Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Patientenrache: Ein Fall für Roland Bernau
Patientenrache: Ein Fall für Roland Bernau
Patientenrache: Ein Fall für Roland Bernau
Ebook333 pages3 hours

Patientenrache: Ein Fall für Roland Bernau

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Unbekannte verprügeln im Frankfurter Bahnhofsviertel einen Mann und verletzen ihn schwer. Einige Tage später wird in Bad Homburg ein anderer Mann auf offener Straße zusammengeschlagen und auf die Intensivstation gebracht. Obwohl beide Opfer Sachbearbeiter bei der gleichen Wiesbadener Versicherung tätig waren, glaubt die Polizei nicht an einen Zusammenhang. Doch dem Zufall bleibt bei der Abteilungsleiterin selten etwas überlassen und somit beauftragt sie Privatermittler Roland Bernau mit dem Fall. Während seiner Recherchen in den Akten der Versicherung wird dem agilen Ex-Polizist schnell klar, dass es sich bei den Schadensfällen, an denen die beiden Männer zuletzt gearbeitet hatten, um Probleme in Kliniken handelte, und zwar hauptsächlich im Taunus. Ein Termin mit dem ehemaligen Chefarzt, Prof. Dr. Krahe, dessen Meinung öfters von Richtern und Staatsanwälten angeforderte wurde, soll Informationen und Einblicke für den Ermittler bringen. Doch der inzwischen deutlich über siebzig Jahre alte Mann wird kurz vorher vor einem Bordell brutal zusammengeschlagen und stirbt.
Wer sind die Angreifer, die auf einem auffälligen Motorrad davonfuhren?
Und was hat der pensionierte Chefarzt aus Fulda mit dem Frankfurter Rotlichtviertel zu tun?

Olaf Jahnke liefert eine spannende Geschichte über Vertrauen, Betrug und Gesundheit, basierend auf Ereignissen, die er im Rahmen seiner jahrelangen Arbeit für Fernseh- und Zeitungsreportagen erlebt hat. Seine Erfahrungen und Kontakte ermöglichten ihm, diesen packenden Krimi zu schreiben. Privatermittler Roland Bernau durchstreift bereits zum zweiten Mal das Rhein-Main-Gebiet und gerät ins Kreuzfeuer von Versicherungsinteressen, medizinischen Schadensfällen, Patientenbedürfnissen und den Mächten der Justiz. Die menschlichen Schicksale, die hier beschrieben werden, sind – leider – bittere Realität.
LanguageDeutsch
Release dateSep 8, 2016
ISBN9783957711052
Patientenrache: Ein Fall für Roland Bernau

Related to Patientenrache

Related ebooks

Mystery For You

View More

Related articles

Reviews for Patientenrache

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Patientenrache - Olaf Jahnke

    BIOGRAPHISCHES

    Intensivstation

    Sein Gesicht war nicht schön anzusehen. Die Augen zugeschwollen, die Lippen aufgeplatzt, eine Strähne klebte blutverkrustet an der Stirn. Aber Johannes Schneider lebte. Die Krankenschwester hielt ihm ein Glas Wasser an den Mund. Er schaffte nur kleinste Schlucke, sein Adamsapfel bewegte sich mühevoll auf und ab.

    »Ich glaube nicht an einen Zufall.« Nicole Helms schaute mit zusammengekniffenen Augen durch die Glasscheibe in die Intensivstation. »Herr Schneider ist der zweite Kollege innerhalb einer Woche. Genau wie Tobias Güthling arbeitet er in unserer Schadensabwicklung. Es sind grundsolide Familienväter, Versicherungsangestellte wie aus dem Bilderbuch, sie haben schon ihre Ausbildung bei uns gemacht.«

    Die Helms verschränkte ihre Arme und drehte sich zu mir um.

    »Bestehen zwischen den beiden private Kontakte? Gemeinsame Interessen, irgendwelche Verbindungen außerhalb der Versicherung?«, fragte ich.

    »Ab und zu unternehmen wir was alle zusammen, unsere Gruppe oder die ganze Abteilung. Aber ob sie sich sonst noch getroffen haben, vermag ich als Abteilungsleiterin nicht zu sagen. So gut kenne ich die beiden nicht.«

    Der Mann sah echt übel aus. Die Schwester tupfte seine Lippen ab, überprüfte den Infusionstropf und zuppelte die dünne Decke zurecht.

    »Unser Herr Schneider ist eher ein Biedermann. Herr Güthling wirkt auf mich lebenslustiger. Zumindest bis zu diesem Zwischenfall. Dass jetzt einer nach dem anderen brutal zusammengeschlagen wird …«

    Sie strich über ihre schwarzen Haare, die in einer Art modernem Dutt endeten.

    »Sie können mit Herrn Güthling reden, er ist seit zwei Wochen krankgeschrieben. Zum Glück befindet er sich bereits auf dem Weg der Besserung. Er lebt in Wiesbaden, ganz in der Nähe von unserem Gebäude. Seine Adresse.« Sie reichte mir einen Notizzettel mit der Anschrift. »Anschließend könnten Sie bei uns im Büro vorbeischauen.«

    Das war keine Frage.

    »Wo wohnt die Familie Schneider?«

    »Hier in Bad Homburg, Moment bitte.« Sie wischte ein paar Mal über ihr Smartphone, tippte kurz. »Ich hab’s Ihnen gemailt.«

    »Was sagt die Kripo?«

    »Sie schließen einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen nicht aus. Allerdings ließen mich die Herren in Frankfurt und Bad Homburg spüren, dass sie diese Idee für etwas überkandidelt halten. Wer lauert schon Sachbearbeitern einer kommunalen Versicherung gezielt auf und verprügelt sie nach Strich und Faden? Sie sehen die Ursache eher als Zufall oder private Verstrickungen.«

    Mein Auftraggeber besaß in der Tat das Charisma eines eingetrockneten Käsebrötchens. Sie versicherten die Risiken von Städten und Gemeinden. Ich musste mich schlaumachen, ob es nur um Schlaglöcher in maroden Straßen ging oder ob mehr dahinter steckte. Beamte machten manchmal Fehler, die teuer wurden. Einen Kreuzzug gegen die Angestellten konnte ich mir auch nur sehr schwer vorstellen. Mein Honorar stimmte jedenfalls.

    »Warum warten Sie nicht die Ermittlungsergebnisse meiner ehemaligen Kollegen ab?«

    »Ich bezweifle, dass da noch was kommt. Das Thema muss im Haus vom Tisch. Es verbreitet Unruhe unter den Mitarbeitern. Falls es tatsächlich was mit uns zu tun hat, will ich das geklärt wissen.«

    »Haben Sie eine Idee, ein besonderer Fall, etwas, was die beiden verbindet und ihnen vielleicht Probleme bereitet hat?«

    Sie überlegte, strich sich langsam über die Stirn.

    »Das werden wir abgleichen. Ich setzte meine Leute sofort dran.«

    Es war ihr unangenehm, dass ihre Abteilung, und damit sie selbst, in derart rüde Dinge verstrickt war. Der Anruf eines Sicherheitsbeauftragten der Versicherung in meinem Büro kam ziemlich schnell nach dem zweiten Überfall. Sie wollten nicht auf die Ermittlungsergebnisse der Kripo warten. Gerade deshalb schien mir der Grund für diese brutalen Aktionen im Unternehmen zu liegen.

    Die Krankenschwester guckte sich kurz die Werte auf den piepsenden Überwachungsmonitoren an, stellte einen Sichtschutz vor Schneiders Bett und öffnete die Tür zum Flur.

    »Was denken Sie, wann wir mit ihm reden können?«, fragte ich sie.

    »Jederzeit, aber ich bezweifle, dass er Ihnen in den nächsten beiden Tagen antwortet.«

    Unter ihrem messerscharfen, schwarzen Pony schaute mich die Schwester, Sabine stand auf ihrem Namensschild, mit einem zurückhaltenden Grinsen an.

    »Wie schwer sind seine Verletzungen?«

    Ihr Lächeln verschwand.

    »Er hatte Glück, meinte der Oberarzt vorhin. Seine gebrochenen Rippen haben die Lunge angekratzt. Es fehlten bloß ein paar Millimeter, und die Knochensplitter hätten sie aufgeschlitzt. Die Dachlatte hat ihre Spuren hinterlassen.«

    Ich nickte nur, und sie schlappte in ihren weißen Birkenstock zum nächsten Kunden. Allzu viel wusste ich nicht vom genauen Tathergang. Es passierte in der Fußgängerzone am Samstagabend. Zwei Typen mit Motorrad lauerten Schneider auf und verprügelten ihn heftig mit besagter Latte. Mein Besuch in der Polizeidirektion würde mir hoffentlich neue Erkenntnisse bringen. Ralf Schmitz hatte ich vorgewarnt. Mein ehemaliger Kollege und jetziger Leiter des Kommissariats hielt mit den Details von Tatumständen zum Glück selten hinter dem Berg. Schließlich nahm ich ihm Arbeit ab. Wenn es gut lief.

    Vor der Hochtaunusklinik wehte ein frischer Wind. Der Neubau auf dem Zeppelinfeld überragte die Gebäude in der Nachbarschaft, ein Notarztwagen raste mit Blaulicht und Martinshorn um die Kurve in Richtung Notaufnahme.

    Ich verabschiedete mich von Frau Helms und ging zu meinem nagelneuen Auto. Das Alte hatte meinen letzten Fall nicht überlebt.

    Doppelhaushälfte

    Bis zum Mittagessen war noch Zeit, ich liebäugelte mit dem Thai in der Louisenstraße. Der Mann auf der Intensivstation wohnte mit seiner Familie im Bad Homburger Stadtteil Kirdorf. Von der Klinik über den Hessenring, den Gluckensteinweg hoch, erreichte ich in fünf Minuten ein Wohngebiet aus den 90er Jahren. Nesselbornfeld, auf der einen Seite Mehrfamilienhäuser, auf der anderen kleine Doppelhaushälften. Am Rande der City, überragt vom Herzberg und durchdrungen von viel Grün. Hier lebte der Mittelstand. In dieser Stadt lagen die Mieten nirgendwo niedrig, in dieser Ecke noch höher. Vor Schneiders Haus stand ein Ford Mondeo, die Nachbarn gaben mehr Gas. SUV, bayrische und schwäbische Kombis führten auf der Beliebtheitsskala. Vier Fahrräder parkten fein säuberlich neben der Haustür. Den Blick in die Küche stoppten Halbgardinen aus Leinen mit geklöppeltem Saum, eine Gans aus Holz wachte vor dem Eingang. Ich drückte den Klingelknopf, ein sonorer Gong ertönte. Nach ein paar Sekunden hörte ich schnelle Schritte eine Treppe hinunter trappeln. Die Tür öffnete sich, eine Frau wischte sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

    »Roland Bernau ist mein Name. Frau Schneider?«

    »Ja?«

    »Ich bin Privatermittler und recherchiere für den Arbeitgeber Ihres Mannes. Es geht um den Überfall.«

    »Kommen Sie bitte rein.«

    Sie sprach leise, wirkte zerfahren. Im schmalen Flur stapelten sich an der Garderobe Jacken, Fahrradhelme und Rucksäcke.

    »Entschuldigen Sie, ich bin gerade beim Hausputz und kämpfe mich allmählich von oben nach unten durch.«

    »Kein Thema, ich bin ja auch vollkommen unangemeldet aufgetaucht.«

    Sie ging voran ins Wohnzimmer, schnappte sich schnell die Klamotten auf den Esszimmerstühlen und legte sie auf das Sofa. In der offenen Küche türmte sich das schmutzige Geschirr rund um den Herd.

    »Bitte.« Sie wies auf einen der Stühle. »Ich fahre nachher wieder ins Krankenhaus. Jetzt muss ich erst mal schauen, dass hier nicht völlig Land unter ist. Die Kinder kommen gleich aus der Schule. Der Hunger unseren beiden Jungs ist mein ständiger Gegner.«

    »Ja, kenn̕ ich.«

    »Sie haben auch Kinder?«

    »Nein, aber gerne Hunger.«

    Sie lachte. »Entschuldigung, eigentlich habe ich wirklich keinen Grund zu lachen. Haben Sie meinen Mann in der Klinik gesehen?«

    »Ja, vorhin.«

    »Wie geht es ihm?«

    »Er war, na ja, wach, jedoch sehr benommen. Es wird wohl noch einige Tage dauern, bis er sich einigermaßen berappelt hat.«

    »Der Arme. Mein Gott, wieso haben diese Typen ausgerechnet ihn so zugerichtet!« Sie stützte ihren Kopf mit beiden Händen ab, die Ellbogen auf der Tischplatte. »Ich verstehe das nicht. Bad Homburg ist doch echt ein ruhiges Nest. Und jetzt das!«

    »Haben Sie eine Vermutung? Hatte er sich mit irgendjemandem angelegt?«

    »Nein! Johannes ist ein friedlicher Mensch. Der tut keiner Fliege was zuleide.«

    »Warum war er alleine um Mitternacht in der Louisenstraße unterwegs? War er in der Spielbank oder mit Freunden essen?«

    »Weder noch, er geht gerne Tanzen. Am Samstag war ich gestresst, der Kleine hatte Fieber. Mich stört es nicht, dass er ohne mich loszieht.«

    Ich glaubte ihr. Wahrscheinlich freute sie sich über einen ruhigen Abend.

    »Wenn Sie eine Idee haben, rufen Sie mich bitte an?« Ich reichte ihr meine Visitenkarte. Viel normaler ging es wirklich nicht. Ein deutscher Durchschnittshaushalt, etwas gehobener vielleicht, das war es aber auch schon.

    Von hier aus waren es nur ein paar hundert Meter zur Polizeidirektion Bad Homburg. Ich ließ den Wagen stehen und lief das Stück.

    Polizeidirektion

    Jedes Mal. Dieser fein säuerliche Dienststellengeruch lag bestimmt an dem bundeseinheitlichen Reinigungsmittel. Irgendwo mussten davon Millionen Liter lagern. Aus Schmitz̕ Büro hörte ich ausnahmsweise kein Geschrei. Sollte er tatsächlich mit seinen Mitarbeitern und den aktuellen Ermittlungen zufrieden sein? Ich öffnete die Tür, ohne vorher anzuklopfen.

    »Morgen, Ralf! Wie geht es dir?«

    Mein Grinsen wollte raus, als ich merkte, dass ich ihn in einem Pfeifkonzert unterbrochen hatte. Ralf und Mozart, ganz neue Qualitäten. Die letzten Töne der Zauberflöte erstarben auf seinen wulstigen Lippen, und er erwiderte meinen Gruß.

    »Guten Morgen, Roland. Schön, dich zu sehen.«

    »Was ist denn mit dir los? Hast du ein Benimmseminar besucht?«

    »Urlaub! Drei Wochen, nur noch vier Tage ein paar kleinen Fischen zu einem Geständnis verhelfen, dann bin ich fort.«

    »Das ist schön. Kannst du mir vorher die Akte zum Fall Schneider zeigen?«

    Ralfs massiger Körper plumpste in den Chefsessel.

    »Solange du aus einer schweren Körperverletzung keine Staatsaffäre machst, ist alles in Ordnung. Aber dein letzter Fall hängt mir noch nach.«

    Freundlicherweise hatte Ralf mir schon des Öfteren sehr geholfen. Beim letzten Mal hatten meine Ermittlungen tatsächlich größere Kreise gezogen.

    »Nein, es existiert weder eine Leiche noch spielen Banker eine Rolle. Nur ein Sachbearbeiter mit vielen Prellungen und Blutergüssen.«

    »Na gut. Hoffentlich geht das nicht wieder so ab.«

    Er drehte sich um, griff ins Aktenregal und zog eine kleine Mappe heraus. Er blätterte darin und brummte vor sich hin: »Schwere Körperverletzung, zwei Täter, vermummt, mit einem Geländemotorrad, das Kennzeichen war gestohlen. Lederkombis, mattschwarze Helme. Louisenstraße, auf Höhe des Tanzlokals. Mehrere Zeugen wiesen auf die besondere Brutalität hin. Niemand traute sich einzugreifen. Tatwaffe war eine Dachlatte …« Er kratzte sich am Kopf. »Klingt nicht gerade nach Profis.«

    »Ich dachte, Dachlatten sind seit Holger Börner out.«

    »Tja, irgendwer mag es retro. Besser als eine Wumme.«

    Er schmiss die Akte auf seinen Schreibtisch.

    »Was hast du damit zu tun?«

    Ich erklärte ihm, was mein Auftraggeber von mir wollte, und dass es einen zweiten, leicht verletzten Sachbearbeiter gab.

    »Wo ist das passiert?«, fragte er.

    »In Frankfurt, Nähe Hauptbahnhof, spät abends.«

    »Jetzt machen die Versicherungshansel auf Panik? Was treiben die sich nachts im Bahnhofsviertel rum. Das ist manchmal ungesund.«

    Schmitz ließ seinen Sessel schwungvoll nach hinten kippen. »Ich wusste bislang nichts von diesem zweiten Fall. Der fällt in die Zuständigkeit der Frankfurter Kollegen. Wenn ich aus dem Urlaub komme, schau̕ ich mir dessen Umstände an.«

    »Solange möchte ich nicht warten, meine Kundschaft bestimmt auch nicht.«

    Ich griff mir die Akte. Dachlatte, kein Baseballschläger. Das klang nach einer Warnung. Ein auffälliges Motorrad, Geländemaschine, besonders laut, wahrscheinlich ein großer Zweitakter. Wer hatte heutzutage noch einen Motorradführerschein? Doch eher ältere Jahrgänge. Echte Geländemaschinen fuhren auch nicht so viele durch die Gegend, geschweige denn Zweitakter. Die Zeugen wirkten nicht sonderlich vertrauenerweckend, zwei wegen Körperverletzung vorbestraft, einer mangels Beweisen freigesprochen. Interessantes Tanzlokal. Oder hielten die sich nicht zufällig zu dem Zeitpunkt dort auf? Ich musste die Genesung Schneiders abwarten und heute Nachmittag diesen Güthling ausquetschen. Ich gab Ralf die Akte zurück.

    »Einen schönen Urlaub wünsche ich dir.«

    »Ich werde an dich denken, wenn die fangfrischen Garnelen im Knoblauchöl brutzeln.«

    Die spärlichen Protokolle von Ralfs Kollegen brachten mich nicht weiter. Immerhin kein Raubüberfall oder eine spontane Prügelei. Ich war gespannt, was mir der andere Versicherungsmensch erzählen würde.

    Der Gedanke an Garnelen wollte nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden. Wie geplant fuhr ich in die Bad Homburger Stadtmitte, parkte meinen Wagen in der Tiefgarage am Schloss und spazierte zum Thai neben der Buchhandlung. Die Nummer 32 mundete ausgezeichnet. Mein Neid auf Schmitz war einstweilen abgemildert. Für gutes Essen musste man sich nicht in den Flieger setzen. Nur der Sonnenuntergang hinter der rollenden Brandung, mit einer leichten salzigen Brise die Hitze des Dschungels mildernd, das fehlte in der Louisenstraße.

    Büro

    Ich tippte die Adresse von diesem Güthling ins Navi. Wiesbaden-Bierstadt, ein dörflicher Ortsteil am Rande der sonst so mondänen Landeshauptstadt. Der kürzeste Weg von Bad Homburg nach Wiesbaden führte über die B455. Auf halber Strecke bog ich in Richtung meines Büros ab. Die Schranken des Bahnübergangs stoppten die Blechlawinen zwischen Fischbach und der Kelkheimer Stadtmitte. Welche Stadt hatte das noch zu bieten, meditative Pausen mit Aussicht auf einen Triebwagen.

    Für meinen Zwischenstopp parkte ich in unserer verkehrsberuhigten Zone unter den missbilligenden Blicken der Friseurmeisterin direkt vor ihrem Eingang. Sie schüttelte den Kopf, während sie mit einem Quast ihrer Kundin Farbe auf die Haare tupfte.

    Ich verkniff mir den Aufzug, sprintete die Treppen hoch und trat vollkommen atemlos ins Büro.

    »Seit wann hast du Asthma?«

    Susannes ostwestfälischer Humor war so trocken wie mein Hals. Sie schaute keine Sekunde vom Bildschirm auf, ihre Finger flogen über die Tastatur. Wenigstens entdeckte ich auf dem Monitor relativ große Zahlen, oben drüber stand Rechnung. Susanne Söllner managte die Detektei, ohne sie würde hier das Chaos regieren, speziell in der Buchhaltung.

    »Das ist die stickige Luft. Außerdem schwammen zu viele Chilis im Essen. Das wirkt nach.«

    Sie unterdrückte ein merkwürdiges Geräusch aus den Tiefen ihrer Kehle, das meine Behauptungen irgendwie anzweifelte.

    »Der Kühlschrank steht randvoll mit Selters, Saft und Milch.«

    »Danke schön.« Ich ging in unsere Küchenecke, füllte mir ein Glas Wasser ein und verzichtete auf die Donauwelle.

    »Suchst du mir Infos über diese Kommunal-Versicherung heraus? Bitte auch zu den beiden Opfern, soweit sie im Internet unterwegs sind.« Ich gab ihr ein Blatt mit den spärlichen Informationen der Personalabteilung. »Bei dem einen war ich bereits, zu dem anderen fahr̕ ich gleich.«

    »Natürlich.« Die Rechnung brummte dreifach aus dem Drucker. »Wie geht es Julia?«

    »Ich werde sie heute in der neuen Klinik besuchen.«

    Susanne nickte. Auf ihrem Computerbildschirm tauchte die Internetseite der Versicherung auf. Ihr Kundenkreis bestand aus Städten, Gemeinden, Landkreisen und deren Betriebsgesellschaften. In den letzten Jahren schwappte eine Privatisierungswelle durch die öffentlichen Einrichtungen, viele dieser Gesellschaften blieben im Besitz der Steuerzahler. Dazu gehörten Mülldeponien, Wasserwerke, Krankenhäuser und kleinere Stromversorger. Die Schadensfälle meiner Opfer hingen also nicht nur mit Verwaltungschefs und Beamten zusammen, sondern auch mit eigenen wirtschaftlichen Beteiligungen. Hier entstanden möglicherweise andere Probleme als Schlaglochschäden. Frau Helms musste mir eine detailliertere Auflistung zu den Aktivitäten ihrer Abteilung geben. Andererseits hatte mich das Unternehmen beauftragt, und nicht sie. Ich sollte mit ihrem Chef oder besser mit dem Vorstand reden.

    Wiesbaden

    Die Bundesstraße schlängelte sich durch Eppstein, vorbei an Burg und Kaisertempel und unter der A3 nach Köln hindurch, bevor die ersten ländlichen Stadtteile von Wiesbaden auftauchten. Bierstadt lag am Kern der Landeshauptstadt. Hinter dem Ortsschild lachte mich ein Blitzgerät an, zum Glück kannte ich es. Beim Bäcker rechts ab, zwei Seitenstraßen weiter erstreckte sich eine Neubausiedlung bis zum Feldrand. Die Autos kleiner als in Bad Homburg, nicht nur deutsche Wagen, auch Franzosen und Koreaner parkten vor den Garagen. Ich hatte meinen Besuch nicht angekündigt, weil ich keine Lust auf Ausreden oder krankheitsbedingte Unpässlichkeiten verspürte. Das Namensschild sah selbstgetöpfert aus, alle Vornamen der Familie in Weiß auf tonfarbenem Grund mit dem Schwung einer Mädchenhandschrift. Tobias, Sophia, Linea und Jakob erwarteten mich. Ein dezenter Klingelton löste sofortiges Kindergeschrei aus.

    »Nein, Linea, es ist noch nicht deine Freundin«

    Die Haustür hatte sich nur einen Spalt geöffnet. Ich brauchte einen Moment, bis ich registrierte, dass mich ein Gesicht von unten anschaute, unterhalb des Türgriffs.

    »Wer bist du?«

    »Ich bin der Roland. Bist du Linea?«

    »Woher weißt du meinen Namen?«

    »Ich habe deine Mama rufen hören, und er steht auf eurem Schild.«

    Ich zeigte darauf und die Tür schwang auf. Linea war neugierig, der dunkelhaarige Lockenkopf stolperte über die Türschwelle, blickte zum Schild und tippte mit den kleinen Fingern auf ihren Namen.

    »Ich hab̕ dir doch gesagt, dass du nicht einfach die Tür öffnen darfst!«

    Linea verschwand mit einer Mischung aus Kreischen und Weinen im Haus.

    »Entschuldigen Sie, Linea macht, was sie will.«

    Das Kind kam eindeutig nach der Mutter.

    »Nein, es ist meine Schuld, ich platze vollkommen unangemeldet rein. Es geht um den Überfall auf Ihren Mann. Ich ermittle im Auftrag seines Arbeitgebers.«

    Ihr Blick und die Mundwinkel sahen nicht nach Begeisterung aus. Sie deutete ein Nicken nur an und wies in Richtung Wohnzimmer. Die Schuhe standen in perfekter Linie unter der Garderobe. Kleine, rahmenlose Leinwände mit abstrakter Kunst hingen im Flur, die Bilder im Wohnbereich waren deutlich größer. Hier hatte jemand Spaß an einer repräsentativen Kulturausstattung. Auf dem bulligen Ecksofa saß ein Mann und wischte mit dem Zeigefinger über sein Smartphone.

    »Schatz, das ist Herr Bernau. Er möchte dir wegen des Überfalls ein paar Fragen stellen.« Sie versuchte zu lächeln.

    Tobias Güthling drehte sich zu uns um. Ihn hatte man zwar nicht im Krankenhaus behalten, aber zufrieden sah anders aus. In seinem Gesicht zeichneten sich die Spuren der Attacke ab. Vom linken Ohr bis zum Kinn sprenkelte Schorf die Haut. An der Stirn lief die feine Linie einer heilenden Platzwunde. Er trug ein T-Shirt, das die krassen Blutergüsse an Hals und Oberarmen nicht verdeckte. Die Anzahl und Heftigkeit der Treffer verriet die Härte des Angriffs. Eine Rempelei würde ich das nicht nennen.

    »Polizei? Mit Ihnen hatte ich eigentlich gar nicht mehr gerechnet.«

    »Ich bin Privatermittler, Ihre Chefin schickt mich.«

    »Sollen Sie gucken, ob ich wieder arbeitsfähig bin?« Seine Stimme klang zynisch und belustigt zugleich.

    »Nein, sie möchte wissen, was hinter den Überfällen steckt. Ihr Vertrauen in die Kripo ist wohl etwas zurückhaltend.«

    »Wieso Überfälle? Es war doch nur einmal?«

    »Ach, Sie haben es noch gar nicht gehört?«

    Er zog die Augenbrauen zusammen. Ich setzte mich auf das Sofa, seine Frau nahm neben ihm Platz.

    »Ihr Kollege Schneider liegt auf der Intensivstation in Bad Homburg. Sein Zustand ist deutlich ernster als Ihrer.«

    Sein Gesicht verlor an Farbe, was die Spuren der Schlägerei hervortreten ließ.

    »Erzählen Sie mir bitte, was passiert ist.«

    »Wir hatten ein Meeting in Frankfurt. Beim Regionalen Planungsverband, in der Poststraße, gegenüber vom Hauptbahnhof.« Er machte eine kurze Pause, ich konnte regelrecht die Geschehnisse hinter seiner Stirn entlang marschieren sehen. Seine Augen schauten durch das Terrassenfenster in den kleinen Garten.

    »Ich bin zum Fotohändler in die Taunusstraße gegangen. Die haben Profi-Zeitschriften und Kameras, die ich mir zwar nicht leisten kann, aber gerne anschaue.«

    »Um welche Uhrzeit?«

    »Viertel vor sieben. Es waren nicht mehr viele Leute unterwegs. Auf dem Rückweg ist es passiert.«

    »Zwischen Taunusstraße und Bahnhof?«

    »Ja, so ungefähr. Ich hatte Lust auf ein Eis, am Ende der Kaiserstraße ist eine gute Eisdiele.«

    »Ja, kenn’ ich, im Kaisersack.«

    »Kaisersack?« Sophia Güthlings Stimme klang erstaunt.

    »So heißt dieser Teil, eine Art Sackgasse«, erklärte ich ihr. »Früher schlichen da nur die Junkies um die Rolltreppen zur Unterführung zum Hauptbahnhof. Wer jetzt noch Heroin braucht, bewegt sich eher in der Nähe der Fixerstuben oder ist auf Methadon als Therapie.«

    Sie schaute mich an, als ob ich ihr einen extrem unsittlichen Antrag gemacht hätte.

    »Okay, Sie haben Ihr Eis geholt.«

    »Ja, ich bin für einen Moment dort stehen geblieben.« Auf einmal schluckte er. »Das Motorrad stand plötzlich neben mir. Der Sozius sprang ab, er hatte einen riesen Stock dabei.«

    »Einen Stock?« Ich wunderte mich. »Vielleicht eine Art Dachlatte?«

    Er schüttelte den Kopf. »Nein, eher von einem alten Busch, kein harter Knüppel. Das Ding traf mich wie eine Peitsche. Ich habe geschrien, er soll aufhören. Immer wieder. Ich dachte, er zerfetzt mir die Haut mit dem Prügel! Es hat wahnsinnig geknallt. Ich reiß’ die Arme hoch, um meinen Kopf zu schützen. Er schlug mit voller Wucht in meinen Nacken, auf meinen Rücken. Vor Schmerzen bin ich in die Knie gegangen. Plötzlich hörte es auf. Ich hab mich

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1