Der kleine Fürst 112 – Adelsroman: Die Frau mit den grünen Augen
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Amanda von Seyring war im Begriff gewesen, das Wohnzimmer ihrer Eltern zu betreten, als sie ihren Vater dort am Tisch sitzen sah, den Kopf auf beide Arme gelegt. Es war ein Bild des Jammers und der Verzweiflung. Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie jedoch rasch zurückdrängte. Er hatte sie nicht kommen hören, und jetzt überlegte sie, ob sie ihn in Ruhe lassen oder lieber mit ihm reden sollte. Sie entschied sich für Letzteres.
Langsam ging sie auf ihn zu und legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. "Ach, Papa", sagte sie.
Anton von Seyring hob den Kopf und sah sie an. Sein Lächeln war verzerrt. "Du bist da", sagte er.
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Der kleine Fürst 112 – Adelsroman - Viola Maybach
Der kleine Fürst –112–
Die Frau mit den grünen Augen
Wird Albert ihr jemals verzeihen?
Roman von Viola Maybach
Amanda von Seyring war im Begriff gewesen, das Wohnzimmer ihrer Eltern zu betreten, als sie ihren Vater dort am Tisch sitzen sah, den Kopf auf beide Arme gelegt. Es war ein Bild des Jammers und der Verzweiflung. Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie jedoch rasch zurückdrängte. Er hatte sie nicht kommen hören, und jetzt überlegte sie, ob sie ihn in Ruhe lassen oder lieber mit ihm reden sollte. Sie entschied sich für Letzteres.
Langsam ging sie auf ihn zu und legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. »Ach, Papa«, sagte sie.
Anton von Seyring hob den Kopf und sah sie an. Sein Lächeln war verzerrt. »Du bist da«, sagte er.
Er war immer ein gut aussehender Mann gewesen, doch jetzt sah man ihm an, dass er in letzter Zeit zu viel getrunken und zu wenig geschlafen hatte. Seine braunen Augen lagen tief in ihren Höhlen und waren dunkel verschattet. Scharfe Falten schienen sich über Nacht in sein Gesicht gegraben zu haben, die grauen Haare hingen strähnig herunter. Das Hemd, das er trug, war fleckig und zerknittert, es verstärkte den Eindruck, dass hier ein Mann saß, der sich vernachlässigte.
»Ja, ich bin gerade gekommen. Bist du ganz allein? Wo sind denn alle?«
»Deine Mutter macht einen Besuch bei einer Freundin, mehr kann ich dir nicht sagen.«
Amanda war die Älteste von drei Geschwistern. Ihr Bruder Ulrich und ihre Schwester Lara gingen noch zur Schule und lebten bei den Eltern. Sie wusste jedoch, dass die beiden es vermieden, allzu häufig zu Hause zu sein, seit ihr Vater seinen Job bei einem internationalen Energiekonzern verloren hatte. Sie hielten die gedrückte Stimmung, die seitdem herrschte, nicht aus.
Amanda setzte sich zu ihrem Vater an den Tisch. »Was ist los?«, fragte sie. »Warum sitzt du hier wie ein Häufchen Elend und siehst aus, als hättest du das letzte Mal vor einer Woche geduscht?«
Er lächelte schief. »Das dürfte sogar ungefähr hinkommen. Deine Mutter sagt auch, ich sollte mich nicht so gehen lassen, aber ich kann mich einfach zu nichts aufraffen, Amanda.«
»Andere Leute verlieren ihre Arbeit auch«, sagte sie. »Ich verstehe schon, dass das schlimm ist, aber du kannst doch nicht von jetzt an hier zu Hause sitzen und abwarten, was passiert. Bewirb dich woanders, du hast garantiert Chancen, bei deiner Qualifikation. Gute Finanzbuchhalter werden doch immer gesucht.«
»Weggeworfen wie Müll«, murmelte er. »Ich komme da einfach nicht drüber weg.« Mir veränderter Stimme zitierte er: »›Einsparungen, Umstrukturierungen, alle Kräfte bündeln‹ – wenn ich das schon höre. Wir haben immer erstklassige Arbeit geleistet, und dann das! Einfach so, weil sie die Finanzbuchhaltung nach Indien auslagern. Nach Indien, das muss man sich mal vorstellen! Die Welt wird allmählich verrückt, Amanda.«
Sie nickte nur. Es war ja nichts Neues, was er ihr erzählte, sie führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal. Seltsamerweise schien ihrem Vater das nicht aufzufallen. Er fing jedes Mal wieder von vorn an und erzählte die ganze Geschichte seiner Kündigung von Anfang bis Ende, wenn man ihn reden ließ. Amanda wollte sie jetzt aber nicht schon wieder hören, und so stand sie auf. »Ich sehe morgen wieder bei euch vorbei, heute wollte ich sowieso nur mal kurz ›hallo‹ sagen.«
»Du hältst es auch nicht mehr mit mir aus, hab ich Recht? Dachtest du, ich merke das nicht? Ich gehe mir ja selbst auf die Nerven, aber ich komme da allein einfach nicht raus.«
»Dann geh zu einem Psychologen, Papa. Das meine ich ganz ernst. Oder willst du zu deiner Arbeit auch noch deine Familie verlieren?«
Mit einem Schlag richtete er sich kerzengerade auf, man ahnte jetzt wieder, wie attraktiv Anton von Seyring sein konnte. »Was sagst du da? Hat deine Mutter Andeutungen gemacht?«
»Papa!« Amanda betrachtete ihren Vater kopfschüttelnd. »Mama liebt dich, das weißt du ganz genau. Natürlich macht sie keine Andeutungen, schon gar nicht uns gegenüber. Aber man kann eine Liebe auch überstrapazieren, das ist alles, was ich damit sagen wollte. Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.«
Er stand auf. »Komm mal her«, bat er.
Sie trat auf ihn zu und ließ sich von ihm umarmen. Seine Wange kratzte, denn rasiert hatte er sich natürlich auch nicht, und sein Hemd roch verschwitzt – nein, nicht nur sein Hemd, der ganze Mann verströmte einen muffigen Geruch.
»Danke«, murmelte er und rieb seine kratzige Wange noch einmal an ihrer. »Ich werde mich ab jetzt bemühen, das verspreche ich dir, meine Große. Du wirst doch den Glauben an mich nicht verlieren?«
»Natürlich nicht, Papa. Und jetzt geh duschen, ja? Du hast es wirklich nötig – und eine Rasur wäre auch nicht schlecht.«
»Mach ich«, sagte er.
Sie war nicht überzeugt davon, aber sie nickte, als glaubte sie ihm und verließ das Haus. Auf der Straße hielt sie Ausschau nach ihrer Mutter und ihren Geschwistern, aber sie waren nicht zu sehen.
Stattdessen näherte sich Carl von Cusheim, der gemeinsam mit ihrem Vater und einigen anderen den Energiekonzern so plötzlich hatte verlassen müssen. Die beiden Männer waren seinerzeit am selben Tag eingestellt worden und hatten sich praktisch sofort miteinander befreundet.
Carl ging mit der Situation anders um als Amandas Vater. Er ließ sich nicht gehen, sondern war fest entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen, obwohl auch er tief gekränkt war, dass die Firma, der sie so lange ›treu gedient‹ hatten, wie er sich ausdrückte, nun einfach auf ihre Dienste verzichten zu können meinte.
»Amanda«, sagte er und blieb stehen. »Was für ein Glück, dass ich dich treffe. Könntest du mir wohl eine Viertelstunde deiner Zeit opfern? Ich habe etwas sehr Wichtiges mit dir zu besprechen.«
Carl drückte sich oft so gewunden aus, dabei war er nicht älter als ihr Vater. Er war nicht sehr groß, ganz schlank und beinahe übertrieben sorgfältig gekleidet. Mit Vorliebe trug er blütenweiße Hemden zu seinen Anzügen, und er bevorzugte Fliegen, die dann freilich in Farbgebung und Muster ein wenig gewagter ausfallen durften. Seine Schuhe glänzten wie Spiegel, bei der Frisur saß jedes Haar, und selbstverständlich war er frisch rasiert und duftete nach teurem Rasierwasser. Sein Gesicht war ein wenig spitz, mit klugen blauen Augen und einem schmalen Mund. Er sah nicht im herkömmlichen Sinne gut aus, aber er war eine durch und durch ansehnliche und Respekt einflößende Erscheinung.
Amanda hatte nie genau verstanden, warum ihr Vater und Carl so enge Freunde geworden waren, denn eigentlich gab es nicht allzu viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, außer dass sie beide gern mit Zahlen umgingen. Aber während Carl in allem penibel und übergenau war, war ihr Vater eher der Typ des leicht schlampigen Genies, bei dem die Konzernspitze gern mal nachgefragt hatte, welchen Trick man anwenden könnte, um diese oder jene Million vielleicht vor dem Zugriff der Steuerbehörden zu retten – und Anton