Der kleine Fürst 107 – Adelsroman: Die falsche Rolle
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Der Mann im Rollstuhl stand den Schülerinnen und Schülern im Weg, als sie aus dem Schulbus steigen wollten, und er schien es noch nicht einmal zu bemerken, denn er blieb direkt vor der Tür stehen, ohne sich zu rühren. Die anderen Türen des Busses öffneten sich nicht, der Busfahrer sagte durch, es gebe eine technische Störung, man möge den vorderen Ausgang benutzen. "Beweg dich mal ein bisschen zur Seite!", rief einer der Schüler dem Rollstuhlfahrer zu. "Oder sollen wir über dich springen?" Der Mann sah erschrocken aus, rührte sich aber nicht, als hätte er die Aufforderung nicht verstanden. Einem der älteren Jungen wurde es zu bunt, er rempelte den Mann von der Bustreppe aus unsanft an, doch offenbar waren die Bremsen am Rollstuhl blockiert, denn der rührte sich nicht.
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Der kleine Fürst 107 – Adelsroman - Viola Maybach
Der kleine Fürst –107–
Die falsche Rolle
Irrtum, Täuschung – und doch Liebe?
Roman von Viola Maybach
Der Mann im Rollstuhl stand den Schülerinnen und Schülern im Weg, als sie aus dem Schulbus steigen wollten, und er schien es noch nicht einmal zu bemerken, denn er blieb direkt vor der Tür stehen, ohne sich zu rühren. Die anderen Türen des Busses öffneten sich nicht, der Busfahrer sagte durch, es gebe eine technische Störung, man möge den vorderen Ausgang benutzen.
»Beweg dich mal ein bisschen zur Seite!«, rief einer der Schüler dem Rollstuhlfahrer zu. »Oder sollen wir über dich springen?«
Der Mann sah erschrocken aus, rührte sich aber nicht, als hätte er die Aufforderung nicht verstanden. Einem der älteren Jungen wurde es zu bunt, er rempelte den Mann von der Bustreppe aus unsanft an, doch offenbar waren die Bremsen am Rollstuhl blockiert, denn der rührte sich nicht.
»Mann, Alter, du nervst, geht das nicht in deinen Kopf?«
Einige regten sich auf und wurden aggressiv, andere fingen an, Witze zu machen, wieder andere rannten zu den anderen Ausgängen. Doch deren Türen öffneten sich nicht, wie der Busfahrer schon angekündigt hatte, woraufhin zwei Jungen tatsächlich zum Sprung über den Mann im Rollstuhl ansetzten und es vielleicht sogar versucht hätten, wenn sich nicht Christian von Sternberg nach vorn gedrängelt und höflich zu dem Mann gesagt hätte: »Wir können nicht aussteigen, wenn Sie da stehen bleiben. Sie blockieren die Tür.«
Es schien, als erwachte der Mann plötzlich zum Leben. Er war noch jung, sicherlich nicht einmal dreißig Jahre alt. Blond war er und vermutlich ziemlich groß, obwohl man das nicht genau beurteilen konnte, weil er so zusammengesunken in seinem Rollstuhl saß. Er lächelte Christian an. Sein Gesicht hatte ein scharf geschnittenes Profil, die blauen Augen blitzten mit einem Mal. »Tut mir leid«, sagte er mit heiserer Stimme, löste die Bremsen und rollte ein Stück zur Seite.
»Na, endlich!«, stöhnte es hinter Christian, der zuerst ausstieg. »Wieso nicht gleich so? So ein Idiot, was denkt der sich eigentlich?« Die Schüler drängelten und schubsten sich aus dem Bus und rannten über die Straße zur Schule, denn der Unterricht würde bald beginnen.
Anna von Kant, Christians Cousine, stieg als eine der Letzten aus dem Bus.
»Was war denn mit dem Mann los?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Christian. »Einen Moment noch, Anna.« Er lief zu dem Mann im Rollstuhl, der nur wenige Meter von ihnen entfernt stand, immer noch mit einem Lächeln im Gesicht.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Christian besorgt.
»Ja, natürlich, vielen Dank.«
»Ich meine nur …, Sie haben vorhin so gewirkt, als hätten Sie uns gar nicht gehört. Haben Sie nicht gemerkt, dass wir nicht aussteigen konnten?«
»Ich war wohl einen Moment unaufmerksam. Tut mir leid. Und jetzt geh, die Schule fängt doch gleich an!« Der Mann warf Anna einen Blick zu. »Und deine Freundin wartet.«
»Sie ist meine Cousine. Aber es stimmt schon, meine Freundin ist sie auch.«
»Sagst du mir, wie du heißt?«
»Christian von Sternberg.«
»Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Christian.«
Der Mann lächelte ihn noch einmal an, kam aber offenbar nicht auf die Idee, sich selbst vorzustellen. Dann rollte er davon, wobei er die Räder mit langsamen, kräftigen Armbewegungen drehte, denn es war kein elektrischer Rollstuhl, sondern ein einfaches Modell, das mit Muskelkraft bewegt werden musste.
»Komm endlich, Chris, es ist jetzt wirklich schon spät!«, drängelte Anna. Tatsächlich waren keine anderen Schüler mehr zu sehen. Sie rannten über die Straße. »Wieso wolltest du noch mal mit dem Mann reden?«
»Ich weiß auch nicht, es kam mir so vor, als …« Christian schüttelte den Kopf und beendete seinen Satz nicht. »Ich weiß nicht. Aber er war plötzlich wie ausgewechselt, als ich ihn angesprochen hatte. So, als hätte er vorher geschlafen und ich hätte ihn geweckt.«
»Hast du ja vielleicht auch. Das würde erklären, warum er einfach vor der Tür stehen geblieben ist.«
»Zuerst dachte ich, er versteht vielleicht nicht, was wir sagen, aber er hat alles verstanden. Er hat mich nach meinem Namen gefragt.«
»Vergiss ihn«, riet Anna. »Er ist einfach ein Mann im Rollstuhl, der heute Morgen noch nicht ganz wach war.«
Christian neigte dazu, ihre Ansicht zu teilen, und da er in der ersten Stunde Mathematik hatte, sein Lieblingsfach, fiel es ihm nicht besonders schwer, die Erinnerung an die seltsame Begegnung aus seinem Kopf zu verbannen.
*
»Ich kann das schnell machen«, sagte Katharina zu Felsberg am nächsten Tag. »Wenn ich das Fahrrad nehme, bin ich in spätestens einer halben Stunde zurück, so lange müsstest du allein die Stellung halten, Anja.«
Anja Gebhard überlegte und nickte dann. »Wir brauchen das Geschenkband«, sagte sie. »Und da die großen Rollen nicht rechtzeitig geliefert worden sind, müssen wir uns ein paar kleine kaufen. Ein Geschäft für selbst gemischte Parfüms, die man nicht als Geschenk verpacken kann, geht gar nicht.«
»Sag ich doch. Sonst noch was? Ich meine, wenn ich jetzt schon losfahre, dann sollten wir nicht in einer Stunde feststellen, dass uns noch mehr fehlt als Geschenkband.«
»Sonst fehlt nichts, glaube ich.«
»Lass uns noch mal alles durchgehen, Anja.«
Die beiden jungen Frauen hatten sich vor einem Jahr mit dem kleinen Geschäft selbstständig gemacht und waren von seinem Erfolg ziemlich überrascht worden: Sie schufen eigene Parfüms, die sie in ausgesucht schöne Flakons füllten. Sie stellten aber auch Düfte nach den Wünschen ihrer Kundschaft zusammen. Schon in den ersten Wochen hatte sich gezeigt, wie sehr sich Frauen wie Männer nach individuellen Düften sehnten.
Eine elegante Dame jenseits der Fünfzig hatte es auf den Punkt gebracht: »Ich will nicht mehr duften wie alle anderen! Außerdem ähneln sich die neuen Düfte alle so sehr, dass man sie auch untereinander kaum noch unterscheiden kann. Ich bitte Sie: Wo bleibt da das Exklusive? Das finde ich nur hier bei Ihnen.«
Sie war ihre treueste und beste Kundin, und ihr hatten sie es wohl auch zu verdanken, dass vermögende Damen und Herren von weither anreisten, um ihrem Geschäft einen Besuch abzustatten. Sie hatten es schlicht nach ihren Namen genannt: es hieß ›Felsberg und Gebhard‹. Natürlich wussten sie, dass sie den Erfolg zumindest zum Teil auch der Tatsache zu verdanken hatten, dass sie beide jung und ausgesprochen ansehnlich waren: Katharina war der Typ der klassisch schönen, schlanken Blondine, während Anja auch eine üppige, sinnliche Südländerin hätte sein können mit ihren dunklen Haaren, dem olivfarbenen Teint und den braunen Augen. Auch vom Temperament her unterschieden sie sich, es war jedoch genau anders herum, als man es hätte erwarten können: Die Ruhige, Nachdenkliche war Anja, während mit Katharina öfter das Temperament durchging.
»Also, ich bin dann weg«, sagte Katharina, als sie auch nach längerem Überlegen nichts weiter gefunden hatten, das noch dringen gekauft werden musste.
Sie verließ das Geschäft und schwang sich auf ihr Fahrrad. Sie fuhr nicht gern mit