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Liminale Personae
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Ebook103 pages1 hour

Liminale Personae

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"Wir wollen eure Freiheit nicht!"
Jahrzehnte nach einer verheerenden Zombie-Epidemie. Die Zivilisation, wie wir sie kannten, ist zerstört, die wenigen Überlebenden haben sich in kleine Siedlungen zurückgezogen. Eine Gruppe junger Menschen stellt das vorherrschende Gesellschaftsmodell der "Stadt" in Frage und wird verbannt. Unter ihnen auch Nihile, die vor die Wahl gestellt wird, in welcher Umgebung sie leben möchte – Wildnis, eine scheinbare Demokratie oder eine monarchistische Regierung?
Wie individuell kann man sein, wo wird der Individualismus zu Egoismus? Und wie ideal darf man denken, wenn man überleben möchte?
Ein Coming of Age-Roman mit phantastischem Hintergrund.
LanguageDeutsch
PublisherAmrûn Verlag
Release dateAug 26, 2016
ISBN9783958690288
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    Liminale Personae - Alessandra Reß

    1.

    SEPARATION

    »Wir wollen eure Freiheit nicht!«

    Wie ein Peitschenhieb knallte der Ruf durch die Reihen der Demonstranten, brachte ihre uneinheitlichen Schreie der Wut zum Schweigen. Alle Augen richteten sich auf einen dunkelhaarigen Mann, der auf den Sockel der Uhr im Zentrum des Großen Platzes geklettert war. Er musste sich mit der linken Hand an eine der Ziffern klammern, um nicht abzurutschen, schaffte es aber irgendwie, durch diese Haltung umso entschlossener zu wirken.

    Unbeirrt von der Aufmerksamkeit seiner Mitstreiter sprach er weiter, den Blick zur Fassade des rechteckigen Klotzes gerichtet, in dem sich unsere schweigenden Feinde verbargen. »Wir wollen eure Freiheit nicht, weil sie eine Lüge ist. So wie alles, was ihr uns lehrt. Eure Demokratie ist Diktatur. Eure Freiheit ist ein Gefängnis mit vielen Zellen. Eure Geschichten über die Vergangenheit sind Märchen. Eure Sicherheit sind Fesseln. Und das Schlimmste ist: Ihr macht daraus nicht einmal ein Geheimnis. Ihr lehrt uns die Zeiten der wahren Freiheit und haltet uns zu Narren, während das Symbol unserer Unterdrückung mit eisernem Hohn auf uns herabschaut.« Mit seiner freien Hand deutete er nach rechts, wo in der Ferne die Zinnen der gewaltigen Mauer aufragten, die die Stadt auf drei Seiten von der Außenwelt abschirmte.

    Der Geste folgte ein kollektiver Wutschrei aus den Reihen der Demonstranten, und zu meiner Überraschung merkte ich, wie auch ich einfiel.

    Eigentlich hatte ich gar nicht herkommen wollen. Die unter einer Fassade nervöser Ruhe brodelnde Aufregung, die viele meiner Freunde erfasst hatte, nachdem die ersten Gerüchte der geplanten Demonstration an unsere Ohren gedrungen waren, hatte mich höchstens befremdet.

    Was scherte es die Gesichtslosen schon, ob wir unsere Wut herausbrüllten? Sie hatten sich für keine der vorangegangenen Demonstrationen interessiert und sie würden sich auch um diese nicht kümmern. Es war der übliche Gang der Dinge in der Stadt, dass sich einige beschwerten und sich doch nichts änderte. Dafür hatten alle viel zu viel Angst vor dem Unbekannten, das die einzige Alternative zu unserem sicheren Gefängnis war.

    Im Grunde war das normal für mich, denn das war die Welt, die ich gewohnt war, die einzige, die ich kannte. Und es war nie meine Art gewesen, meine Wut und Enttäuschung in die Öffentlichkeit zu tragen. Ich war nur mitgekommen, weil mich Mona, eine Bekannte aus der Nachbarschaft, im wahrsten Sinne des Wortes mitgezogen hatte.

    Doch nun konnte ich nicht verhindern, ja, wollte ich nicht verhindern, dass der geballte Zorn der Masse, in Worte gefasst von dem jungen Wortführer an der Uhr, mich an diesem Ort erfasste. Im Gegenteil. Ich ließ mich von der Welle mitreißen, spürte sogar einen Hauch von Euphorie, eine Ahnung von Hoffnung, fast den Glauben daran, vielleicht doch etwas verändern zu können. Nicht auf ewig gezwungen zu sein, in dem Kreislauf aus Verpflichtungen und zerbrochenen Träumen festzuhängen.

    Als der Mann hinter der fast fensterlosen grauen Fassade unserer Regierung zurief, sie solle sich uns, der Zukunft der Stadt, der sie angeblich diene, stellen, da empfand ich seine Worte nicht als Pathos, sondern als Ausdruck eines Gerechtigkeitsgeistes, den ich schon lange unter dem Schleier der Resignation begraben wähnte.

    Aber natürlich geschah nichts. Falls sie überhaupt in dem Gebäude waren, so blieben die Gesichtslosen in ihrem Klotz, lachten wahrscheinlich in ihren Kammern über diesen Haufen Kinder, der seinen Frust hinausschrie und für ein paar Momente tatsächlich glaubte, etwas ändern zu können.

    Es war letztlich genau dieses Schweigen, diese Demonstration von Gleichgültigkeit, die meinem Zorn eine Verzweiflung beimischte, die dafür sorgte, dass ich mich mit dem Bad in der Menge aus Gleichgesinnten nicht mehr zufrieden geben konnte.

    Wie von Sinnen und mir selbst völlig fremd rannte ich auf das quadratische Gebäude zu, trommelte gegen das mir nächstgelegene Tor, als sei es nicht der Eingang zum Herz meines Gefängnisses, sondern sein Ausgang.

    »Warum lehrt ihr uns Vielfalt, wenn es nur Einfalt ist, die ihr wollt?«, rief jemand, und es dauerte einige Momente, bis mir klar wurde, dass ich selbst dieser Jemand war.

    Als ich mich nach gefühlten Stunden tränenüberströmt und entkräftet zu Boden sinken ließ, die Finger blutig von meinen Versuchen, namen- und gesichtslose Menschen aus ihrem namen- und gesichtslosen Klotz zu locken, bot sich mir ein verstörendes Bild.

    Ich war nicht die Einzige, die ihrer Wut schließlich auf individuelle Weise Ausdruck verliehen hatte. Der Uhr fehlten die Zeiger und einige Ziffern, der Boden und die Gebäudewände waren mit faulem Obst übersät. Einige versuchten, die wenigen Fenster mit Steinen und brennendem Müll zu bewerfen, aber die meisten der Geschosse fielen nur herab, trafen sogar fast ein Mädchen, das unter einem der Fenster stand und eine heftig blutende Wunde am Arm dazu nutzte, mit dem Blut etwas an die Wand zu schreiben, das meine tränenden Augen nicht erkennen konnten. Für die Geschosse hatte sie keinen Blick.

    Ich weiß nicht mehr, was mich mehr schockierte: der Anblick der sinnlosen Verwüstung auf dem Platz, dieser Teenager, dessen Schmerz weit genug reichte, um sich nicht mehr um seinen Körper zu kümmern, oder diese Leute, die sich nicht darum scherten, wenn ihre Geschosse Unschuldige trafen. Was es auch war, jegliche vielleicht einmal empfundene Euphorie war längst verschwunden, ebenso wie die Wut. Was blieb, war eine tiefe Verängstigung, die mich lähmte, ehe es mir endlich gelang, mich hochzurappeln und dem Schlachtfeld zu entfliehen, das in völliger Anwesenheit von Feinden entstanden war.

    Fast schon panisch lief ich durch die Stadt, stieß dabei beinahe mit einem Schäfer zusammen, der mein Tun mit einem genervten Schnalzen kommentierte und sich sonst ebenso wenig wie die anderen Passanten um das scherte, was wenige Meter entfernt im Herzen ihres Gefängnisses vor sich ging.

    ***

    Meine Mutter, eher verwundert als erzürnt über die Teilnahme ihrer sonst so unpolitischen Tochter an einer Demonstration, erzählte mir später, die Wächter seien nicht eingeschritten. Man hatte die Leute wüten lassen, bis sie wie ich nach und nach von selbst gegangen seien. Inzwischen herrschte wieder Ruhe auf dem Platz.

    Morgen würde man höchstens noch die Köpfe über uns schütteln.

    ***

    Sie kamen am frühen Morgen, um mich abzuholen. Schlaftrunken und von den Ereignissen des vergangenen Tages erschöpft, konnte ich meine Gedanken gar nicht richtig ordnen, als sie plötzlich vor meinem Bett standen, die Körper und Gesichter so verhüllt, dass ich nicht einmal erkennen konnte, ob ich Frauen oder Männer vor mir hatte.

    Unser kleines Haus war ebenso leer wie die Straße, durch die sie mich schweigend führten, meine immer panischeren Nachfragen, was das alles solle, völlig ignorierend. Als wir an der Ecke zum nächsten Gässchen angelangt waren, legten sie mir, noch immer schweigend, eine Binde über die Augen, und als ich aufschreien wollte, knebelten sie mich. Ich hoffte, einer der Nachbarn hatte mich vielleicht zuvor schon gehört und würde bemerken, dass mich diese Fremden fortbrachten. Doch falls dem so war, blieb die erhoffte Hilfe aus.

    Ich stolperte Treppen hinab, und nur die eisernen Griffe der Gesichtslosen hinderten mich daran, zu stürzen. Feuchte Luft und der unebene Boden ließen mich vermuten, dass ich mich unter der Erde befand, aber Panik und Verwirrung beherrschten mich zu stark, als dass ich auch nur einen Hauch von Orientierung hätte haben können. Ich hörte meine hektische Atmung und den gleichmäßigen Schritt der Gesichtslosen, nahm auch einen leichten Geruch nach Schweiß und Feuer wahr und meinte, ein Flackern vor meiner Augenbinde zu erkennen. Auf meine heiser gestotterte Frage, wo ich mich befände, bekam ich keine Antwort.

    Schließlich ging es wieder bergauf. Ich stieg Treppen hinauf

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