte ausgesehen, als habe sie höchstens noch ein Jahr vor sich, wenn überhaupt. Hyun-Oks Junge brauchte jemanden, der jünger war und ihn durch das Leben begleitete, zumindest bis er erwachsen war.

    Beim Anblick des Mannes, den sie als Nächstes fand, hatte sie ebenfalls kein gutes Gefühl gehabt. Sie hatte beobachtete, wie entgrenzt er um seine verlorene Familie trauerte. Im Dunkeln hatte er draußen auf der Veranda in einem Liegestuhl gesessen und Obszönitäten in die Nacht hinausgeschrien. Als ob er geradezu auf die hungernden Hunde, die inzwischen verwildert waren, wartete. Er hatte zwar auf sie geschossen, aber nur, um einen Angriff zu provozieren. Hyun-Ok hatte seinen abgrundtiefen Schmerz spüren können. Sie hatte die Ahnung beschlichen, dass er es darauf anlegte, zu Tode zerfleischt zu werden. Wenn ihm das nicht gelänge, würde er sich wahrscheinlich bald selbst das Leben nehmen. Wahrscheinlich ging es vielen Überlebenden ähnlich. Also suchte sie weiter.

    Als Nächstes hatte Hyun-Ok unbemerkt den Highway überquert und eine leicht bekleidete junge Frau gefunden, die auf einem verwaisten Grundstück Äpfel von einem Baum pflückte. Doch diese Frau würde die falsche Art Aufmerksamkeit erregen und wäre keine gute Wahl gewesen.

    Der Mann, den sie letztendlich ausgewählt hatte, war der Einzige, der ihr fähig schien, der Beschützer ihres Sohnes zu sein. Außerdem hatte er etwas an sich – entweder war es die Art, wie er seine große Gestalt bewegte oder die bedächtige Würde, mit der er seine Lieben begrub – das Hyun-Ok das Gefühl gab, dass sich der Nachbar namens Graham als beste Wahl erweisen würde. Sie spürte, dass sie ihm ihren Jungen anvertrauen konnte. Nach dem bevorstehenden Tod von Grahams Vater würde er niemanden mehr zu begraben haben. Dann würde sie ihren Jungen zu ihm bringen und sich auf ihre eigene Reise in den Tod begeben. Noch einen Tag durchhalten, dachte sie. Aber bis es soweit ist, muss ich ihm alles über Bang aufschreiben.

    Mit einem traurigen Lächeln durchstreifte sie das Labyrinth der geparkten Fahrzeuge. Aufmerksam lauschte sie allen Geräuschen, immer auf der Hut vor Gefahren. Ein letztes Mal warf sie einen Blick auf das glutrote Leuchten in der Ferne, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. Ihre letzte große Aufgabe bestand darin, Graham davon zu überzeugen, dass er den Jungen ebenso brauchte wie dieser ihn. Sie wusste, dass dies die größte Herausforderung sein würde. Sie musste ihn davon überzeugen, oder ihr Sohn war verloren.

    2| Gräber ausheben

    Der gebrechliche alte Mann streckte die Hand nach seinem Sohn aus. Voller Tränen ergriff Graham sanft die zitternden, faltigen Hände seines Vaters, der vor ihm im Sterben lag. Er spürte, dass sie sich jetzt so nah waren wie nie zuvor.

    Graham versicherte ihm, dass er es so machen würde, wie sie es besprochen hatten. Er würde das Gewehr zu allen Zeiten bei sich tragen. Mit ersticktem, rasselnden Husten erinnerte ihn sein Vater daran, dass Gott für ihn nicht vorgesehen hatte, sich das Leben zu nehmen. Das würde nur seelenloses Umherirren im Jenseits bedeuten. Zudem würde er nie wieder eins mit seiner verstorbenen Familie werden können.

    Er hatte die Zeichen in jüngster Zeit zu oft gesehen und wusste, dass das Ende seines Vaters nah war. Verzweiflung breitete sich in ihm aus, denn diesmal würde er allein zurückbleiben, ohne auch nur eine einzige vertraute Seele auf der Welt. Der keuchende, pfeifende Atem seines Vaters wurde kürzer, der Blick starr, und das Gesicht sank in sich zusammen. Grahams Verzweiflung über den bevorstehenden Verlust des Vaters wich dem Gebet um Gnade und ein schnelles Ende. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie sein Vater sich quälte. So wie sich auch diejenigen gequält hatten, die nun unter der Erde lagen. Einer nach dem anderen waren sie voller Schmerz und Trauer gestorben.

    Graham konnte einfach nicht begreifen, weshalb ausgerechnet er noch lebte. Hilflos hatte er mitansehen müssen, wie seine Frau Nelly starb und ihr ungeborenes Kind mit sich nahm. Dann hatte ihn seine geliebte Mutter verlassen, gefolgt von seiner Schwester und seiner vier Jahre alten Nichte. Und nun sein Vater.

    »Was soll ich ohne dich tun?«, fragte Graham.

    Sein Vater antwortete langsam: »Mache das, was ich dir beigebracht habe. Triff gute Entscheidungen auf deinem Weg und bereue nichts. Du wirst es schaffen. Und du sollst immer wissen: Ich bin stolz auf dich.«

    Graham wischte den Speichel von den Lippen seines Vaters und hielt seine Hand.

    Als der Tod endlich kam, wurde sein Vater ganz ruhig und sagte ein letztes Mal: »Ich liebe dich, mein Sohn.«

    Abgrundtief erschöpft von seiner schier endlosen Wacht rieb sich Graham das Gesicht. Vor Frust, Angst und Trauer liefen ihm die Tränen über seinen hellbraunen Backenbart. Er hatte sich nicht mehr rasiert, seit die Welt zusammengebrochen war, und es war ihm egal, ob er sich jemals wieder rasieren würde. Nahrung und sogar die Luft, die er zum Atmen brauchte, hatten jegliche Bedeutung für ihn verloren. Er hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte ohne die Kraft und Orientierung, die ihm sein Vater gegeben hatte. Er weinte um ihn, wie er um die anderen vor ihm geweint hatte.

    Nach dem allerletzten, rasselnden Schluchzen seines Vaters holte Graham tief Luft. »Reiß dich zusammen«, hätte sein Vater streng gesagt. Er beschloss, sich daran zu halten. Jetzt war er das Oberhaupt des Clans, und er würde weitermachen, als ob noch eine Familie existierte, die es zu beschützen galt.

    Auch wenn es diesmal so schwer werden würde wie nie zuvor – er musste nur noch ein letztes Grab auszuheben. Es war ein schwacher Trost, aber für den Moment musste er genügen. Alle, die er jemals gekannt hatte, lebten nicht mehr: seine komplette Familie, alle Freunde, alle Bekannten. Vom einfachen Bettler bis zum reichsten Konzernlenker war keine soziale Schicht verschont worden. Sogar der Präsident war gestorben. Diese Pandemie praktizierte wahrhaft Chancengleichheit. Rassismus oder die Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Schichten ließ sich ihr jedenfalls nicht vorwerfen.

    Nur das schattige Morgenlicht leuchtete über ihnen, als sich Graham über die blau geäderten Augen des Mannes beugte, den er liebte und bewunderte. Dann schloss er diese Augen für immer.

    »Auf Wiedersehen, Dad«, flüsterte er und küsste ihn auf die Stirn. Mit geübten Bewegungen wickelte er die Ränder des weißen Bettlakens langsam um den Körper seines Vaters. Dann verließ er leise das Zimmer.

    ***

    Sein Vater hatte Graham um einen Platz zwischen den anderen vier Gräbern im preisgekrönten Rhododendrongarten seiner Mutter gebeten. Auf der einen Seite lagen seine Mutter und Nelly, auf der anderen seine Schwester und seine Nichte. So hatte es sein Vater gewollt, »zum Schutze der Ladys«, wie er gesagt hatte. Graham war von Anfang an klar gewesen, dass sein Vater, der immer ein Gentleman gewesen war, bis zum Ende durchhalten und sich erst nach den Damen des Hauses verabschieden würde.

    Jetzt im Oktober ließ es sich im weichen Lehmboden noch leicht graben, aber bald würde es kalt werden. Der herbstliche Regen war oft dicht und lang anhaltend, doch an diesem Morgen regnete es in Strömen. Er würde warten müssen.

    Graham fürchtete diese letzte Aufgabe fast so sehr, wie er sich davor gefürchtet hatte, seine geliebte Nelly zu beerdigen. Er ließ sich in den Sessel seines Vaters fallen und schluchzte unkontrolliert. »Was soll ich jetzt machen?«, schrie er, nahm sein Wasserglas und schleuderte es quer durch den Raum. Es zerschellte an der Wand.

    Aber die Antwort hatte er bereits. Sein Vater hatte ihn darauf verpflichtet, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Graham erinnerte sich daran, aber fragte laut: »Wozu?« Er schluchzte weiter, frustriert von den unbeantwortet bleibenden Fragen.

    Er verließ das Schlafzimmer, ging ans Fenster im Esszimmer und spähte hinaus in den Garten seiner Mutter. Er sah die verblichenen Blätter der Rhododendronbüsche. Die Erinnerung an ihre Frühlingsblüten ließ den Wunsch in ihm aufkommen, er könne seine Trauer irgendwie mit Nelly teilen.

    Nachdem die Pandemie ausgebrochen war, hatte er sich mit seiner Frau in das abgeschiedene Haus seiner Eltern geflüchtet. Hauptsache weg von dem Chaos, das in Seattle ausgebrochen war. Vergeblich hatte man versucht, das Virus mit Quarantänemaßnahmen unter Kontrolle zu bekommen. Nelly konnte nicht länger als Lehrerin arbeiten, und Grahams Job als Mathematikprofessor existierte nicht mehr. Das einzig Sinnvolle war gewesen, so schnell wie möglich ihre Wohnung in der Stadt zu verlassen. Die Entscheidung war endgültig gefallen, als eines Nachts Schüsse knallten, die ihn aufschrecken und seine schwangere Frau schützend an sich ziehen ließen. Am nächsten Morgen hatten sie erfahren, dass die Nachbarn wegen ihrer Lebensmittelvorräte ermordet worden waren. Aus Furcht, Nelly und er könnten die nächsten sein, hatten sie das Auto vollgepackt und die Stadt verlassen.

    Während die Weltbevölkerung ausstarb, gingen die Menschen aufeinander los. Frische Lebensmittel wurden unendlich wertvoll. Selbst die Vorräte an Konserven gingen zur Neige. Diejenigen, die immun waren, beraubten die Lebenden. Alle suchten verzweifelt nach den schwindenden Nahrungsmittelreserven. Die Supermärkte wurden schon lange nicht mehr beliefert. Die vergeblichen Versuche der lokalen Behörden machten alles nur noch schlimmer. Mit Straßensperren sollten die Infizierten aus ihrem Gebiet herausgehalten werden, wodurch die Bewohner zu Gefangenen in ihren eigenen Gemeinden wurden.

    Graham war von einem Vater großgezogen worden, der im Marine Corps gedient hatte. Dennoch war er davon überzeugt, dass der Besitz von Waffen streng reglementiert werden musste. Er fand, dass der allzu einfache Zugang zu Schusswaffen maßgeblichen Anteil an den zahlreichen Amokläufen an Schulen hatte. Graham war auch gegen die Kriege, die Amerika in aller Welt führte. Diese Ansicht verstärkte sich noch an den liberal gesinnten Schulen und Universitäten, die er besucht und an denen er schließlich gelehrt hatte.

    Graham liebte und lebte die Kultur und die Ideale des pazifischen Nordwestens, in dem er aufgewachsen war. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater und seiner Mutter, die ihre Sicht auf die Dinge stets für sich behalten hatten. Sie hatten weder öffentlich für eine Seite Partei ergriffen noch darauf gedrängt, dass die Kinder ihre Ansichten übernahmen. Sie wollten, dass Graham unabhängig und stark wurde in dieser unruhigen Welt.

    Obwohl Grahams Vater darauf bestanden hatte, ihm schon in sehr jungen Jahren das Jagen beizubringen, hatte er nie eine eigene Waffe besessen. Sein Vater hatte oft versucht, ihn zu überzeugen, zum Schutz eine Pistole bei sich zu führen, zumal Graham verheiratet war und in einer zumindest nach Meinung seines Vaters gefährlichen Gegend lebte. Doch Graham hatte sich immer geweigert und im Gegenzug sogar versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, dass diese Denkweise überholt war und jede Situation friedlich bereinigt werden konnte.

    Sein Vater hatte das immer bezweifelt. Seine Erfahrungen besagten das Gegenteil. Während ihm die Haltung seines Sohnes weiter Sorgen machte, brachte er ihm im Laufe der Jahre wie selbstverständlich die Fähigkeiten bei, die es zum Überleben brauchte. Er wollte den Jungen vorbereitet wissen, unabhängig von persönlichen Idealen und politischer Zugehörigkeit. So verbrachten sie viel Zeit in der Wildnis. Sogar wenn sie in der Blockhütte der Familie Urlaub machten, brachte er seinen Sohn listig dazu, zu lernen. Vordergründig hatte er ihm alles beigebracht, was er über die Jagd und das Campen im Freien wusste, aber im Hintergrund waren es tatsächlich zahlreiche Überlebenstechniken gewesen, die er seinen Sohn gelehrt hatte.

    Merkwürdigerweise hatten sie manchmal die alte Hütte erreicht, die im Laufe der Jahre mit fließendem Wasser und Strom nachgerüstet worden war, nur um festzustellen, dass beides nicht verfügbar war. Dann hatte ihm sein Vater gezeigt, wie man die Solaranlage aufbaute, um Strom zu gewinnen, und wie sich das Wasser aus dem nahe gelegenen See sterilisieren ließ. Er hatte ihm das Jagen beigebracht und ihm gezeigt, wie man die Beute zerlegte und das Fleisch über dem offenen Feuer zubereitete. Jetzt erst begriff Graham, wie klug und entschlossen der alte Mann dabei vorgegangen war.

    Bevor alles zusammenbrach, waren Nelly und Graham glücklich gewesen. Sie hatten ein gutes Leben geführt. Erst kurz vor dem Weltuntergang hatten sie ihren zweiten Hochzeitstag gefeiert. Sie liebte es, zu planen und Listen aufzustellen. Wenig überraschend hatte sie ihrer beider Zukunft ganz genau vorgezeichnet.

    Meist war Graham als Erster zu Hause und bereitete das Abendessen zu. Einmal hatte eine heftige Erkältung Nelly geplagt, sodass er sich entschlossen hatte, ihr so gut er konnte ihre Lieblingssuppe mit Wurst und Kohl nachzukochen, die sie beide so gern in dem italienischen Restaurant um die Ecke aßen. Er war erschrocken, als er sie an jenem Abend zu Hause vorgefunden hatte, früher zurück von der Arbeit als sonst. Zusammengekauert hatte sie weinend auf ihrem Bett gehockt. Sie neigte sonst nicht zu Weinkrämpfen, also musste etwas Schreckliches passiert sein. Er hatte sich zu ihr hinuntergebeugt, um sie zu trösten. Sie hatte ihn abgewehrt, sich aufgesetzt und ihn angestarrt. »Ich bin schwanger!«, hatte sie herausgeplatzt, das Gesicht tränenüberströmt.

    »Du bist was?«, hatte er verblüfft erwidert.

    »Ich bin schwanger. Wir bekommen ein Baby, und es ist viel zu früh! Es ist nicht Teil des Plans. Jetzt wird es nichts mehr mit meinem Master.«

    Er hatte sie an sich gezogen, obwohl sie dagegen ankämpfte, und sie auf ihre nassen Lippen geküsst. »Du machst dich verrückt, Nelly. Wir bekommen ein Baby! Alles wird gut werden. Ich liebe dich!«

    Aber nichts war gut gegangen. Kurz darauf war die Pandemie ausgebrochen und hatte Nelly und ihr ungeborenes Kind mitgenommen.

    Jetzt, wo er ganz allein war, fragte er sich, wie viele in der Nachbarschaft noch am Leben waren und wie viele von ihnen, wie es sein Vater warnend genannt hatte, »böse Absichten« hatten.

    Der prasselnde Regen war zu einem dichten Dauernieseln geworden. Er holte Regenmantel und Schaufel aus der Garage und griff nach dem Gewehr neben der Tür. Das Gewehr bei sich zu tragen fühlte sich für Graham inzwischen so selbstverständlich an, wie wenn man einen Schlüsselbund bei sich trug. Jedes Mal, wenn er nach draußen ging, hängte er es sich über die Schulter, und im Haus behielt er es stets in unmittelbarer Nähe. »Immer und überall«, so wie es sein Vater verlangt hatte.

    Graham wusste, dass die Zeit gekommen war. Seine Kehle schnürte sich zusammen, während er versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Draußen zwischen den Rhododendronbüschen lehnte er das Gewehr in Griffreichweite an die Gartenhütte. Der Wind frischte auf. Er stand da und lauschte. Sein Vater und er hatten sich das früh zur Gewohnheit gemacht. Der Akt des Zuhörens war zu einem Überlebensritual geworden. Die Umgebung sollte mit vertrauten Geräuschen gefüllt sein, und wenn diese völlig fehlten, konnte das nur Ärger bedeuten. Doch nur sehr wenige vertraute Geräusche waren übrig geblieben.

    Kein Zug war in der Ferne zu hören, kein Flugzeug am Himmel. Keine Rasenmäher, keine quietschenden Keilriemen von Autos, kein permanentes Rauschen der Interstate 90, die sich durch die Stadt zog. Das Plaudern der Nachbarn und spielender Kinder waren nur noch Erinnerungen. Aber es waren genau diese Geräusche, die Graham vermisste.

    Oft löste das, was er hörte, instinktiv seine Kampfbereitschaft oder seinen Fluchtreflex aus. Das Heulen eines Wolfes, das Knurren und Bellen der verwilderten Hunde, die sich um erlegte Beute stritten. Entferntes Gewehrfeuer. Gelegentliche Schreie, die allerdings in den vergangenen Tagen seltener geworden waren. Mit diesen Gedanken lenkte sich Graham ab, während er sich über den eingeweichten Lehmboden neben dem frisch aufgeschütteten Grab seiner Mutter beugte. In ihm hallten die Echos einer Welt, die still geworden war.

    Schweiß tropfte von seiner Nase, während er mit aller Macht schaufelweise Erde hinter sich warf. Die Arbeit bot ein willkommenes Ventil für seine Wut und seinen Schmerz. Immer wieder rammte er die Schaufel in den Erdboden. Den Schmerz in Rücken und Schultern ignorierte er.

    Dann vermochte er es nicht länger auszublenden. Als die Erinnerung in ihm hochkam, wie sich sein Vater und er an genau dieser Stelle den Baseball zugeworfen hatten, brach er zusammen. Er ließ die Schaufel fallen und ging er auf dem nassen Gras in die Knie. »Nein, das kann nicht wahr sein!«, schrie er und richtete sein Gesicht in den Himmel.

    In diesem Moment nahm er aus dem Augenwinkel eine graue Gestalt wahr, gleich neben dem Berberitzenstrauch. Sie war so unscheinbar, dass er sie beinahe übersehen hätte. In einer fließenden, schnellen Bewegung griff er sein Gewehr und verfluchte sich dafür, sie nicht früher gesehen zu haben.

    Graham legte an und zielte. Die Trauer schürte seinen Zorn. »Komm zurück! Ich schieße!« Die Gestalt versuchte, leise um die Ecke des Hauses herum in den Hintergrund zu entschlüpfen. Aber er wusste, dass sie dort war. Er konnte ihre Anwesenheit spüren, hatte aber keine Ahnung, wer oder was es sein könnte.

    »Hier gibt es nichts zu holen, also verschwinde bitte«, ergänzte er, nun etwas ruhiger.

    Dann signalisierte ein unterdrücktes Husten, dass tatsächlich jemand hinter der Ecke war. Graham war sich sicher, dass das Geräusch nicht seiner Fantasie entsprang. Er bewegte sich einige Schritte seitwärts, um den verdeckten Raum einsehen zu können. Dabei zielte er unablässig in Richtung der Person, die es wagte, ihn in seinem privaten Schmerz zu stören.

    Eine dünne, weibliche Silhouette wurde sichtbar. Die Kapuze ins Gesicht gezogen stand sie gegen das Haus gelehnt da. Sie beugte sich nach vorne in dem vergeblichen Versuch, den Hustenanfall zu unterdrücken. Als der Husten nachließ, hob sie den Kopf und sah Graham mit starrem Blick an. Ihre Augen flehten, während sie die Hände hob, um zu zeigen, dass sie nichts Böses im Schilde führte.

    Die zerbrechlich wirkende Frau humpelte nach vorne, stoppte und hob erneut die Hände. Graham konnte die Zeichen der Krankheit sehen, die sie schon deutlich geschwächt hatte. Nachdem sie noch ein paar Schritte näher gekommen war, erkannte er, dass kaum noch eine Stunde Leben in ihr war. Ihr Gesicht zeigte all die Zeichen, die er schon kannte. Allein die Tatsache, dass sie es schaffte, vor ihm zu stehen, kam einem Wunder gleich. Der nicht enden wollende Husten schüttelte ihren ganzen Körper. Graham näherte sich ihr bis auf fünfzehn Fuß und senkte den Lauf seiner Waffe. Sein Blick begegnete ihren bittenden Augen, wohl wissend, dass jeder Atemzug ihr letzter sein konnte.

    Sie muss eine der Letzten sein, die am Virus erkrankt sind, aber noch leben. Jedoch nicht mehr lange.

    »Ich bin Hyun-Ok«, flüsterte die Frau mit kaum hörbarer, rasselnder Stimme. Sie deutete vage hinter sich. »Das ist mein Sohn Bang.«

    Graham stolperte einige Schritte zurück und hob die Hand. Er wusste sofort, was sie von ihm wollte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mich um niemanden kümmern.«

    Sie schleppte sich einige Schritte vorwärts und flehte ihn an: »Ich habe Sie beobachtet. Sie sind ein guter Mann. Bitte, Sie sind der Einzige, der in Frage kommt. Er ist immun, wie Sie.«

    Bevor Hyun-Ok mehr sagen konnte, stolperte sie auf der geschotterten Einfahrt, fiel auf die Knie und begann wieder zu husten. Der Junge rannte an ihre Seite.

    Überrascht, ein so kleines Kind zu sehen, hängte sich Graham das Gewehr über die Schulter und kam einige Schritte näher. Er hatte sich noch nie von der Gefahr abschrecken lassen, dass das Virus ihm gefährlich werden könnte. Verdammt, er hatte sogar versucht, sich anzustecken, nachdem Nelly gestorben war.

    Graham hob den kleinen, schmalen Körper der sterbenden Frau auf und trug sie in seinen Armen. Der Junge beobachtete jede seiner Bewegungen und blieb dicht hinter ihm, als er zum Haus zurückging.

    Nur wenige Optionen blieben. Er konnte nicht dabei zusehen, wie die Frau in seiner Einfahrt starb, schon gar nicht mit ihrem Kind in der Nähe. Sein Vater hätte das vermutlich ebenso wenig zugelassen. Mit einer freien Hand öffnete er die Glasschiebetür, während die Frau weiter in seinen Armen huste. Den Jungen konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass er hinter ihm stand. Er legte sie auf das Sofa im Wohnzimmer und hörte, wie der Junge die Tür zuschob. Graham nahm die rote Blumensteppdecke seiner Mutter von der Rückenlehne und legte sie über die kleine Frau.

    Er sah zu, wie der Kleine zu seiner Mutter stürmte. Sie griff nach ihm, und sobald sie sich wieder etwas unter Kontrolle hatte, ergriff sie auch Grahams Hand. Mit verzweifeltem Blick sah sie ihn an.

    »Bitte, Graham, Sie müssen ihn zu sich nehmen, es gibt sonst niemanden«, sagte sie.

    Er fragte sich, woher sie seinen Namen kannte. »Ich hole Ihnen etwas Wasser«, sagte er und versuchte, dem Gespräch auszuweichen. Ihm war bewusst, wie grausam und hilflos sie sich in ihrer Lage fühlen musste, wohl wissend, dass sie ein kleines Kind in dieser neuen Welt allein zurücklassen würde.

    »Nein, es bleibt nur noch sehr wenig Zeit«, murmelte sie. »Bitte keine Umstände.«

    In diesem Moment tat sich Graham nicht mehr so leid wie noch gerade eben. Er wusste, dass der Junge in einer viel übleren Lage war. Und trotzdem. Er fühlte sich nicht bereit, für ihn die Verantwortung zu übernehmen.

    Bevor Hyun-Ok weitersprach, legte sie die kleine Hand ihres Sohnes in die von Graham. »Sie brauchen ihn ebenso sehr, wie er Sie braucht. Bitte nehmen Sie ihn auf«, fuhr sie weinend fort.

    Graham ertappte sich dabei, wie er nickte, während ihm ihre Verzweiflung immer bewusster wurde. Jede Sekunde würde sie genau dort auf dem Sofa vor den Augen ihres Sohnes sterben. Er konnte kein neues Leid ertragen. Er gab nach.

    »Ich werde ihn zu mir nehmen. Ich werde mich um ihn kümmern.«

    Damit sie in Frieden gehen konnte, hob er das Kind auf das Sofa neben seine Mutter. Als der Junge laut zu weinen begann, brach Grahams Stimme. »Alles ist gut. Ich verspreche, gut auf ihn aufzupassen.«

    Graham wollte ihr unbedingt dieses Geschenk machen. Er hatte nichts tun können, als er seine geliebte Familie verloren hatte, aber er konnte zumindest dieser Fremden Frieden geben. In ihrem letzten Moment wollte er ihr zeigen, dass es noch Menschlichkeit gab. Er vermisste die Güte der Lebenden.

    Hyun-Ok sah zu ihm auf. Auf ihrem Gesicht lag die gleiche Ruhe, die Graham am frühen Morgen auf dem Gesicht seines Vaters gesehen hatte. Ihr Gesicht wurde weich. Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab, während sich ihre Augen von Graham auf ihren Sohn richteten. Sie blinzelte die Tränen weg, ihr Lächeln verschwand, und ihr Mund klappte auf. Der Funke des Lebens war verloschen, einfach so. Sie hatte den Übergang von dieser Welt in die nächste mit geborgter Zeit vollendet.

    Graham ließ seinen Blick ein paar stille Momente auf ihr ruhen. Er hörte, wie ein leiser, erstickter Schrei tief aus dem Jungen kam. Zusammengekauert blieb er neben seiner Mutter liegen. Graham verstand seine Trauer. Auch der Junge hatte zu viel Tod gesehen, und das viel zu früh in seinem Leben. Er strich dem Jungen über den Kopf, der sich an seine Mutter klammerte und weinte.

    Sanft schloss er Hyun-Oks Augen und legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Alles wird gut«, sagte er. Der Junge stieß ihn weg und hielt sich an seiner Mutter fest.

    Graham ging einen Schritt nach hinten. Er schüttelte den Kopf und verfluchte sich für das Versprechen, das er gerade gegeben hatte. Er ging aus dem Zimmer und ließ den kleinen Jungen zurück. Nun gab es ein weiteres Grab, das er vor Sonnenuntergang auszuheben hatte.

    3| Im Dunkel vor dem Morgengrauen

    Graham hob das Grab der toten Frau unmittelbar neben dem seiner geliebten Nelly aus. Er mochte den Gedanken, dass die beiden in der Welt der Lebenden gut miteinander ausgekommen wären. Beide hatten sie Kinder geliebt, und er wollte nicht, dass diese tapfere kleine Frau allein war. Es fühlte sich einfach richtig an.

    Erschöpft lief Graham zum Haus zurück. An der Tür stampfte er den Schlamm von den Stiefeln. Der Junge lag noch immer an der Seite seiner Mutter. Graham wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Was ist, wenn ich ihn nicht dazu bringen kann, sich von seiner Mutter zu lösen?

    Er ging zu dem Jungen und schüttelte ihn wach. Augen wie die seiner Mutter, aber rot umrandet, sahen zu ihm auf.

    »Na, mein Junge, wie heißt du noch mal?«, fragte Graham. Der Junge zögerte.

    »Also, ich bin Graham. Und wie heißt du?«

    »Bang.«

    Graham war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Wie bitte?«

    »Bang!«, rief der Junge und warf sich weinend auf den Bauch.

    »Komm schon, Bang, ich brauche deine Hilfe«, sagte Graham.

    Der Junge schloss die Augen und vergrub sein Gesicht an der Seite seiner Mutter.

    »Nun komm schon. Wir haben viel zu tun«, beharrte Graham. Er zog ihn von seiner Mutter weg und vom Sofa herunter. Bang schrie, trat um sich und landete dabei einen Glückstreffer gegen Grahams Schienbein.

    »Verdammt noch mal, Kind!« Er hielt Bang am Arm fest und zog den tretenden und schreienden Jungen in das Zimmer seines Vaters.

    »Sieh dort hin!«, rief Graham über das Schreien hinweg und deutete auf seinen toten Vater. Der Junge wurde ruhiger und blickte Graham entsetzt an. Seine Augen waren nass, seine Nase lief. Bang versuchte, mit dem Schniefen aufzuhören.

    »Wir müssen ihn begraben, und danach werden wir deine Mutter beerdigen«, sagte Graham mit strenger Stimme. »Aber dazu brauche ich deine Hilfe.«

    Er ließ den Arm des Jungen los, und Bang griff nach dem Laken, in das der Tote gewickelt war. Graham nahm einen tiefen Atemzug.

    »In Ordnung, Dad, los gehts«, sagte er und brachte seine Arme unter den leblosen Körper, der bereits zu erstarren begann. Er ließ sich leichter heben, als erwartet. Graham hielt seinen Vater fest an seine Brust gedrückt.

    »Komm«, sagte er zu dem Jungen. Vielleicht half es, ihm etwas zu tun geben, damit er beschäftigt war. Bang folgte ihm nach draußen. Im Garten hielt Graham für einen Moment inne und vergrub sein Gesicht an der Schulter seines Vaters. »Es tut mir so leid, Dad«, sagte er und wünschte, er könnte

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