Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Mord zum Sonntag: tatortphilosphie
Mord zum Sonntag: tatortphilosphie
Mord zum Sonntag: tatortphilosphie
Ebook265 pages3 hours

Mord zum Sonntag: tatortphilosphie

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

2016 wird der 1000. Tatort ausgestrahlt – Zeit für eine kritische Analyse mit erstaunlichen Ergebnissen.

Bis zu 14 Millionen Menschen verfolgen jede Woche den Mord zum Sonntag. Die wohl langlebigste Fernsehserie wird als „kulturelles Gedächtnis" wahrgenommen, das sensible Themen und aktuelle Fragen nicht scheut. Doch was verbirgt sich hinter Kapitalismuskritik und tagespolitisch brisanten Einsätzen der Kommissare mit den brüchigen Biografien? Pfabigan zeigt Zusammenhänge zur nationalsozialistisch geprägten Geschichte des deutschen Polizeifilms auf, er verweist auf zahlreiche Kontinuitäten hinter zeitkritischen Anliegen. Im Vergleich zu amerikanischen CSISerien erweisen sich die Tatort-Opfer als verdächtig schuldig, die Täter als auffallend einfühlsam gezeichnet und Recht und Unrecht als eine Gefühlssache, die wenig mit Beweisen zu tun hat.
LanguageDeutsch
Release dateAug 30, 2016
ISBN9783701745401
Mord zum Sonntag: tatortphilosphie

Related to Mord zum Sonntag

Related ebooks

Philosophy For You

View More

Related articles

Reviews for Mord zum Sonntag

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Mord zum Sonntag - Alfred Pfabigan

    2001

    Vom Paradies zum »Tatort«

    Der erste Mord

    In der Genesis, so die These Johann Gottfried Herders in dem Büchlein Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774), werde der zureichende Grund zur Unterscheidung zwischen Barbarei und Zivilisation benannt, auch biete sie den Schlüssel zu deren Geheimnissen; ähnlich verfährt Immanuel Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). Und so wird die Genesis als Basistext unserer Kultur nicht nur in den Religionen und den schönen Künsten durchdekliniert, sondern auch in Fernsehkrimis.

    Auf der Basis von Stilvergleichen gehen manche davon aus, dass Genesis, Exodus und Numeri zwischen 950 und 900 v. d. Z. von einer am Hof von König Salomon lebenden Autorin verfasst wurden; die Forschung hat der Unbekannten den Namen »Jahwistin« verliehen. Tatsächlich unterscheiden sich diese Teile vom übrigen Textkorpus des Alten Testaments der Bibel; die Autorin erzählt in rasendem Tempo, schnörkellos, beiläufig, scheinbar unbeteiligt, und ihre Haltung zu den Geschehnissen bleibt unklar. Harold Bloom attestiert ihr eine »schockierende Ironie« und hält ihren Genius für geradezu unheimlich, da sie nie aufhöre, uns zu überraschen.¹ Tatsächlich berührt dieser lakonische Text zentrale Punkte unseres sozialen Lebens – die Schöpfung, die Machtfrage, die Einsamkeit, die Sexualität, den Regelbruch und den gewaltsamen Tod. Das alles wird auf einer Seite erzählt, die Autorin ignoriert die Gefühle der Beteiligten, sie spekuliert nicht über Motive und feiert weder den Schöpfer wie ihre barocken Nachfolger, noch verurteilt sie ihn wie die Gnostiker. Alles ist offen, ihr angsterregender Text schafft einen Raum ungeheurer Geheimnisse, der allerdings kunstvoll die Beteiligung der Autorin, ihre Bewunderung wie auch ihr Entsetzen versteckt. Und mit diesem Text beginnt auch der Diskurs über das Töten des Menschen durch seinen Bruder-Menschen und die unaushaltbare Veralltäglichung dieses Vorgangs. Der Bericht ist ohne Trost: Die Autorin weigert sich, durch die Verheißungen der Religion, durch Kunst oder Verbildlichung, die Angst wegzuspülen.

    Das erste Kapitel der Genesis enthält den Bericht über die Schöpfung und den nicht näher begründeten Entschluss Gottes, den Menschen, der später Adam genannt wird, zu schaffen: »ihm zum Bilde«. Er schenkt seinem Geschöpf das Leben und den Raum, den es und wir, seine Nachfolger, uns untertan machen sollten – aber nicht mehr. Damit setzt er uns in jene vernunftfreie Regellosigkeit, die Kant so erschrecken wird. Im zweiten Kapitel erfahren wir, dass dieses Wesen eine unbestimmte lebendige Seele hat, dass es den Garten Eden kultivieren, doch sich der Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse enthalten solle – und hier beginnt der erste große Konflikt: »Denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.« (1 Moses 2, 17) Hat Gott uns ein Urwissen vom »Sterben« implantiert, wo doch – so Freud in Totem und Tabu – die Vorstellung des Todes »inhaltsleer und unvollziehbar« ist? Warum hat Gott diese unklare und die Souveränität seines Geschöpfes einschränkende Drohung ausgesprochen? Die Probe folgt jedenfalls sofort, Eva, jene Gefährtin, die Gott dem einsamen Adam geschaffen hat, wird von der Schlange in Versuchung geführt, die Früchte zu essen: »Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; … (ihr) werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« (1 Moses 3, 4f.) War, was geschehen wird, von Jahwe vorhergesehen, vielleicht sogar geplant? Oder hat er von Anfang an die Freiheit seiner Geschöpfe akzeptiert? Unsere Vorfahren können der Versuchung nicht widerstehen, sie verlieren das, was wir heute Unschuld nennen, gewahren ihre Nacktheit und verstecken sich vor ihrem Schöpfer, der doch alles sieht. Und der verflucht die Schlange, vertreibt die Menschen aus dem Paradies und konfrontiert sie mit jener für Kant so wichtigen, vernunftfördernden Realität: Eva soll mit Schmerzen Kinder gebären und Adam soll sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen.

    Die Schlange hat uns belogen, wir sind sterblich, und die Unklarheit darüber, was gut und was böse ist, ist immer noch groß. Offenkundig hat der Herr seinen Geschöpfen keine Regeln für das Leben »Jenseits des Paradieses« gegeben. Im Gegensatz zu den geschwätzigen Apokryphen, jenen Texten, die biblische Themen behandeln, aber nicht zum Kanon gehören, verliert die Jahwistin kein Wort darüber, wie unsere Vertriebenen ihr Leben gestalten. »Im Lauf der Zeit« gebiert Eva Kinder, von zwei Söhnen wird der Name genannt: vom Ackersmann Kain und dem Schäfer Abel, Repräsentanten der zwei Soziotypen, aus deren Antagonismus sich unsere Zivilisation entwickelt hat. Das also ist die erste Familie. Beide Söhne opfern dem Herrn, um ihn gnädig zu stimmen, doch Gott sieht nur das Opfer des Abel gnädiglich an. Der Text lässt das »Warum« offen. Hat Kain – wie in der bildenden Kunst gerne angespielt – das Ritual der schon so oft gescheiterten Versöhnung Gottes mit lustlosem Realismus vollzogen? Welchen Sinn hatte das Opfer überhaupt und was bedeutete die für Abel letztlich tödliche Gnade des Herrn? Spielte er etwa mit seinen Geschöpfen? Die Jahwistin bleibt hier vage, sie verrätselt die Geschichte und begründet damit das Feld, in dem die Allianz zwischen Religion, Kunst und Populärkultur ansetzt, wo uns spekulative, aber anziehende Lösungen angeboten werden.

    In der Erzählung der Jahwistin »ergrimmete Kain, und seine Geberden verstellten sich«. Nun beginnt die Autorin mit dem Leser zu spielen und lässt den Herrn, der doch weiß, was sich gleich ereignen wird, Kain vor der Sünde warnen, die da »vor der Tür ruhet«. Und so geschieht es: Bei der Aussprache mit seinem Bruder auf dem Feld – dem Arbeitsplatz Kains – erschlägt dieser Abel. Das große Spiel rund um den gewaltsamen Tod hat damit begonnen; das Wort »Mord« stammt aus dem apokryphen »Vierten Buch der Makkabäer«.² Doch weiß Kain, was er getan hat? Der Allwissende, dem die Welt ja ein Kristall ist, stellt ihm eine rhetorische Frage: »Wo ist dein Bruder Abel?« Und der erste Verdächtige in der Untersuchung eines Kriminalfalles leugnet unverschämt: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?«

    Da wird Gott zornig und verkündet ein Grundgesetz unserer Zivilisation, dessen Bedeutung in deutschen und amerikanischen Polizeiserien recht verschieden ausgelegt wird: »Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde. Und nun verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul aufgetan hat, und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstät und flüchtig sollst du sein auf Erden.« Reue, Besserung, »zweite Chance« – das liegt nicht im Willen des Herrn; wer getötet hat, der wird mit einem schlimmen Leben bestraft. Zeigt Kain, dem offensichtlich nach der Tat das Wissen über den Unterschied zwischen »Gut« und »Böse« gegeben ist, Einsicht, wenn er antwortet: »Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge«? Oder heuchelt er und hat nur Sorge um sein Wohlergehen? »Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und muss mich vor deinem Angesicht verbergen, und muss unstät und flüchtig sein auf Erden. So wird’s mir gehen, dass mich tot schlage, wer mich findet.« Die Strafe ist Gottes Wille, ansonsten stellt er, der doch Abel nicht geschützt hat, Kain unter seinen persönlichen Schutz: »Nein, sondern wer Kain tot schlägt, das soll siebenfältig gerochen werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.« So zeigt der erste Mörder kein eindeutiges Zeichen von Reue und darf seiner Wege ziehen. Ein weiteres Rätsel, denn in Exodus 21,12 wird der Herr Mose zwar verkünden, dass der, der einen Menschen zu Tode bringt, mit dem Tod bestraft werden solle. Doch er wird eine Ausnahme benennen, die vielleicht rückwirkend für den Fall Abel gilt: »Wenn (…) Gott es durch seine Hand geschehen ließ, werde ich dir einen Ort festsetzen, an den er fliehen kann.« War der Tod Abels etwa der Wille des Herrn – oder hat sich Kain die Rolle Gottes als Herrn über Leben und Tod angemaßt?

    Kain also geht »von dem Angesicht des Herrn« und zieht ins Land Nod und »erkannte sein Weib, die ward schwanger, und gebar den Hannoch«. Abel ist tot, es macht wenig Sinn, über ihn nachzudenken. Kain repräsentiert das Überleben und damit die Zukunft, keine gute möglicherweise, doch bleibt er rätselhaft. Gilt das auch für seine mörderischen Nachfolger, die für die Populärkultur so anziehend sind? Was bedeutet Gerechtigkeit in diesem Kontext? Deutsche Filme ignorieren diese Frage häufig und haben oft parallel laufende Tendenzen zur Schuldigmachung des Opfers und zur Entschuldigung des Täters; indirekt rechtfertigen sie oft jene private Rache, vor der der Herr Kain durch sein Zeichen schützte, während ein Strang der öffentlichen Meinung dahin geht, jede Strafe als Rache abzulehnen. Amerikanische Fernsehserien sehen in der privaten Rache einen folgenschweren Bruch der Grundlage der Zivilisation, des Gewaltmonopols des Staates, und deuten Strafe nicht als »revenge«, sondern als »retribution«, als unzureichende Wiederherstellung einer gestörten Sozialordnung – wie die Populärkultur mit der rätselhaften Widersprüchlichkeit im Verhältnis zwischen »Schuld und Sühne« in der Erzählung der Jahwistin umgeht, wird uns breit beschäftigen.

    Und wie reagieren die Angehörigen auf dieses Geschehnis? Wir wissen nichts über das Leben des kleinen Trupps der aus dem Paradies Vertriebenen, doch welche Harmonie es auch immer gegeben haben mag, Kain hat sie wohl zerstört. Die Jahwistin spart alle Komplikationen aus; jene ungeheure, allseitig erschütternde Involvierung, die ein Mord in sozialer Nähe auslöst, wird von ihr verschwiegen. Als Vorfahrin jener »Ästhetik der Beiläufigkeit«, die wir deutschen Polizeiserien attestieren werden, lässt die Autorin ihre Geschichte weitergehen: »Adam erkannte abermals sein Weib, und sie gebar einen Sohn, den hieß sie Seth.« (1 Moses 4, 5–25)

    Seit damals steht fest: Die Familie ist eine ambivalente Institution, Sehnsuchtsort und gleichzeitig keineswegs eine Ausnahme von der Tatsache, die der Herr den Vertriebenen verschwiegen hat – dass der Mensch dem Menschen Wolf ist. Den »bösen Familien« und den »Wunschfamilien« werden wir in Hinkunft zu Dutzenden begegnen, ebenso autoritären oder hilflosen Vätern, wie Adam wohl einer war, einander stützenden oder missbrauchenden Generationen, resignierten oder rebellierenden Kindern, einander belauernden oder liebenden Ehepaaren – sie werden die Leerstelle in der Erzählung der Jahwistin ausfüllen und uns involvieren. Ist die Familie zu Recht der primäre Ort des Verdachts, der Ort, an dem die von der Jahwistin nur angedeuteten Motive sich realisieren? »Laut Statistik passieren die meisten Morde in der Familie«, meint nicht nur Kommissar Leitmayr im »Tatort« »Frau Bu lacht« (1995). Oder ein Ort der Überforderung, die in Enttäuschung umschlägt? (»Borowski und die heile Welt« (2009)) Oder ist es die Komplexität selbst der als normal erlebten Moderne, die Familien ins Revier des Bösen treibt, wie schon die erste Familie?

    Kant hat sich auf die Vertreibung aus dem Paradies konzentriert und hier den Ursprung unserer Vernunft geortet. Gott hat uns zur Arbeit und zum Liebesleid in seiner unmittelbar physischen Form verurteilt und uns offensichtlich verpflichtet, unsere Sozialordnung selbst zu erarbeiten, indem er uns keine Regeln vorgegeben hat. Jene markante Konsequenz von Vertreibung und Sündenfall, den Umschlag von Brüderlichkeit in Mord, den Moment, ab dem der Mensch – so Hegel – töten darf, weil er aus der Natur ausgetreten ist, hat Kant ignoriert. Wir wurden von Gott erschaffen und von der Schlange verführt – doch der Mord war unsere erste autonome Handlung. Mit Kain hat das große Spiel begonnen – er ist unsterblich. Gott existiert aus sich und klärt einen Fall, den er nicht verhindert hat; im Polizeifilm schafft der Täter die Bedingungen der Möglichkeit des Ermittlers.

    Die Apokryphen wissen mehr, als die Jahwistin erzählt: Nicht nur der Herr hat diese Tat vorausgeahnt, auch Eva sah im Traum das Blut Abels an der Hand Kains, und so beschlossen die Eltern, die beiden zu trennen – erfolglos, denn es folgt der lapidare Satz: »Und darnach erschlug Kain den Abel.«³ Es gibt also ein »Urwissen« von der Gefährdung, die der Bruder dem Bruder darstellt; dass der Mensch ursprünglich gut war, kann man wohl nicht sagen – Grausamkeit scheint ihm anthropologisch eingeschrieben zu sein. So steht der Tod des Abel am Anfang der Suche nach einer sozialen Ordnung. Adam und Eva wurde das ambivalente Geheimnis der Liebe verkündet und der Fluch des eisernen Käfigs der Rationalität der Arbeitswelt. Jetzt erfahren sie das dritte Geheimnis – das sich hinter dem Wort Tod verbirgt. Der Tod kommt von außen, allerdings nicht immer, und er kommt aus der Nähe, aus der Familie, aber auch das nicht immer. Der Tod – jenes große Skandalon der Schöpfung, das Elias Canetti in Wort und Schrift bekämpft hat – ist ein Mord, jeder Tod ist Mord, diese grandiose Fiktion ist das Werk des Kain. Gott hat den Menschen geschaffen, und Kain hat den Tod in die Welt gebracht. Wir alle sind sterblich und der Mörder illustriert uns durch seine Tat dieses – je nach Weltanschauung – göttliche oder Naturgesetz. Ja, indem er Abel vor der Zeit den Tod gebracht hat, hat er sich an die Stelle Gottes oder der Natur gesetzt – aber wissen wir, ob Gott nicht den Tod Abels gewollt, vorhergesehen oder ihn – die Freiheit Kains respektierend – nicht zumindest zugelassen hat? In jedem Fall liegt darin die höchstpersönliche Dialektik Kains: er hat als Vollstrecker göttlichen Willens gehandelt – und war doch ein Sünder. Und er hat seinen Mitmenschen ein Problem geschaffen, das ihn zu einer zentralen Figur des Zivilisationsprozesses macht.

    Von nun an ist alles anders – neben dem ordinären Elend, das der Herr verkündet hat, ist jener plötzliche, außergewöhnliche Tod in die Welt gekommen, der sich wohl von jenem sanften Tod unterscheidet, den Adam einem Apokryph zufolge mit 900 Jahren erlitten haben soll. Die Freiheit hat von nun an zwei Seiten – der Mensch kann sündigen, aber auch zum Opfer der Freiheit eines Anderen werden. Seither ist die Angst da. So täuscht die karge Erzählung der Jahwistin eine Einfachheit vor, die sie nicht hat, doch gleichzeitig präsentiert sie Konstellationen, die seither unzählige Male variiert wurden. Vor allem aber sind wir schon zu Beginn der Lektüre des »Buchs der Bücher« mit jenem in der Populärkultur unendlich zelebrierten Dreieck Opfer – Täter – Ermittler ebenso konfrontiert wie mit den zahllosen Relationen, die zwischen ihnen herrschen, und mit den Nebenfiguren: mit jenen, die das Motiv darstellen – wie etwa die apokryphe schöne Lebuta –, und mit den trauernden Überlebenden und Nachkommen. Auch die Frage nach dem Zweck und der Angemessenheit einer Strafe stellt sich uns erstmals.

    Gewiss, dieser Mord ist nicht rätselhaft, die Ermittlungen sind kurz, denn Gott ist allwissend. Doch trotz dieser kargen Ausstattung ist das keine eindimensionale Geschichte, sie ist im Gegenteil untergründig komplex und lässt viele Lesarten zu – und an diesen Lesarten arbeiten sich die Schwestern Philosophie, Wissenschaft und Kunst bis heute ab. Um nur ein Beispiel zu nennen, dem wir – in abgewandelter Form – in unseren Filmen noch oft begegnen werden: Ist das Verbrechen des Kain nicht eine quasi nachvollziehbare Reaktion auf sein übles Geschick, dass Gott sein Opfer nicht angenommen hat, oder gibt dieses Geschick nicht viel eher Auskunft über den üblen Charakter des späteren Delinquenten, der dem Herrn bekannt war? Auch dem leugnenden Verdächtigen, der nur gesteht, was man ihm beweist, werden wir noch oft begegnen: Okay, das gebe ich zu, ich will keine Verantwortung für meinen Bruder übernehmen, Mord ist nicht meine Sache, okay, ich war’s, das gebe ich zu, aber dafür habe ich gute Gründe, und was geschieht jetzt mit mir, ich will meinen Deal.

    Damit sind wir im Heute angelangt, und selbst die andeutungshafte Erzählweise der Jahwistin und ihre Verrätselungsstrategie machen es leicht, aus ihrem Text jene berühmten, aufeinanderfolgenden Fragen abzuleiten, welche die Achse der narrativen Struktur unserer Filme bilden: Was ist geschehen? / Wer war das Opfer? / Wer war der Täter? / Warum hat er gemordet? / Wer hat die Tat aufgeklärt? / Wie ist die Tat aufgeklärt worden?

    Das sind einfache Fragen, doch sie ergeben sich aus der einfachen Sozialstruktur, die Bühne des ersten Mordes war. In unserer heutigen Gesellschaft – urbanisiert, individualisiert, mobil, säkularisiert, profitorientiert, konsumistisch, dekadent, um nur einige der infrage kommenden Adjektive zu nennen – hat jede dieser Fragen unzählige Variablen, die in der medialen Befassung mit Kains Tat durchgespielt werden. Die möglichen Kombinationen sind unendlich, Psychologie und Soziologie intervenieren und vor allem wechselt der Modus des Erzählens in den verschiedenen Medien. Es gibt eine Kontinuität: Immer noch tötet Kain den Abel, das ist wohl der Gesellschaft eingeschrieben; und eine Diskontinuität: Die Bedeutungen, die dieser Vorfall hat, ändern sich ständig. Der Herr hat keines der im Text enthaltenen Rätsel gelöst, sondern sie durch sein Handeln erst konstituiert. Die populärkulturellen Nachfolger der Jahwistin haben die Frage vom angsterregenden »Was« zum ästhetisch und intellektuell aufgeladenen »Wer, wie, warum« verschoben. Nebenaspekte nahmen mehr und mehr zentrale Rollen ein, der Mord blieb auf jene Sekunde reduziert, die ihm auch die Jahwistin gegeben hat, doch die Person des Ermittlers – den sie nicht benötigte – rückte ins Zentrum. Ermittler – und spätestens seit Agatha Christies Miss Marple ihre weiblichen Pendants, die wir nur im Ausnahmefall extra kenntlich machen werden –, das waren jene, die das herausfinden wollten, was der Herr von Anfang an gewusst

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1