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Deleuze denken\d: Eine minoritäre Kartographie zeitgenössischer Popmusiker-Literatur am Beispiel von Rainald Grebe, Klotz + Dabeler, Rocko Schamoni, Françoise Cactus und PeterLicht
Deleuze denken\d: Eine minoritäre Kartographie zeitgenössischer Popmusiker-Literatur am Beispiel von Rainald Grebe, Klotz + Dabeler, Rocko Schamoni, Françoise Cactus und PeterLicht
Deleuze denken\d: Eine minoritäre Kartographie zeitgenössischer Popmusiker-Literatur am Beispiel von Rainald Grebe, Klotz + Dabeler, Rocko Schamoni, Françoise Cactus und PeterLicht
Ebook444 pages5 hours

Deleuze denken\d: Eine minoritäre Kartographie zeitgenössischer Popmusiker-Literatur am Beispiel von Rainald Grebe, Klotz + Dabeler, Rocko Schamoni, Françoise Cactus und PeterLicht

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'Deleuze denken' ist die erste Monographie, die sich als literaturwissenschaftliches Einführungswerk in das Universum des französischen Poststrukturalisten Gilles Deleuze versteht.

'Deleuze denkend' ist die erste Monographie, die sich literaturwissenschaftlich mit Romanen von zeitgenössischen deutschsprachigen schreibenden Musikern beschäftigt. Zu diesem neu etablierten Forschungsfeld der Popmusiker-Literatur zählen u.a. Françoise Cactus (Stereo Total), Sven Regener (Element of Crime), Thomas Meinecke (F.S.K), Helge Schneider und Rainald Grebe.

'Deleuze denken\d' ist in dem Maße, wie die Mannigfaltigkeit der gegenwärtigen Denk- und Lebenswirklichkeit dieser Popmusiker-Romane minoritär kartographiert werden kann, en passant auch als eine philosophische Praxis postmoderner Lebenshilfe lesbar.
LanguageDeutsch
PublisherVerlag Ludwig
Release dateMay 5, 2015
ISBN9783869352480
Deleuze denken\d: Eine minoritäre Kartographie zeitgenössischer Popmusiker-Literatur am Beispiel von Rainald Grebe, Klotz + Dabeler, Rocko Schamoni, Françoise Cactus und PeterLicht

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    Deleuze denken\d - Nils Meier

    Nils Meier

    Deleuze denken\d

    Eine minoritäre Kartographie zeitgenössischer Popmusiker-Literatur am Beispiel von Rainald Grebe, Klotz + Dabeler, Rocko Schamoni, Françoise Cactus und PeterLicht

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die

    Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

    © 2015 by Verlag Ludwig

    Holtenauer Straße 141

    24118 Kiel

    Tel.: +49-(0)431–85464

    Fax: +49-(0)431–8058305

    info@verlag-ludwig.de

    www.verlag-ludwig.de

    ISBN 978-3-86935-248-0

    Zieht man Euch das Kabel raus

    Herrscher über Volt und Watt

    hat man Eure Birnen satt

    geht Euch gleich die Leuchtkraft aus

    Und die Angst vor Eurem Blitz

    der sonst in die Knochen fährt

    der sonst jedes Haar versehrt

    weicht Eurer Angst vor meinem Witz

    denn ich bin Onkel Schoffo.

    […]

    Habt Ihr einen Korn für mich

    das wär Klasse für mich

    ich könnte einen vertragen

    gibt es hier was zu saufen?

    […]

    Klasse ist es hier auf dem Land

    der Bauer pflügt den Ackersand

    Am Wochenende fährt man in die Stadt

    hat hier eine Disco auf?

    Rocko Schamoni: Risiko des Ruhms 2007, 27 f

    »The Worst Is Over«

    Cursive – A Gentleman Caller

    (The Ugly Organ, 2003)

    Einleitung

    Zum Geleit des Textes:

    Dieses Buch ist kein Rhizom. Es hat einen roten Faden, den der Leser auflesen darf. Der Einstieg ist nicht beliebig und gelesen wird von links nach rechts und von oben nach unten. Trifft man jedoch auf indexierte Zahlen, löst sich diese hierarchische Struktur auf. Der synästhetische Ariadnefaden verfilzt. Der Text wird zum vielschichtigen Gewebe, denn die Fußnoten schlagen verschiedene Töne an. Verweisen die normal geschriebenen Fußnoten auf herkömmliche Quellenangaben oder auf kleinere Hinweise (weiterführende Quellenangaben, Formatierungsfragen oder Marginalien), so sind die unterstrichenen Fußnoten schon intensiver. Sie können, nachdem der rote Faden des entsprechenden (Ab-)Satzes nachvollzogen wurde, konsultiert werden, da sie entweder den Sinn des (Ab-)Satzes mit anderen Worten wiederholen oder ihn an eine tiefere Bedeutungsschicht anschließen: Gewissermaßen wird an diesen (Naht-)Stellen also mit doppelten roten Faden getextet. Die fett markierten Fußnoten bedienen dann endlich die anti-hierarchische Forderung der Rhizomatik. In Ihnen wird der Rot-Ton des Fadens gewechselt und ein Ausblick auf verwandte Themen kurz angerissen. Sie werden Fluchtlinien genannt, da sie den eigentlichen roten Faden verfilzen und ein neues Plateau bespielen. Diese Plateaus können am ehesten in beliebiger Reihenfolge gelesen werden: »kein Einstieg ist besser als ein anderer, keiner hat Vorrang, jeder ist uns recht, auch wenn er eine Sackgasse, ein enger Schlauch, ein Flaschenhals ist« (KK 7)1. Die fett-unterstrichenen Fußnoten schließlich kann man synästhetisch in ganz anderen Farben wahrnehmen. Sie sind im eigentlichen Sinne Exkurse.

    Bleibt man innerhalb der beliebten Gewebe-Metaphorik, dann markieren die Unterüberschriften die einzelnen Einstiche des Sinns. Anhand von ihnen lässt sich der rote Faden grob überblicken.

    Mit dem Einsetzen der Untersuchung der Primärliteratur wird das Spiel mit den Fußnoten nicht weitergetrieben. Auch die Unterüberschriften bleiben aus. Der zweite Teil der Arbeit ist nämlich buchstäblich konzentrierter und funktioniert wesentlich anders als der erste. Zwar stehen beide Teile für sich alleine; der erste Teil der Arbeit setzt jedoch weniger voraus: Er dient als eine Einführung in das begriffliche Universum Gilles Deleuzes. Und zwar immer im Hinblick auf eine Anwendung seiner Begriffe als literaturwissenschaftliche Methode. Ist der erste Teil also Theorie, so wird der zweite Teil Praxis. Genauer: Lektüre eines Deleuze-Theoretikers – und dementsprechend vorausetzungsreich. Wer also hauptsächlich das Interesse an (bspw.) Rainald Grebe mitbringt, der wird dennoch mit dem direkten Eingang in ›sein‹ Lektüre-Kapitel Verständnisprobleme bekommen (es sei denn – so ist doppelt zu hoffen – es handelt sich um einen mit der Deleuze’schen Begrifflichkeit vertrauten Grebe-Fan).

    Und vielleicht sollte es bereits an dieser Stelle gesagt werden: Der Gegenstand der Lektüren ist beliebig. Dass es hier ausgerechnet schreibende Popmusiker sind, denen der Deleuze’sche Werkzeugkasten zusetzt, ist (kann und will) keine vortextlich motivierbare Entscheidung (sein). Nichtsdestotrotz mag die Hoffnung, in diesem Feld Bücher mit einem hohen Deterritorialisierungskoeffizienten zu finden, Antrieb gewesen sein – wissenschaftlich (repräsentationslogisch) gerechtfertigt wäre sie kaum gewesen. Dass das Feld zusätzlich mit gut 30 ausgemachten Autoren noch relativ überschaubar ist und seitens der Literaturwissenschaft bisher größtenteils unbeachtet blieb, motiviert die Untersuchung zusätzlich. Dennoch will die Arbeit diesen heterogenen Gegenstandsbereich nicht künstlich homogenisieren. Sprich: Das Feld der Popmusiker-Literatur ist und bleibt ein zu differenzierendes. Es ist keine ›Schule‹ und gehorcht keinem übergeordneten Programm. (Die Arbeit hätte auch lübsche, vegetarische und/oder malende Schriftsteller untersuchen können. Oder Goethe.)

    Zusätzlich ist die Beschränkung auf lediglich fünf Texte aus dem Kanon dem begrenzten Umfang geschuldet – oder der unbegrenzten Hoffnung, dass der Leser nach fünf exemplarischen Analysen weiß, wie der Igel läuft; und in Zukunft eigens Werke (was-auch-immer!) mit Deleuzes Begrifflichkeit abklopft. Auch die Auswahl auf gerade diese fünf klangvollen Schriftstücke aus dem Kanon kann (hier) nicht wissenschaftlich begründet werden. Die Auswahl erfolgte nach einer ersten Lektüre und traf bevorzugt Werke, bei denen sich bereits zu diesem Zeitpunkt ein relativ hoher Deterritorialisierungskoeffizient abzeichnete. Immerhin liefert die Tabelle 4 am Ende des Kapitels ›Brücke‹ von jedem der Popmusiker-Autoren einen Satz, von dem aus sich vergleichbare Analysen zu jedem dieser Texte anleiten lassen könnten.

    Zum Gehalt des Textes:

    Der Titel dieser Arbeit (»Deleuze denken\d«) spiegelt in dem back(s)lash2 bereits die Aufteilung in zwei wesentlich verschiedene Bereiche wider: ›Deleuze denken‹ = über Deleuzes Begriffe nachdenken. ›Deleuze denkend‹ = mit Deleuzes Begriffen vordenken. Der erste Teil der Arbeit ist also ein nachvollziehendes Verstehen seiner Schriften und Denkmodelle – im Hinblick auf ihr literaturwissenschaftliches Anwendungspotential eine An-Eignung; der zweite Teil ist dagegen ein experimentierendes Denken am (eigenständigen und zufälligen) Gegenstand Popmusiker-Literatur – im Rückblick auf Literatur als das, »was zu denken zwingt« (PZ 79)3, ein Eignungstest.

    Die Aufteilung glückt bis in die grammatische Form des Verbs ›denken‹ hinein: Ist die grammatische Form(el)4 des Infinitivs nach Deleuze Äon-Zeitlichkeit und Neutralität (und so für die wissenschaftliche Theorie des ersten Teils geeignet), so ist die grammatische Form(el) des ›Partizips Präsens Aktiv‹ Gleichzeitigkeit und Teilhabe (und so für die Lektüre-Praxis des zweiten Teils geeignet). Beantwortet das erste Buch die Frage: Was ist minoritäre Literatur (im Allgemeinen), so lautet die leitende Frage des zweiten Buchs: Wie ist minoritäre Literatur (am Beispiel). Dass im zweiten Buch exemplarisch vorgegangen wird, schränkt dabei den Bedeutungshorizont der Aussagen ein. Es werden eben keine verallgemeinerbaren Ergebnisse über schreibende Musiker produziert, sondern lediglich das Deleuze’sche Vokabular mithilfe einiger Literaturen musizierender Schreiber erprobt. Popmusiker-Literatur gibt es in dieser Arbeit nicht an sich zu haben, sondern nur im Deleuze verbundenen Durchgang: Eine parteiische Lektüre, die ihren Blick auf deterritorialisierende Momente der Anti-Repräsentationslogik wirft. Und auch ›Minoritäre Literatur‹ (mit Majuskel-M) gibt es nicht an sich. Lediglich Literatur mit einem relativ niedrigen oder hohen Deterritorialisierungskoeffizienten – wobei letzterer aus minoritärer Sicht den Zuschlag erhält. Ein 100 %-Parameter (das wäre dann gewissermaßen doch ›Minoritäre Literatur‹ an sich) ist ausgeschlossen, da solch eine rein hypothetische Literatur (vorsichtig ausgedrückt) ›unwahrnehmbar‹ wäre.

    Wer auf den Anspruch des Holismus’ nicht verzichten mag, der wird den ersten Teil der Arbeit vorziehen, da er es ist, der die Voraussetzung schafft. Das für das Gesamtverständnis der Arbeit wichtigste vorgestellte Gegensatzpaar Repräsentation und Anti-Repräsentation erschöpft sich dichotomisch und in diesem Sinne ist dieser Teil ganzheitlich. Allerdings wird die dichotomische Struktur nur in vier zusammenfassenden tabellarischen Gegenüberstellungen5 befriedigt; der Fließtext ergreift Partei für die Anti-Repräsentation, wenn er die Qualitäten dieser als Bedingung der Möglichkeit des (Deleuze-)Denkens versteht.

    Der formale Aufbau des ersten Buchs dieser Arbeit sieht eine doppelte Dreiteilung (mit unterschiedlicher Gewichtung) vor. Zuerst geht es noch relativ konkret um die Realisation dessen, was ›Deleuze denken‹ bedeutet. Man könnte es auch so formulieren: Was ist anti-repräsentationslogische ›Wissenschaft‹, ›Philosophie‹ und ›Kunst‹? Dass die Wissenschaft hier nur der Vollständigkeit halber genannt wird und der Kunst der größte Bearbeitungsrahmen gewidmet ist, liegt an dem an der Literaturwissenschaft ausgerichteten Erkenntnisinteresse. Eine gegenteilige Gewichtung wäre innerhalb anderer Interessengebiete möglich gewesen – eine Auswahl dreier anderer Bereiche als ›Wissenschaft‹, ›Philosophie‹ und ›Kunst‹ jedoch nicht.

    Der nächste dreiteilige Block wechselt zur Betrachtung auf die Metaebene und untersucht die Bedingung der Möglichkeit des anti-repräsentationslogischen Denkens. Ihm geht es um die Abstraktion dessen, was ›Deleuze denken‹ bedeutet. Das erkenntnistheoretische Unterkapitel ›Anti-Repräsentation‹ ist demnach fundamental für das Verständnis dieser Arbeit. Und auch dieses ist aus der Perspektive der Literaturwissenschaft verfasst, so dass neben dem Raum- und Zeitmodell insbesondere das anti-repräsentationslogische Sprachmodell beschrieben wird. Mit den Unterkapiteln ›Kartographie‹ und ›Minorität‹ werden dann abschließend ein Beschreibungsinventar und eine Existenzweise vorgestellt, die den Anforderungen der Anti-Repräsentation standhalten.

    Der dritte und letzte dreiteilige Block zeigt konkrete Auswirkungen der Anti-Repräsentation auf das, was unter ›Deleuze denken‹ zu verstehen ist. Er ist eine Applikation des zuvor Gesicherten auf die Bereiche ›Politik‹, ›Musik‹ und ›Literatur‹, denn minoritäre Popmusiker-Literatur geht alle (drei) an. Auch hier diktiert erneut der im zweiten Buch folgende Gegenstandsbereich die Auswahl. Die ›Politik‹ erhält ein Kapitel, weil sie den wichtigsten Bereich des Denkens absteckt, dem Deleuze keinen eigenen Status gewährt (der aber implizit in allen drei Bereichen des Denkens immer mitgedacht werden muss und dementsprechend in einem Applikationskapitel nicht ausgelassen werden darf); und ›Literatur‹ und ›Musik‹ erhalten ein Kapitel, weil es eben um musizierende Schreiber gehen wird. Wären Quantenchemie, Phänomenologie oder Skulpturenparks anstatt dessen Hauptbereich des Interesses gewesen, dann hätten sich andere Applikations-Unterkapitel ergeben – das der ›Politik‹ aber immer auch.

    Der als Brücke bezeichnete Teil beginnt mit einer Vorstellung und Definition des literarischen Feldes der Popmusiker-Literatur und endet mit einer Zusammenfassung der literaturwissenschaftlich erschlossenen Deleuze’schen Begrifflichkeit. Er ist eine Überleitung vom theoretischen Teil zur methodischen Anwendung.

    Mit der Anwendung der Deleuze’schen Begrifflichkeit auf fünf exemplarische Popmusiker-Literaturen beginnt endlich die nun (literaturwissenschaftliche) Praxis der erarbeiteten Theorie. Dass es dabei zu einer Verzahnung zwischen dem untersuchten Werk und der Deleuze’schen Begrifflichkeit kommt, ist zu begrüßen und Methode. Es kann nicht die Aufgabe sein, die Autoren (weder Deleuze noch die Popmusiker-Literaten) sprechen zu lassen, sondern den ›Knall‹ (oder besser: den ›pop‹) zu beschreiben, der zu hören ist, wenn Objekt- und Metaebene sich kreuzen. Gerade in diesem Diffundieren zweier Linien ereignet sich das ›Denken‹ und ›Deleuze‹ funktion(e)iert und die Maschine beginnt zu stottern…

    Zur Gewalt des Textes:

    Das Stottern der Maschine rührt auch immer von einer Gewalteinwirkung her, die Leser (insbesondere repräsentationslogisch-wissenschaftlicher Texte) unerwartet trifft. Sie soll daher hier am Ende der Einleitung kurz reflektiert werden. Immer geht es darum, »von der Autor-Funktion unabhängige, von ihr losgelöste schöpferische Funktionen« (SG 139)6 überraschend ›aufpoppen‹ zu lassen. Vergleichbar mit dem Kreuzen von Klingen setzt eine chiastische Textkonstruktion ein ausgangsungewisses Spiel in Kraft, das emergente Phänomene erzeugt und so keinen Sieger, sondern eine ›Figur des Dritten‹7 hervorruft. Diese neue Figur verdeckt bisweilen das alte Autor-Subjekt und verliert dessen Sinnhorizont aus den Augen, während es einen wesentlich neuen vorstellt. Diese Form der Gewalt speist sich immer an der Kraft der Konstruktion.

    Foucault empfahl diesen Vorgang explizit bei Nietzsche anzuwenden – dass er sich auch bei Deleuze anbietet, liegt also nahe: »Die einzige Anerkennung, die man einem Denken wie dem Nietzsches bezeugen kann, besteht darin, dass man es benutzt, verzerrt, misshandelt und zum Schreien bringt. Ob einem die Kommentatoren Treue bestätigen oder nicht, ist völlig uninteressant.«8 Dieses deterritorialisierende Verfahren der Rekontextualisierung ist kein rein selbstreferenzielles Spiel, sondern immer an der Errichtung eines neuen Plateaus interessiert. Diese Form der Gewalt, die auch den Popmusiker-Literaturen widerfährt, ist ein Mitdenken. Dass dabei teilweise die Position dessen ›wer spricht‹ verwischt wird, ist kein schambesetztes Verstecken hinter einer Wand von Zitaten, sondern ein transparentes Unterlaufen der herkömmlichen Autor-Funktion.

    Diese inzwischen fast schon sprichwörtlichen Verwendungen der Text-Metapher im Sinne von Waffen oder »Werkzeugkisten«9 ist ein typisch poststrukturales Verfahren. Und auch »Deleuze ermuntert seine LeserInnen geradezu, sich der von ihm geschaffenen Begriffe wie aus einer Werkzeugkiste zu bedienen, um mit ihren Funktionsweisen in neuen Gefügen, Konstellationen des Denkens und Handelns, zu experimentieren.«10 Wem die gewählten Metaphern zu martialisch sind, dem seien zum Abschluss der Einleitung im Namen von Deleuze und Parnet zwei weitere beigestellt: Während die eine ganz im Sinne des Pops funktioniert, bedient die andere einen zurzeit medial grassierenden Diskurs. Sie werden hier formal gegenübergestellt und können chiastisch gelesen werden. Autorschaft und Aktualität sind die den Popmusiker-Literatur-Kanon konstituierenden Variablen – möge der hier empfohlene Umgang mit Pop und Plagiaten die Lektüre leiten:

    Heute richtig zu lesen heißt, dahin zu gelangen, mit einem Buch nicht anders umzugehen als mit einer Schallplatte, die man sich anhört […] einem Chanson, das man zuhörend zu verstehen sucht: Jede Einstellung zum Buch, die dem Leser besonderen Respekt abverlangt […] ist obsolet. Begriffe sind wie Töne, Farben oder Bilder – Intensitäten, die dir passen oder nicht, die passieren oder nicht. (D 11)

    Stehlen ist das krasse Gegenteil von Plagiieren, Kopieren, Nachahmen oder Vorspiegeln. Einfangen ist stets zweiseitiges Einfangen, der Diebstahl immer zweiseitiger Diebstahl. Das Ergebnis ist nichts Wechselseitiges, sondern ein asymmetrischer Block, eine aparelle Entwicklung, Vermählung: stets ›außerhalb‹ und ›zwischen‹. Das wäre also eine Unterhaltung. (D 14)

    Erstes Buch: Deleuze denken

    Realisation

    Abb. 1: Realisierungsmodell: »Nomadologie als Konstruktivismus«

    Es folgt später das Abstraktionsmodell: »Rhizomatik als Ontologie«

    Chaos als Ursprung

    Am besten nähert man sich dem Denk-Selbstverständnis Deleuzes (und Guattaris)11 von dessen Ursprung aus, um ihn auch gleich wieder zu vergessen. (»Wir waren nicht auf der Suche nach Ursprüngen, nicht einmal verlorenen oder annullierten, sondern wollten die Dinge dort anpacken, wo sie sprießen, in der Mitte« (U 126)). Diese Mitte ist kein Punkt (»Etwas auf den Punkt bringen erscheint mir stupide« (U 233)). Erst recht kein Zentrum, sondern – und das ist überraschend und übersteigt die klassisch-repräsentationslogischen Denkgewohnheiten des Abendlandes – das Chaos: »Am Anfang war Chaos, Unordnung, das große Tohuwabohu. Oder das Rauschen, überall Rauschen, keine Stille nirgends. Alles undifferenziert, durcheinander, keine Informationen, unklare Anordnungen, alles beliebig.«12 Die Folgen sind unübersehbar, weil unabsehbar: Anti-Repräsentation, Kontingenz-Denken, Mikro-Politik…

    Die Virtualität vs. das Virtuelle

    Doch zunächst zurück auf Los: zum Chaos »als das Unendliche als reines Virtuelles«13, als »unendliche Geschwindigkeit von Veränderungen, die jede Andeutung von Form bereits im Augenblick ihrer Entstehung wieder verschwinden lässt.«14 Deleuze will es also verstanden wissen als unendliche Virtualität, natürlich unfassbar. Will man sich nicht mit der Mogelpackung des transzendentalphilosophischen Hütchenspiels begnügen, muss man an sich vor diesem Grund kapitulieren. Allerdings geht es Deleuze trotz aller Grundsätzlichkeit hier (und auch sonst) nicht um Phänomene an sich, sondern um Konkreta. Deswegen ist Denken bei ihm auch nicht urteilen, sondern schöpferisches Schaffen. Das Chaos dient ihm als Möglichkeitsgrund, ein Denken zu erreichen, das sich in den drei Bereichen Wissenschaft, Philosophie und Kunst realisiert. Nachzuweisen, wie dies genauer im Einzelnen geschieht, wird die Bringschuld des ersten Teils dieser Arbeit sein: Erkenntnistheorie mit literaturwissenschaftlichen Horizont.

    Konsistenz & Virtualität

    Doch zuerst das, was allen drei Bereichen gemein ist. Es ist die Art und Weise, wie aus der chaotischen Virtualität eine »konsistent gewordene Virtualität, eine Entität, die sich auf einer Immanenzebene formiert, die das Chaos schneidet« (WP 182), gewonnen wird: Per Schnitt ins Jetzt, das ein direktes Erheben von Ebenen darstellt. Diese Ebenen sind nun keinesfalls bloße Meinungen oder ordentliche Sachverhalte mit Anfang und Ende, sondern sie bewahren (oder gewinnen gar) die unendliche Bewegung. Genau hierauf zielt Deleuze ab, wenn er wiederholt Proust zitiert: »Real, ohne aktuell zu sein, ideal, ohne abstrakt zu sein« (WP 29)15. ›Real‹ bezieht sich auf den Anspruch, Ebenen als konkrete Entitäten zu behandeln, und ›aktuell‹ gegen die Wahrnehmung dieser als bloße Sachverhalte. ›Ideal‹ ist das Einfangen der unendlichen Bewegung und ›abstrakt‹ wäre der Verlust dieser in der Transzendenz.

    Die Unendlichkeit & das Denken

    Der wesentliche Punkt der gewonnenen Denk-Ebene (als die aus dem Chaos der Virtualität erhobene Entität) ist ihr konsistentes Verhältnis zur Unendlichkeit. Denken als Wissenschaft, Philosophie oder Kunst zapft einen »suprahistorischen Untergrund, [… ein] unzeitgemäßes Chaos« (EI 184) an und verleiht diesen im Denk-Gegenstand Realität. Es handelt sich hierbei um eine erkenntnistheoretische Setzung: so fundamental wie weitreichend. Ähnlich wie man Derridas Dekonstruktion nur verstehen kann, wenn man an das unendliche Verweisungsspiel der Zeichen (différance → Dissemination) glaubt, wird man Deleuzes Denken nur folgen, wenn man die Differenzlogik von Virtualität und Virtuellem nachvollzieht.

    Chaos-Rhythmus

    Auf drei abgründigen Wegen kann man dem Chaos trotzen und dennoch das Virtuelle bewahren. Auf diesem schmalen Grat läuft man jeweils Gefahr, entweder vom Chaos eingeholt zu werden und keine Konsistenz zu erreichen oder zu erstarren und den Imperativ des Bewegungspotentials zu überhören. Der Raum dieser Kontingenzintegration (und nicht: Kontingenzkompensation) hat in der deutschsprachigen Sekundärliteratur verschiedene Namen erhalten: Chaosmos(-e), Chaoid und (für den Bearbeitungsrahmen dieser Arbeit am schönsten) Chaos-Rhythmus. Allesamt Neologismen, die dem paradox anmutenden Element der Verbindung von Kontingenz und Konsistenz gerecht werden, indem sie zwei unterschiedliche Begriffe vereinen: das offene Chaos und den geschlossenen Kosmos. Zusätzlich klingt der Bewegungsaspekt im Suffix ›-osmose‹ mit, der Ordnungskontext im Appendix ›Rhythmus‹. All dies ist mitzudenken, wenn von Wissenschaft, Philosophie und Kunst die Rede ist.

    Ebenen des Denkens: Wiss., Philo & Kunst

    Die aus dem (wahnsinnig-genialen) Chaos geschnittenen Ebenen eint der je verschiedene Bezug zur Unendlichkeit. Während die Wissenschaft das Unendliche aus ihrem Kosmos tilgen oder zumindest bändigen möchte, indem sie eine Referenzebene schafft, eint Philosophie und Kunst ein affirmativer Umgang gegenüber der nicht-abschließbaren Offenheit. Die Philosophie versucht Konsistenz im Unendlichen zu finden, indem sie eine Immanenzebene entwirft; die Kunst versucht auf einer Kompositionsebene das Unendliche im Endlichen zu erreichen. In den Worten von Deleuze und Guattari: Die Wissenschaft »entwirft eine Ebene von lediglich undefinierten Koordinaten, die unter der Einwirkung von Partialbeobachtern jedes Mal Sachverhalte, Funktionen oder referentielle Propositionen definiert« (WP 235), die Philosophie »zeichnet eine Immanenzebene, die unter der Einwirkung von Begriffspersonen Ereignisse oder konsistente Begriffe ins Unendliche trägt« (WP 234) und die Kunst »entwirft eine Kompositionsebene, die ihrerseits unter der Einwirkung ästhetischer Figuren Monumente oder zusammengesetzte Empfindungen trägt.« (WP 235)

    Konkretion der Ebene

    Bevor Zeit ist, sich der Bestimmung der einzelnen Ebenentypen zu widmen oder gar so voraussetzungsreiche Konzepte wie die der genannten Begriffsperson oder der ästhetischen Figur zu behandeln, ist es sinnvoll, die erste fassbare Ebene zu sichern: »Kurzum, das Chaos besitzt drei Töchter je nach Ebene, die es schneidet: dies sind die Chaoiden, Kunst, Wissenschaft und Philosophie, als Formen des Denkens oder der Schöpfung. Chaoiden werden jene Realitäten genannt, die sich auf Ebenen, die das Chaos schneiden, herstellen.« (WP 247) Diese Ebenen sind gewissermaßen ›postmodern‹ als konstruktivistische Wendung des romantischen Fragments zum Unbegrenzten anzunehmen, denn jede Ebene »ist ein All-Eines […] ein ›jedes‹.« (WP 59) Jede Ebene ist in ihrer Virtualität notwendig unbegrenzt, weil konstruktivistisch (bzw. in der Begrifflichkeit Deleuzes und Guattaris: diagrammatisch) und dennoch in ihrer Aktualisierung auf eigene Art fragmentarisch16, weil ein Aus-Schnitt des Chaos.

    Der Aus-Schnitt der Ebene

    Wo von der postmodernen Pluralität die Rede ist, ist der Vorwurf der Beliebigkeit nicht weit. Und tatsächlich lässt sich dieser Vorwurf hier nicht grundsätzlich widerlegen, denn was der je aktuelle Spielraum der Wissenschaft, Philosophie oder Kunst ist, ergibt sich erst anhand der Größe des Aus-Schnitts. Ist dieser zu groß, dann lässt sich in der Wissenschaft die Funktion nicht anwenden, in der Philosophie der Begriff nicht prägen und in der Kunst die Empfindung nicht einfangen. Und genau das sind bei Deleuze die vornehmlichen Aufgaben dieser drei Arten des Denkens.

    Zufall & Zwang

    Der Frage nach der Wahl der Größe des Aus-Schnitts scheint sinn-konstituierende Bedeutung zuzukommen. Tatsächlich unterschätzt man die Kraft, Geschwindigkeit und Nicht-Ordnung des Chaos, wenn man versucht, die Auswahl zu steuern, denn »[d]ie Wahrheit ist nie das Produkt eines vorgängigen guten Willens, sondern das Ergebnis einer Gewalteinwirkung im Denken. […] Die Wahrheit hängt von der Begegnung mit etwas ab, was uns zu denken und das Wahre zu suchen zwingt. Der Zufall der Begegnung, der Druck der Zwänge sind die beiden grundlegenden Motive« (PZ 17). Zum Denken gezwungen wird man also, wenn das Chaos von außen eindringt. Eben diesen Tatbestand hat Badiou in einem Brief an Deleuze etwas verblüfft festgestellt, als er nochmals sich versichernd nachfragte: »Man kann also sagen, dass ein Denken umso mächtiger ist, je dünner die Schutzschicht ist, die es zwischen sich und das Chaos legt«17?

    Wissenschaft & Leidenschaft

    Ein Denken über solch ein Denken muss sich schnell gegenüber dem Vorwurf rechtfertigen, in der Wissenschaftsgeschichte des Abendlandes nichts verloren zu haben und sein Glück auf Esoterikkongressen oder in der Ägyptologie zu suchen. Wenngleich die Geschichte der westlichen Philosophie solche prominenten Fälle wie die Affirmationsfähigkeit von Nietzsches Dionysos, die Affizierbarkeit Bergsons élan vital und das Chronos-versus-Kairos-Verständnis Benjamins kennt, so ist es innerhalb der (Geistes-)Wissenschaft immer noch leicht anrüchig, die Leidenschaft mit an Bord zu holen, den Zufall zu instrumentalisieren oder eine Flucht nach vorn anzutreten – auch wenn eine diskursgeschichtliche Analyse ergeben mag, dass viele revolutionäre Entdeckungen (nicht nur in der Technik), die ›Paradigmenwechsel‹18 ermöglichen, gerade Kinder solcher Konstellationen waren.

    Wissenschaft

    Bevor man das Denken Deleuzes in (und das heißt bei ihm auch immer: mit) der Philosophie und Kunst detailliert analysiert, ist das dritte Denkgebiet zu klären: die Wissenschaft. Sie wird von Deleuze parasitär genutzt, weil sie die einzige Position ist, die, obwohl auch sie das Chaos schneidet, auf das Unendliche eigentlich verzichten möchte. Dies versucht sie, indem sie nachträglich eine Referenzebene (auch Koordinationsebene genannt) einführt und auf dieser mit Funktionen mit mindestens zwei unabhängigen Variablen experimentiert. Ziel guter Wissenschaft im Sinne Deleuzes ist immer die Auffindung und Analyse (wesentlich) neuer Sachverhältnisse. »Der wahre Gegenstand der Wissenschaft ist, Funktionen zu schaffen« (U 178 f)19 – und die Möglichkeit solche zu gewinnen erhält sie bereits im Aus-Schnitt der Referenzebene, auf der Kontingenz und Konsistenz zusammen gedacht werden. Deshalb »bedarf […] die Wissenschaft der Nicht-Wissenschaft. Nicht als Beginn brauchen sie sie, und auch nicht als Endzweck, in dem sie durch ihre Verwirklichung verschwinden müssten, sie brauchen sie vielmehr in jedem Moment ihres Werdens oder ihrer Entwicklung.« (WP 260)

    Offene Systeme

    In einem Gespräch mit Christian Descamps, Didier Eribon und Robert Maggiori geht Deleuze näher auf ein Wissenschaftsverständnis dieser Art ein: »Es gibt heute in den Wissenschaften, in der Logik erste Schritte zu einer Theorie sogenannter offener Systeme, die auf Interaktion basieren; sie verzichten auf bloß lineare Kausalitäten und transformieren den Begriff der Zeit. […] Was Guattari und ich Rhizom nennen, ist genau ein solches offenes System. […] Ein System ist ein Ensemble von Begriffen. Ein offenes System ist es, wenn die Begriffe auf Umstände bezogen sind und nicht mehr auf Wesen, Essenzen.« (U 50 f) In »Dialoge« (mit Claire Parnet) ergänzt er: »die Wissenschaft insgesamt operiert immer deutlicher ereignisbezogen statt wie bisher struktural.« (D 74) Anstatt vom offenen System zu sprechen, böte sich eine Reihe weiterer Begriffe an: interaktiv, vagabundierend, kontingent, aber auch inexakt, alogisch oder anti-positivistisch/-repräsentativ. Grundsätzlich gilt, dass es sich um eine Wissenschaft des Individuellen handelt (daher auch der Hang zum Experiment), die nicht vor Zufälligkeiten20 zurückschreckt und (an Luhmann angelehnt) permanente Autopoiesie betreibt. »Zahlreiche wissenschaftliche Entdeckungen sind auf diese Art zustande gekommen. Darunter die Röntgenstrahlung, das Penizillin und Kleinigkeiten wie der Post-it-Klebezettel.«21

    Rhizomatik = Pop-Analyse

    Eine oft zitierte Stelle aus Deleuzes und Guattaris Eingangskapitel ›Rhizom‹ von »Tausend Plateaus« treibt die Definition fort und landet (durchaus überraschend, aber glücklich im Sinne dieser Arbeit) beim Pop: »Rhizomatik = Schizoanalyse = Stratoanalyse = Pragmatik = Mikropolitik« (TP 38) »= Nomadologie«22 »= Pop-Analyse« (TP 40). Mit dem Begriff der Rhizomatik verlässt man also bereits wieder den engen Beschreibungsbereich der Wissenschaft und holt u. a. Kunst und Philosophie wieder mit an die Seite, denn »Wissenschaft und Poesie sind gleichermaßen Wissen.« (F 34)

    Philosophie

    Die folgenden Ausführungen widmen sich zunächst dem Geltungsbereich der Philosophie und erklären darauf, inwiefern der Begriff Rhizomatik auch hier umfassend verstanden werden kann. Bisher wurde leidglich postuliert, dass die Philosophie im Sinne Deleuzes auf ihrer so genannten Immanenzebene Konsistenz des Unendlichen erreicht. Aufgabe dieses Unterkapitels wird es sein, ihren Möglichkeitsgrund näher zu beschreiben. Sodann ihre Emphase auf den Begriff als ihr ausführendes Organ zu klären um schließlich ihr Ziel in den Blick zu bekommen: die Schaffung neuer Denkweisen wie die der Begriffsperson.

    Geschichte der Philosophie

    Philosophie als Nomadologie oder Rhizomatik setzt sich von der traditionellen Philosophiegeschichte ab und bezeichnet deren Erbe oft als unterdrückend: »Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus« (U 14) – und Deleuze scheint angetreten zu sein, dieses zu ändern. Der eine Seite später auftretende Satz hat in der Rezeptionsgeschichte breiten Anklang gefunden. Deleuze behauptet darin, »die Philosophiegeschichte als eine Art Arschfickerei zu betrachten oder, was auf dasselbe hinausläuft, unbefleckte Empfängnis.« (U 15) Er stellte sich vor, einen »Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre.« (U 15) In seinen früheren Büchern macht er dieses Versprechen auch noch wahr, z. B. in seiner Habilitation, in der er »den Platonismus umkehr[en]« (DW 97) möchte; auch Bergson23, Hume24 und Kant25 werden einer solchen Behandlung unterzogen. Später wendet er sich affirmativeren Denkern (und Techniken des Denkens) zu, die keine Perversion mehr nötig machen, sondern eher als eine Verlängerung des Denkens beschrieben werden können: »Nicht vom Prozess sich abwenden, sondern unaufhaltsam weitergehen, ›den Prozess beschleunigen‹, wie Nietzsche sagte« (AÖ 308)26; auch mit Spinoza27 und Leibniz28 wird so umgegangen.

    Philosophie der Differenz als anti-repräsentationslogische Philosophie

    Anti-repräsentationslogische Philosophie als Philosophie der Differenz kennt keine Ähnlichkeit, Analogie oder Identität mehr, sondern variierende Zustände. »Die Philosophie der Differenz, wie sie Deleuze im Anschluss an die nietzscheanische Genealogie konzipiert, begreift sich als eine ›Theorie singulärer Punkte‹, die miteinander Konstellationen bilden, denen ein genetisches Potential innewohnt. Deleuze nennt die Singularitäten auch die ›wahren transzendentalen Ereignisse‹ (LS 135), weil sie ihr genetisches Potential allein der Tatsache ihres Zusammentreffens und keiner vorgängigen ›Einigkeit‹ oder Zusammengehörigkeit verdanken.«29 Universalien kann es nicht mehr geben: weder Kontemplation in der Eidetik, noch Reflexion in der Kritik, noch Kommunikation in der Phänomenologie, noch Propositionen als diskursive Formationen30.

    Keine Universalien, keine Informationskommunikation

    Keine Kommunikation, obwohl doch alles miteinander kommuniziert? Obwohl wir eintreten »in Kontrollgesellschaften, die nicht mehr durch Internierung funktionieren, sondern durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation« (U 250)? Trotz alledem! Deleuze wettert gegen die Kommunikation auf vielen Fronten. Kommunikation, wie sie bspw. in der Habermas’schen Diskursethik als Allheilmittel gepriesen wird, ist der Deleuze’schen Philosophie ein Krebsgeschwür: »Die Kommunikation kommt stets zu früh oder zu spät, und das Gespräch bleibt stets überflüssig gegenüber dem Erschaffen. […] Diskussionen sind der Philosophie ein Gräuel.« (WP 36) Und weiter: »Die Philosophie der Kommunikation erschöpft sich in der Suche nach einer liberalen Universalmeinung als Konsens, hinter dem man die zynischen Wahrnehmungen und Affektionen des Kapitalisten in persona wiederfindet.« (WP 172) Zynisch könnte man aber auch die Haltung Deleuzes gegenüber dieser Art der Kommunikation bezeichnen. Selten hört man seine Wut so deutlich heraus wie hier, wenn er sich gegen Marketing, Design, Werbung, Kapitalismus und Polizeistaat wendet, die nicht zufällig, sondern wesentlich Kommunikationsapparate im Sinne der Information seien, denn »Sprache gibt immer eher Auskunft über die machtdurchdrungene Ordnung der Weltwahrnehmung einer Gesellschaft, als dass sie der intersubjektiven Kommunikation oder solchem Informationsbedürfnis diente.«31

    Pragmatik der Sprache

    Informationen sind die scharfen Patronen der Waffe der Indoktrination. Und jeder Waffenbesitzer ist ein Despot. »Die einzige Kommunikation, die wir der modernen Welt vollkommen angemessen wünschen könnten, ist das Modell Adornos, die Flaschenpost, oder das Modell Nietzsches, der Pfeil, der von einem Denker abgeschossen und von einem anderen aufgenommen wird.« (U 224)32 »Sprache [ist] eine Transmission des Wortes, das wie […] eine Pistole weitergegeben wird, und nicht die Übermittelung eines Zeichens als Information. Sprache ist eine Karte und keine Kopie.« (TP 108) Ziel muss es sein, die pragmatische Dimension der Sprache zu verstehen. Nicht bloß die aufgenommene Information kopieren und stumpfe Abbilder von ihr zu verteilen, sondern den Handlungscharakter der Information umfassend aufzunehmen. Das geht auch ein Verständnis im Sinne Austins und Searles Sprechakttheorie33 an (bzw. deren Emphase auf die performativen Sprachakte) oder ist im Sinne des Delokutivums nach Benveniste34 zu verstehen. Mindestens drei Forderungen lassen sich explizit machen: Information nicht als bloßen Code, also blind als Befehl oder Parole aufzufassen; Sprache an ihre Pragmatik zu binden und drittens das Verhältnis von langue und parole zu verfeinern, denn die »Bedeutung und Syntax der Sprache lassen sich […] nicht unabhängig von den Sprachakten definieren, die sie voraussetzt.« (TP 109)

    Kommunikation als Korrespondenz

    Doch Sprache ist nur ein Modell der Kommunikation, deren reichhaltiges Arsenal bei Deleuzes umfassenderer Vorstellung immer nur mitgetragen wird. Die Begriffe Korrespondenz, Resonanz oder Rückkopplung sind daher in diesem Zusammenhang geeigneter. Der neudeutsche Begriff Feedback ist dagegen zu vermeiden, da

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