Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Konsul in Belgrad
Konsul in Belgrad
Konsul in Belgrad
Ebook317 pages4 hours

Konsul in Belgrad

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Bora Ćosićs schelmisch-nachdenkliches Buch umfasst die Zeit zwischen 1937, als er mit seinen Eltern nach Belgrad zieht, und Anfang der 1990er-Jahre, als der Protagonist die Stadt, angewidert vom Nationalismus seiner Landsleute, wieder verlässt.
Ganz im Einklang mit seiner selbst gewählten Rolle als Konsul blickt der Autor mit der Distanz eines Fremden abgeklärt und sprachlich virtuos auf Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben zurück. Er erzählt von der deutschen Besatzung, dem Sozialismus unter Tito, vom Leben als Bohemien inmitten eines faszinierenden intellektuellen Biotops, mit Akteuren wie Ivo Andric, Georges Perec, Danilo Kiš,
Bogdan Bogdanović und anderen, bis herauf in die Neunzigerjahre, als der "Konsul" "demissioniert".
LanguageDeutsch
PublisherFolio Verlag
Release dateAug 30, 2016
ISBN9783990370605
Konsul in Belgrad

Related to Konsul in Belgrad

Titles in the series (29)

View More

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Konsul in Belgrad

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Konsul in Belgrad - Bora Cosic

    Strafe

    Ich war nie im diplomatischen Dienst. Demnach bin ich nicht imstande, neue Embahade zu schreiben. Doch weil ich schon lange außer Landes lebe, denke ich über meine ehemalige Heimat wie über eine weit entfernte Gegend, wo ich ziemlich lang meinen Dienst versehen habe, und für das Land wiederum bin ich, wie sich herausgestellt hat, ein Ausländer geblieben. Dies sind also meine Erinnerungen, die Aufzeichnungen eines Ausländers, der sich im eigenen Land als Fremder aufgehalten hat. Deshalb können die Personen, die hier vorkommen, obwohl sie real sind, wie Puppen in einem Panoptikum und wie Marionetten in einem Theater über längst vergangene Ereignisse in Europa wirken. Wie wenn ein alt gewordener Diplomat seine Begegnungen mit allen möglichen Helden der Geschichte, den handelnden Personen einer Komödie, einer historischen, reproduziert. Die meisten von ihnen sind tot, und die anderen, die noch am Leben sind, betrachten mich als Toten. So beginnt meine Chronik, meine Embahade der gewöhnlichen Leute, der Belgrader, in den Jahren zwischen 1937 und der Endphase meines Lebens dort, als das jugoslawische Reich, das sozialistische, Anfang der Neunzigerjahre, zu zerfallen begann.

    Das Erste, womit mich Belgrad empfing, als ich, ein fünfjähriger Junge, dorthin zog, waren die Leuchtreklamen auf den Terazije, besonders eine, die für eine wundertätige Flüssigkeit zur Körperpflege, Alga, warb. Diese war animiert und sonderte aus ihrem elektrischen Bauch Bläschen ab, ebenfalls elektrisierte, die in die Nacht hinaufstiegen. Sofort verstand ich, dass es in dieser angenehmen Stadt, die, wie ich nachträglich finde, Dublin gleicht, wichtig war, den Körper zu pflegen, den eigenen wie auch den von Fremden. Überhaupt glich Belgrad 1937 im Vergleich zu Zagreb, wo ich geboren war, einer Stadt des Lichts, nicht nur wegen der riesigen Reklamen über den Häusern, sondern überhaupt. Ein Leben schien zu beginnen, das außen beleuchtet, aber auch innen von Lichtstrahlen erfüllt war. Belgrad mit seinen Straßenbahnen, dem Springbrunnen auf dem zentralen Platz, den kleinen Rondellen darum herum, mit dem riesigen Kalemegdan-Park, dessen Treppen, verborgenen Winkeln und den für ein fünfjähriges Geschöpf faszinierendsten Tennisplätzen, angelegt zwischen den alten Mauern der österreichisch-ungarischen Festung. Dorthin nahm mich meine Mutter auf unseren vormittäglichen Spaziergängen mit, als hätten wir uns in ein Zauberland begeben; plötzlich hörte die Knez-Mihajlova-Straße auf, wir betraten einen Wald mitten in der Stadt, seine geheimen Wege und verborgenen Ecken, eine gewöhnliche, aus Häusern gemachte Stadt verwandelte sich in eine Galerie mit impressionistischen Bildern, in ein Museum gemalter Landschaften, nicht in einen realen Raum und eine reale Umgebung. Im zentralen Teil der Promenade, etwas ähnlich der, die ich später im Jardindu Luxembourg in Paris sah, waren um ein Denkmal, das den Kampf eines Fischers mit einer Schlange darstellt, Stühlchen angeordnet, für die ein grün gekleideter Beschäftigter von den Besuchern Geld kassierte. So sah ich, dass dies ebenfalls ein Theater oder Kino war, in dem nichts Besonderes gezeigt wurde außer dem, was sich um uns herum befand, Bäume, Rasen, Pfade, spazierende Mädchen, Kinder mit Bällen. Ein Gebiet, das mir sagte, dass es neben den ernsten Lebensumständen auch so etwas gab, einen Park, Erholung, Lethargie, den ewigen Sommer des Nichtstuns.

    Ich fühlte mich, als wäre ich in einer Mission, einer diplomatischen, in diese Zeit gekommen. Als hätte mich meine Zagreber Kindheit mit dem Mandat beauftragt, dem des Lebens, das in Belgrad fortgesetzt werden sollte. Damit ich später über alles, was ich dort beobachtet habe, einen Bericht für das Außenministerium meines Schicksals verfasse: wen ich getroffen habe, mit wem ich gesprochen habe und worüber. Das zog sich sehr in die Länge. Und es ergab sich, dass ich mein ganzes Leben im selben Mandat, in Belgrad, zugebracht habe und erst jetzt, wo es aufs Ende zugeht, dazu komme, über alles zu berichten. Obwohl dort, in dem Ministerium, wo man möglicherweise auf mein Zeugnis wartet, schon alle verstorben sind. Dann ist das, was ich als meine Beobachtungen, meine konsularischen, vorbringen möchte, womöglich ein Reden in den Wind. Wie jedes Reden nach einer gewissen Zeit genau das ist, ein Reden in den Wind und sonst nichts. Weil mein Mandat, mein Belgrader, in frühen Jahren begonnen hat, wird das ganze Geschreibsel außerdem unvermeidlich, zumindest am Anfang, etwas Kindisches an sich haben. Nur dass auch jede andere schriftliche Mitteilung und viele Depeschen, die ein Diplomat in der ernstesten Absicht verfasst, oft gerade diesen Zug haben, den der kindlichen Hoffnung, dass passieren wird, was der Berichterstatter erwartet. Doch in der Geschichte geschieht meist das Gegenteil des Vorhergesehenen. Das ist der allgemeine Sinn des historischen Gangs, sowohl des staatlichen als auch meines persönlichen, der mich interessiert, meines familiären, völlig subjektiven Laufs.

    Wie begann früher ein Lebensabschnitt in einer neuen Stadt, wie auf einem neu entdeckten Planeten? Das Grüppchen, Vater, Mutter und kleines Kind, ist angereist, ist direkt vom Bahnhof an die vereinbarte Adresse gekommen, dort erwarten es zwei leere Zimmer in der Wohnung von Vaters Freund, dann müssen noch ihre Sachen geliefert werden, Holzwaren, Bettwäsche, die Kiste mit den Tellern und Tassen. Als würde eine Welt im Kleinen erschaffen, hat der Demiurg für die elementaren, lebensnotwendigen Gegenstände gesorgt, man muss sie nur im Raum verteilen, wie auf einem Brachfeld: Wenn das erledigt ist, wird es aussehen, als hätten wir unser Haus dort errichtet, unser Heim.

    Die Ankunft in Belgrad wirkte, als wären Schiffbrüchige an einem unbekannten Ufer gestrandet, die kleine dreiköpfige Familie war die einzige Besatzung des strapazierten Kahns unseres damaligen Zustands, die Insel war die Carice-Milice-Straße, der erste Felsen der Stadt, auf den wir gestoßen waren. Weil die Urzimmer unseres Wohnens, in Belgrad, leer waren, hallte, was irgendwer von uns sagte, wie in einer Kathedrale. Wir packten unsere paar Kisten aus, allmählich kam der Teil der alten Welt zum Vorschein, der in den neuen hinüberwachsen sollte, als hätte die Saat unseres vorherigen Daseins die Keime für die Pflanze einer neuen Zeit ausbilden müssen. Und ich, als jüngstes Besatzungsmitglied, hätte auf dem Wipfel des neu gewachsenen Baumes sitzen und von ihm aus die Umgebung und die Menschen in der Nähe beobachten müssen. Dabei bin ich die ganze Zeit geblieben, beim Beobachten eines Jahrhunderts und der Geschehnisse, die sich in seinem Lauf abspielten.

    Eine begabte Künstlerin unserer Zeit kam auf die Idee, dass man die Weltmalerei noch einmal malen könnte. Vor allem die Gemälde, die Stimmungen von Menschen darstellen, in den Zimmern, Wohnungen, Häusern ihres Lebens. Und so malte sie noch einmal das bekannte Zimmerchen von van Gogh, einen schmalen Raum mit einem Bett, einem Strohstuhl, einem Tischchen, das vor dem Fenster stand. Nur dass unsere Zeitgenossin in ihrer Darstellung all diese Dinge aufs Bett geladen hatte, als müsste der Rest des Zimmers geputzt werden oder als wäre der Bewohner unverhofft abgereist, womöglich gestorben. Ich denke bereits zu Beginn dieses Buches, es könnte ebenfalls im Geiste dieses Mädchens geschrieben werden, welches die Absicht hatte, menschliche Schicksale, längst vergangene, umzuordnen. Und so scheint, als wäre das, was ich Ihnen in meiner Eigenschaft als Konsul, der in eine andere Zeit gesandt worden ist, zu erzählen habe, als wäre die ganze Requisite dieses potenziellen Wandertheaters von einem vordem stabil aussehenden Bild zusammengeklaubt und auf einen Haufen geworfen worden. Das Schreiben, vor allem das, welches die Erinnerung betrifft, ist eine ungeordnete Handlung, es gibt darin nicht immer eine ein für alle Mal festgelegte Reihenfolge. So sehe ich jetzt, nach so vielen Jahrzehnten, unser Urzimmer in der Belgrader Carice-Milice-Straße, all die Dinge unseres Lebens, als wären sie auf die Seite geräumt, vielleicht ebenfalls auf das Bett in der Ecke, damit der Fußboden, der Grund unseres Daseins, unseres damaligen, von allem gereinigt würde, von den qualvollen Tagen, von der Unsicherheit in der neuen Stadt, von den Erinnerungen, den immer ziemlich widerlichen und traurigen.

    Alles spielte sich so zuerst in den beiden Zimmern ab, die auf eine schmale Gasse mit Geschäften und Werkstätten hinausgingen, in denen Bettdecken, Wäsche, Lampen hergestellt wurden. Vieles wimmelte unter den hohen Fenstern, während wir an den sechs Schöpfungstagen schufteten, von Zeit zu Zeit schaute Vaters Freund aus dem Nachbarzimmer herein, um festzustellen, wie wir mit dem Einräumen vorankamen. Da war auch die Frau des Freundes, eine dicke Dame, die an Gelbsucht litt. Ihr Gesicht sah aus wie das einer Chinesin, unentwegt musste sie sich übergeben, meine Mutter weinte über ihr Schicksal. Doch der Freund meinte, das sei nichts, ihre Beleibtheit werde sie retten.

    Unsere erste Welt, unsere Belgrader, war seltsam und unklar, ich fragte mich, ob denn alle Frauen in dieser Stadt so dick und krank seien. Die beiden Räume, die unsere ursprüngliche Unterkunft ausmachten, mussten das ganze Leben umfassen, zumindest für den Moment. Ich fragte mich, ob ein ganzes Schicksal in die beiden kleinen Zimmer passe. Später sah ich, dass das sehr wohl möglich ist. Zum Glück nahmen mich meine Eltern an der Hand und gingen gleich mit mir hinaus, in die Welt dieser Stadt, auf ihre Hauptstraßen und -plätze.

    Sehen wir es dann als natürlich an, dass mein Zeugnis mit Bildern von Leuchtreklamen aus dem Jahr 1937, auf dem Belgrader Hauptplatz, beginnt und sie das Erste sind, worüber ich das Ministerium meiner Geschichte informieren möchte. Gleich danach kommen die Namensaufschriften von Firmen, Händlern und Bankiers, Ämtern und öffentlichen Gebäuden. Das ist mir einmal, viel später, in Wien aufgefallen. Wo verschiedene Bauwerke mit ganzen Tiraden beschriftet sind, die erklären, was das für ein Gebäude ist und worum es sich handelt. Und dabei werden, wie mir scheint, auch die zahlreichen Buchstaben dort zu Bestandteilen des architektonischen Entwurfs, der Idee, die der Baumeister des Hauses gehabt hat. Weil die Menschen in unserer Zeit nicht nur in Häusern, zusammengesetzt aus Wänden und Dächern, wohnen, sondern diese oft auch etwas aussagen, auf Wiener Art, buchstäblich, durch Worte, Aufschriften, Sprache.

    So betrachtete ich die damaligen Belgrader Fassaden, die Buntheit der Firmennamen, die dort standen, als hätte ich jemandem außerhalb dieses Bereiches, vielleicht auch außerhalb der Zeit, die Namen der für einen Geheimdienst interessanten Personen melden müssen. Weil ein in eine neue Stadt geworfenes Kind, wie das menschliche Wesen ja nach Heidegger in die Welt geworfen ist, herumspioniert und Daten sammelt, von denen womöglich sein eigenes Leben abhängen wird. Als wäre ich auf einen Empfang geraten, von Diplomaten, wo sich die Leute untereinander kennen, aber nur oberflächlich. Und man ein scharfes Ohr braucht, um an einzelne Fakten zu kommen, was meinen Verhältnissen, meinen kindlichen, im Alter von fünf Jahren, gerade entsprach. So musste ich mir auf die Schnelle das Geschäft merken, in dem Kinderspielzeug verkauft wurde und das PARA GUMA hieß. Dann ein anderes, den großen Wurstkonzern KLEFIS. Sogleich fiel mir auf, dass viele Menschen in der Stadt, deren Namen auf Firmenschildern standen, anderen Nationen angehörten, ich dachte mir, die Personen, welche die einzelnen Unternehmen führten, seien überwiegend Ausländer. Das erhöhte meine Vorsicht, meine konsularische, gegenüber der Welt, in die ich geraten war, noch mehr. Später glaubte ich, mein ganzes Leben werde unter fremden Menschen vergehen, wie es in einem Stück, einem russischen, heißt. Nun musste das auch ein fröhliches Kind wissen, das von den Reklameinstallationen an den hohen Gebäuden der Hauptstraße wie auch von der allgemeinen Buntheit, der verschiedenartigen, die unser Dasein erfüllte, bezaubert war.

    Im ersten Moment kam es mir so vor, als hätte ich mich in einen Wald von lauter Titeln verirrt, zwischen Bäume aus lauter Buchstaben. Wie eine Art Alice, die nicht nur durch die Gegend und die Straßen der Städte wandert, sondern auch durch die Seiten, Abschnitte, Wörter des verrückten Buches von Carroll. Moster AG, Farben- und Lackfabrik. Lazarević Miša und Tochter, Herstellung von Rollläden. STIRIA Stahl. Alargić Alinka, Obst- und Gemüsegeschäft. Josipović Gliša, Fabrik zur Herstellung von Draht und Eisenwaren. BRAUEREI BAJLONI. VISUNG AG Garvens Pumpen. „Robot, Pačić und Kozak, automatische Wagen, Bahnsteigkartenautomaten, Telefonautomaten und andere Präzisionswaren. Michael Weinschenker, Vertreter führender ausländischer Firmen für Bergwerkslampen und pneumatische Geräte. Petrović und Lukić, Kraljev-Platz 11. POLDI STAHL. Vartanović Jelena, Handel mit geröstetem und gemahlenem Kaffee. Karaoglanović JakovŽaki, Kolonialwarenhandlung. ŠONDA Belgrad. Edison Bel Füllfederhalter AG. Kuzmičov P. M. und Söhne, Handel mit russischem Tee. Lević Josif, Drogerie. Antonijević und Ćuković, Geschäft für Bürobedarf. Dželebdžić Jeremija, Buchhändler. Bence Anton und Sohn, Geschäft für Fabrikmöbel. Imbiss TRIGLAV, Imbiss TRST. Glogauer und F. Polak, Exporte. TELEFUNKEN, Radiogeschäft. ŠKLEDAR Konditorei. Eškenazi S. J., Kommissionsagentur, Export und Import. KRKOČ F., Ausfuhr von Landesprodukten und Obst. Apotheke DELINI, Knez-Mihajlova-Straße 1. Autowerkstatt Popović Ž. Aca, Kralja-Aleksandra-Straße 7. Mozer Bruno, Sektgroßhandel, Zemun. Anaf Bencion, Klempner. Jakovljević Mihailo, Bettdeckenmacher. Božić Sima „Lajpcig, Pelzhandlung. Brüder Kokotović, Schreibmaschinenreparaturen. Henig Karlo, Maler. Sajdler Ana, Salon für die Anfertigung weißer Wäsche. Nahmijas Isak, Glas- und Spiegelschneider. „PARO-VALET" Chemische Reinigung und Färberei. Ferigo und Rozean, Schleiferei. Jungović Djordje, Juwelier.

    Aus dieser Zeit habe ich auch die Werbung eines Bäckers in Erinnerung, er hatte damals das berühmteste Brotgeschäft und das erfolgreichste. Dessen Produkte entlang der ganzen Fassade aufgemalt waren: Kipfel, Brezeln, Gebäckringe, alles in übernatürlicher Größe, als müsste man damit Riesen füttern. Es gab auch andere große Reklamezeichnungen, die an den Giebeln der Belgrader Häuser angebracht waren, Personen von übernatürlicher Größe wurden gezeigt, wie sie eine Schachtel mit irgendwelcher Ware oder ein für den Haushalt unentbehrliches Gerät in den Händen hielten, diese Affen der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals im Königreich Jugoslawien sagten dem kleinen Geschöpf von kaum ein paar Jahren, dass die Größenverhältnisse im Leben nicht immer gleichmäßig und „normal" sind, manchmal gibt es unerwartete Vergrößerungen, wie es der Schwarze an einer Wand war, der mit einer gewaltigen Bürste seine riesigen blendend weißen Zähne putzte.

    Die Übergabe meiner Akkreditierungsschreiben scheint folgendermaßen verlaufen zu sein: unter dem Lachen der Kameraden in dem Gebäude, in das wir eingezogen waren. Als wäre an einem europäischen Hof ein Wilder aus Borneo aufgetaucht, barfuß, mit einem ins Haar gesteckten Tierknochen. Aber ein Fünfjähriger ist immer ein natürlicher Eindringling, sogar dort, wo er geboren ist, er ist gut weggekommen, wenn ihm nicht schon seine älteren Geschwister Schaden zugefügt haben, solange er in der Wiege lag. Deshalb kam ich schlecht durch die ersten Tagen meines Belgrader Lebens, was als Lehre für die Zukunft wertvoll war, der Mensch hat, selbst wenn er erwachsen ist, nichts von den anderen zu erwarten, und wenn er sich nicht schon am Anfang eine Vorstellung von seinem Sein gemacht hat, wird es ihm nicht so gut ergehen. Ich will nicht sagen, dass meine ganze Mission im Leben gescheitert wäre. Es hat dabei viel Lustiges, manchmal Verrücktes gegeben. Das sage ich nur, um andere zu belehren, Debütanten in der Diplomatie des Seins, kleine Konsuln, die in einem fremden Land auftreten – weil jedes Land, in das ein Kind von fünf oder sechs Jahren gerät, eine fremde Gegend ist, ein unbekannter Staat, in dem man seinen Auftrag, kürzer oder länger, erfüllen muss.

    In der Stadt gab es seltsame Gerüche. Vor allem in den Läden, in den Kurzwaren-, Schuh-, Eisenwarengeschäften. Die Firma von Avram Filipović, die meinen Vater beschäftigte, verkaufte feines Essbesteck, schöne Speiseservice, und ganz hinten in diesem großen Gebäude gegenüber dem Parlament befand sich ein Lager mit schweren Eisenwaren, Schienen, Werkzeugen, großen Drahtrollen. Aus dieser Tiefe drang wie aus einem Zentrum der Welt ein Metallgeruch, wie es ihn nur an ähnlichen Orten gibt, der Geruch des eisernen Menschheitsschicksals, jener Materie, die den Menschen zum Menschen machte. Weil ihn leider nicht die weisen Texte von Aristoteles und Descartes geformt haben, sondern ausgerechnet das schwere Erz, das die Menschenhand aus dem Herzen der Mutter Erde herausriss, um aus dieser Urmaterie eine Schaufel und einen Löffel und eine dünne Nähnadel herzustellen. So schlug mir in den ersten Tagen meines Dienstes in Belgrad, beim Besuch an Vaters Arbeitsplatz, hinter dem Ladentisch des angesehenen Geschäfts der Geruch des eisernen Menschenschicksals entgegen, das ich bis auf den heutigen Tag rieche. In jedem Laden, was immer auch verkauft wurde, nahm ich den Geruch von etwas wahr, was keinen direkten Zusammenhang mit der dort verkauften Ware hatte. Das kam manchmal vom Geruch des Geschäftes selbst, von den Menschen, die sich darin tummelten, sowie von etwas noch Undurchsichtigerem, vom Kaufen selbst, das man, wie ich glaubte, ebenfalls schnuppern kann. Anders dufteten die Geschäfte mit Textilien, Seide und Stoffen, manchmal englischen. Ich ging mit meiner Mutter, die an diesem Morgen etwas kaufen wollte, dorthin und atmete beim Betrachten der hohen Regale mit den ordentlich gestapelten Stoffballen den Duft des fernen England ein und roch den Betrieb der dortigen Maschinen, sogar das Heulen des Dampfers, auf dem die Ware geliefert worden war.

    Natürlich verrieten sich die verschiedenen Wohnungen, Häuser, Heime der Menschen, die wir kennenlernten, durch ihren speziellen Geruch, weil der Mensch schon durch seine Körperlichkeit eine Spur hinterlässt, und ähnlich verhält es sich, scheint es, mit allem, womit er hantiert, mit dem, was er aus dem allgemeinen Kosmos der Einzelheiten für den täglichen Gebrauch aussucht. Ich bin mir sicher, dass eine Dame, zu der ich mit meiner Mutter zum Tee ging, einen ganz besonderen Duft verströmte, aber kam dieser nur aus den schlanken, bei der Firma „Micuko" gekauften Flakons? Es gab auch sehr unangenehme Gerüche, ein solcher strömte aus einer Erdgeschosswohnung, wo irgendwelche armen Leute zusammen mit einem Haufen Katzen wohnten. Nie werde ich ganz ergründen, woher der spezielle Geruch der Armut kommt, ob nur von ungewaschenen Strümpfen und schmutziger Wäsche, von irgendwo auf dem Tisch zurückgelassenen Speiseresten, oder ob das Elend als metaphysische Erscheinung und als unfassbare Zwischenmaterie, die um die Köpfe armer Leute schwebt, selbst diese Eigenschaft besitzt, dass es da ist und aus dem trübseligen Umfeld kaum ausgerottet werden kann.

    In der neuen Stadt gab es viele neue Klänge, unerwartete Geräusche. Im dritten Stock des Hauses am Zeleni venac, dessen Giebel nach Westen geöffnet war, hörte man nachts ein unerklärliches Knarren, als wäre in der Nähe eine geheime Druckerei in Betrieb gewesen oder eine Mühle, irgendwo in den Himmel über der Save gesteckt. Es war eine Zeit mit vielen schlimmen Befürchtungen, vor dem Weltkrieg, und so begann auch mein Vater, ein ansonsten sehr besonnener Verkäufer von Speiseservicen, zu fantasieren, in unserer Nachbarschaft existiere eine geheime Formation, wer weiß wovon, bedrohlich und gefährlich. Später stellte sich heraus, dass nur der Wind, der Belgrader, die verrückte Košava, durch spezielle Vorrichtungen pfiff, wie es sie auf den Dächern jener Stadt gab, durch Rauchrohre aus Blech, die den konstruktivistischen Objekten von El Lissitzky und Skulpturen von Max Ernst glichen.

    Zu der Zeit, denke ich, entdeckte ich, ohne ein einziges großes Werk der modernen Kunst zu kennen, nach und nach selbstständig meine eigene Kunstgeschichte, zumal ich verrückt war nach absonderlichen Gegenständen in Geschäftsauslagen, in Schusterwerkstätten und Schneidereien, wo mich Mutters Hand hinführte. Dort entzückten mich, trotz Chirico und Man Ray, die Schneiderpuppen, die Arrangements der hohen Mode in der Hauptstraße, die Metallskulptur eines Schwarzen in einem Geschäft, dem man einen Dinar in die Hand drückte, den er bei Betätigung eines verborgenen Hebelchens in den Mund steckte und verschluckte. Dazu kamen die Auto- und Flugzeugmodelle in den Auslagen der Reisebüros, jener Waggon mit allem, was dazugehört, im schmalen Schaufenster der Vertretung von Wagon-Lits Cook, den schon Nabokov beschrieben hatte. Daran sehe ich, dass zwei Vertreter verschiedener Generationen auf ihren jungenhaften Erkundungen der gleichen Spur folgen können, und so hatte der Miniaturzug, den der russische Schriftsteller gesehen hatte, Tausende von Kilometern zwischen unseren zwei Zeiten zurückgelegt, um im Jahr 1938 auf das Abstellgleis am Prinzendenkmal zu gelangen. Bei diesem Schriftsteller findet sich außerdem eine Notiz über die fantastischen Bildchen, die von der inneren Maschine des Menschen aus den Abfällen wer weiß wann gesehener, vielleicht nur geträumter Bilder erzeugt werden – dieses individuelle Kino projiziert sie auf die Innenseite des Augenlids. Das ist wahrscheinlich ein bei den Menschen häufig auftretendes Phänomen, auf das sie meist nicht reagieren. Man muss etwa zehn oder wie jung auch immer sein, ein empfindsames Kind, das sich für wer weiß was um es herum und vor allem in ihm selbst interessiert, damit dieses Kino seine Abendvorstellung ankündigt. Da ich lange, immer die gleiche Erscheinung erlebend, meinte, es handle sich um eine ureigene Erfahrung, vielleicht um eine Augenkrankheit, schwieg ich darüber, ohne bis jetzt auch nur die kleinste Notiz darüber zu machen. Ich war auch von allem möglichen anderen, was mir in jungen Jahren widerfuhr, überzeugt, es stelle eine historische Entdeckung von mir selbst dar und niemand sonst auf der Welt habe eine Ahnung davon. So ging ich, als ich mich früh der Masturbation hingab, davon aus, das sei etwas, womit ich zur Erfahrung der Welt beitrüge, der für mich damals geschlechtslosen und erstarrten Umgebung ohne Leidenschaften und Laster.

    In einem Herbst begannen an einem nebligen Morgen die Straßen zu brausen, Kolonnen von Feuerwehrautos stürmten heulend den Savehang zu einem Farben- und Lackelager hinab, das, unklar warum, explodiert war, wobei Menschen getötet und ein paar umliegende Häuser zerstört worden waren. Das war die erste tektonische Störung meines Lebens, ich hatte gedacht, dem Aufenthalt in dieser Stadt sei ein ruhiger Verlauf garantiert, ohne große Erschütterungen, plötzlich knallte alles, die Schreie von Bewohnern, unsichtbar in der dichten Explosionswolke, die Hysterie der Sirenen, die Vorstellung meiner Mutter, die gleich die halbe Stadt im Fluss versinken sah, all das öffnete mir die Augen: Es würde noch allerhand derartiges passieren, man musste abwarten!

    Noch immer sehe ich die gewaltigen Wagen der Feuerwehr, die aus dem Nebel herausstürzen und am Ende der Straße wieder verschwinden, wo sich erneut alles zu der künstlichen Wolke verdichtet, die auf die ganze Stadt niedergegangen ist. Diese Autos aus glänzendem Metall und rot gefärbten Teilen machten in meinen frühen Tagen oft ungewöhnliche Metamorphosen durch, wurden in meinem Bewusstsein verkleinert, in Spielsachen verwandelt. Später begleitete mich diese Illusion oft, wenn ich Waggons auf einem Bahnhof betrachtete oder eine Straßenbahn, die an der Ecke einer steilen Straße abbog, all die riesigen Geräte aus Eisen und Glas, immer mit ansprechenden Farben gestrichen, nahmen Dimensionen an, die es mir ermöglichten, sie in die Tasche zu stecken und mit nach Hause zu nehmen. Auf jeden Fall war das ein Zeichen für mein besitzergreifendes Wesen, wie es viele andere kleine Menschen mit sieben Jahren haben, ich überlegte mir, wie ich mir die Welt aneignen, wie ich ihre anziehendsten Gegenstände, wenn auch verkleinert, in mein Zimmer mitnehmen und sie auf dem Regal neben den anderen Stückchen meiner Kindheit aufstellen könnte.

    In der Gegend, wo die Explosion stattgefunden hatte, dort, in der ganzen Karadjordjeva-Straße, gab es, verlockend für die Kinderseele, geheimnisvolle Werkstätten, Läger, Hafenanlagen, Schifferkneipen und Magazine, in einem von ihnen arbeiteten in den ersten Kriegsjahren, da sie keine andere Stelle hatten, ein paar Verwandte von mir, die auf ihren Rücken rohe, frisch gesalzene Rinderhäute schleppten, von ihrer schweren Arbeit stank unsere ganze Umgebung, alle Wohnungen, in denen sie sich aufhielten, nicht nur weil

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1