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Moos auf den Steinen
Moos auf den Steinen
Moos auf den Steinen
Ebook326 pages4 hours

Moos auf den Steinen

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About this ebook

1956 veröffentlichte Gerhard Fritsch seinen Roman "Moos auf den Steinen". Er löste bei Erscheinen eine große Debatte aus und wurde als (rückwärtsgewandte) Beschwörung des geistigen Erbes des Habsburger Reiches verstanden. Jahrzehnte später zog das Buch wegen dieser (Fehl-)Lektüre Kritik auf sich. Mehr als fünfzig Jahre später ist es an der Zeit, den hier nach langem zum erstenmal wiederaufgelegten Roman in seinen Facetten zu begreifen.
LanguageDeutsch
PublisherAUMAYER
Release dateNov 11, 2014
ISBN9783902923356
Moos auf den Steinen

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    Moos auf den Steinen - Gerhard Fritsch

    MOOS AUF DEN STEINEN

    Gerhard Fritsch

    ISBN 978-3-902923-35-6

    Digitale Ausgabe 2014

    Alle Rechte liegen beim Autor.

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Digitale Ausgabe herausgegeben von:

    Aumayer Druck & Verlag

    Web: www.aumayer.co.at

    Diese Ausgabe basiert auf der Printausgabe von:

    © Korrektur Verlag Mattighofen

    Web: www.korrekturverlag.com

    Gestaltung und eBook Umsetzung: 

    Aumayer Media

    Web: www.aumayermedia.at

    GERHARD FRITSCH

    Werkausgabe in Einzelbänden 

    Band 1

    Gerhard Fritsch

    MOOS AUF DEN STEINEN

    Roman

    INHALT

    DR. MEHLMANN HAT SEELE

    DIE AUSGESTOCHENEN AUGEN

    DIE WELT IST TRAURIG UND SCHÖN 

    DIE LEERE MITTE 

    EHRE SEI DEM VATER UND DEM SOHNE

    MODO AUSTRIACO

    UNTER DER TROMMEL DES REGENS

    SCHALLERBACH UND DIE AUFERSTEHUNG

    SECHSUNDDREISSIG GERECHTE GIBT ES

    UND ERLÖSE UNS VON ALLEM ÜBEL

    DAS WASSER RINNT GEGEN MORGEN

    DAS ZWÖLFTE KAPITEL

    EDITORISCHE NOTIZ

    DR. MEHLMANN HAT SEELE

    „Fahr schneller, Josef", sagte Dr. Mehlmann zum Mann auf dem Kutschbock.

    Der Mann, der übrigens nicht Josef hieß, tat so, als wollte er den alten, dunkelbraunen Wallach zu schnellerer Gangart bewegen. Es half aber nichts. Die verwitterte Kalesche fuhr keineswegs weniger gemächlich weiter.

    Ackergaul bleibt Ackergaul, Herrschaftswagen bleibt Herrschaftswagen, auch wenn durch die abgewetzte Polsterung schon das Seegras herausquillt und sich das Leder der zurückgeschlagenen Plache einreißen läßt wie Papier.

    Dr. Mehlmann riß es nicht ein. Er hätte es höchstens getan, wenn es zur Unterstreichung eines schönen Satzes gepaßt hätte.

    Im Augenblick jedoch sagte er gar nichts. Er wäre schon gerne am Ziel gewesen. Gelangweilt holte er eine Zigarettenschachtel aus der Tasche. Er bot auch Petrik an. Der gab seinem Nachbarn dafür Feuer.

    Petrik war froh über die Zigarette. Er hatte keine bei sich. Was habe ich überhaupt, fragte er sich im stillen.

    Auch der Mann auf dem Kutschbock hätte gerne geraucht. Aber er drehte sich vergeblich um. Dr. Mehlmann war sparsam gegen jede Art von Untergebenen, er nannte sie meistens Josef. Das hatte er sich beim Militär so angewöhnt.

    Petrik sah in die Landschaft.

    Die Kalesche roch nach Leder, Schweiß und Vergangenheit. Von Zeit zu Zeit knarrte die Federung.

    Zu beiden Seiten der Straße standen windschiefe Apfelbäume. Die ganze Fahrbahn lag voll grasgrüner Früchte, keine größer als eine Kinderfaust. Niemand hob sie auf. Sie waren so sauer, daß man schwer den Mund wieder zubrachte, hatte man hineingebissen. Die Räder, die über sie gingen, machten sie gleichgültig zu staubigem Most.

    „Fahr schneller, Josef", sagte Dr. Mehlmann. Es half auch diesmal nicht viel.

    Hinter den Apfelbäumen lag flach wie ein Brett die Ebene. Außer Kartoffeln und Rüben war in diesem Herbst nichts mehr zu ernten. Die verschleierte Sonne hing uralt über den Stoppelfeldern. Der Septembernachmittag war voller Spinnweben.

    „Stinkfad dieses Marchfeld, eine Gegend, in der einem die Füße einschlafen", meinte Mehlmann zu seinem Nachbarn im schäbigen Fond der Kalesche.

    „Mir gefällt jede Ebene, erwiderte Petrik. „Überhaupt wenn sie so still und leer ist wie hier. Eine richtige Septemberlandschaft. Nur die Bohrtürme draußen stören ein bißchen.

    „Dein alter Stille-Komplex. Mit dem wirst du höchstens einmal Straßenwärter mit einem kleinen Häuschen mitten im Marchfeld", sagte Mehlmann seufzend.

    Es seufzte gleichzeitig in den Wagenachsen. „Ob das das Schlechteste wäre, Herbert", erwiderte Petrik.

    „Die ewige Romantik! Na, ja, Michael, ich werde dich dann jedenfalls einmal besuchen, um Stoff für eine rührselige Story zu holen, bei der am Schluß alle Hauptpersonen vor Ergriffenheit weinen, weil sie angesichts einer eben aufgeblühten Brennessel gemeinsam beschließen, fürderhin (merk dir dieses Wort mit Klang) edle Menschen zu sein."

    Der Mann auf dem Kutschbock schneuzte sich in die Finger. Allerdings nicht aus Ergriffenheit. Jetzt kommt also der Mehlmann wieder aufs Schloß. Ob er wirklich die Jutta … ?

    „Deine Stories fallen dir schon von selber rührselig genug ein, meinte Petrik. Mit seinen beiden letzten Filmen hat Freund Mehlmann ja wieder ein gutes Geschäft gemacht. „Richtig dosieren, darauf kommt es bei allem an, sagte Mehlmann und kniff ein Auge zu, nachdenklich einen Bohrturm weit draußen in der Ebene anvisierend.

    Dieser Petrik ist wahrscheinlich einer von den vielen kleinen Hungerleidern mit großem Spleen. Die sammelt der Baron wie ein anderer Briefmarken. Ärgerlich verjagte der Mann am Kutschbock eine grüne Fliege von seiner Hand.

    Freund Mehlmann, Freundschaft. Eine seltsame Freundschaft, überlegte Petrik und warf den Zigarettenstummel an dem selbstbewußten Erfolgsgesicht seines Nachbarn vorbei auf die Straße. Er wählte absichtlich die Seite an Mehlmanns Nase vorbei.

    Eigentlich hatte sie der Zufall vor acht Jahren zusammengeführt. 1945 waren sie gemeinsam in einem amerikanischen Gefangenenlager am Rhein gesessen. Drei Monate mit einer Handvoll Keks als Tagesverpflegung. Sie hatten sich gefunden im Gespräch über Schweinsbraten, Nietzsche und die Psychoanalyse. Beide waren sie aus Wien, beide hatten die Matura. Irgendwie wollten beide studieren. Das Vorlesen gegenseitiger erster Bemühungen, sich „dichterisch" auszudrücken, stellte eine enge Verbindung her. Sie beschlossen, gemeinsam zu versuchen, sich nach Wien durchzuschlagen.

    Es gelang ihnen auch. Sie brauchten dazu zehn Wochen, in denen sie manches sahen und erlebten, was sich in „Trümmerstories" gut verwerten ließ.

    Wieder in Wien, inskribierten sie beide Germanistik. Eine Zeitlang wohnte Mehlmann bei Petrik, besser gesagt in dem Hofkabinett, das dieser bei seiner Schwester in Untermiete genommen hatte. Es gelang Mehlmann jedoch bald, die beschlagnahmte Villa seines Vaters zurückzubekommen, eines höheren Staatsbeamten, der während des Zusammenbruches ins Salzkammergut geflüchtet war. Mehlmann war schon damals sehr aktiv. Er ließ seine Eltern zurückkommen und ordnete die Belange seines Vaters. Der alte Herr kam als einer der ersten seiner Schicksalsgenossen in den Genuß einer ganz annehmbaren Pension.

    Mehlmann junior studierte lässig, aber mit beachtlichem Erfolg, er war nebenbei führend in einer Studentenorganisation tätig und veröffentlichte auch verhältnismäßig rasch seine ersten Gedichte und Kurzgeschichten, die gar nicht so konservativ waren wie die politische Verankerung ihres Verfassers.

    Anders Petrik. Er mußte, um studieren zu können, Arbeit annehmen. Er war lange nicht so erfolgreich wie sein Freund. Von Mehlmann aus gesehen war er sogar rührend ungeschickt in jeder Beziehung. Er arbeitete als Bürodiener, Buchhandlungsgehilfe und schließlich als Vertreter.

    Er hatte keine glückliche Hand. Er hatte keine Durchschlagskraft.

    Petrik wußte, daß Mehlmann recht hatte, wenn er ihm vorwarf, daß er sich alles selbst verdarb. Er nahm das Wichtige unwichtig und das Unwichtige wichtig. Er fing vieles an und ließ alles wieder stehen. Eine Zeitlang war er so verbittert, daß er Kommunist wurde.

    Aber auch das gelang ihm nicht, obwohl er, wie Mehlmann ihm richtig prophezeit hatte, mit einiger Geschicklichkeit auf diese Weise hätte Karriere machen können.

    Abgesehen davon, daß er keine Durchschlagskraft hatte, überlegte er vielleicht zuviel. Er dachte nach, umständlich, altmodisch, in einer Art, die nicht nur bei Kommunisten unbeliebt ist.

    In Zeiten, in denen Petrik als Buchvertreter allzuwenig verdiente, war er als Nachtwächter auf dem Materialplatz einer großen Baufirma beschäftigt. Daneben hörte er weiter Vorlesungen ganz verschiedener Gebiete. Ganz so, als könnte er sich, finanziell unabhängig, auch in entlegene Wissensgebiete vertiefen. Hier und da machte er ein Kolloquium, aber von einem geregelten Studiengang konnte mit bestem Willen nicht gesprochen werden.

    Als Mehlmann promoviert wurde, hatte Petrik zwar schon drei Dissertationen verfaßt, allerdings keine davon für sich selbst. Es gab stets einige Leute, die zum Doktorat nicht soviel Mühe aufwandten, um ihre Dissertation selbst zu schreiben. Es gab auch stets einige arme und nicht ganz dumme Teufel wie Petrik, die so etwas gegen einen gar nicht so bedeutenden Betrag sehr sachkundig in verschwiegener Stellvertretung durchführten. Nebenbei bemerkt hatte Petrik auch an Mehlmanns Dissertation einigen Anteil, doch Mehlmann hatte wenigstens seinen Beitrag zur Wissenschaft selbst stilisiert und niedergeschrieben.

    Auf seinen Stil hielt Mehlmann große Stücke: wie er den Schal band, den Hut aufsetzte, wie er Komplimente machte und schließlich auch, wie er Literatur betrieb. Während Petrik nur hie und da ein Gedicht oder einen kleinen Essay in einer Zeitschrift unterbringen konnte, war Mehlmann schon einer der bekanntesten jungen Autoren seines Landes.

    Er berechtigt zu den größten Hoffnungen, schrieben die Kritiker. Und die Schmocks, die in den Kaffeehäusern die Welt längst zum Tode verurteilt hatten, flüsterten sich anerkennend zu, daß es sei, betrat er eines dieser Lokale.

    Er hatte einen Gedichtband veröffentlicht, ganz in Schwarz gebunden, darüber einen reichlich konfusen Schutzumschlag, der den Titel „Die Schlangenorgel" vergeblich näher zu interpretieren versuchte. Er hatte eine wöchentliche Feuilletonspalte in der größten Wiener Mittagszeitung, in der er, weniger surreal, vom Abendland und den ewigen Werten plauderte, er hatte jede Woche eine fixe Sendezeit im Rundfunk, in der er die neuesten Filme besprach.

    Der Film lag ihm besonders am Herzen: er hatte bereits drei Drehbücher günstig verkauft. Außerdem stand sein erster Roman „Die schmutzigen Schuhe", eine effektvolle Zeitstory, knapp vor dem Erscheinen in einem großen westdeutschen Verlag.

    Die Korrekturfahnen befanden sich in der eleganten roten Zipp-tasche, die furchtbar neu auf der zerrissenen Polsterung der Kalesche zwischen den Sitzflächen der beiden Freunde lag. Mehlmann wollte auf Schloß Schwarzwasser den „Schmutzigen Schuhen" den letzten Glanz geben, wie er versicherte.

    „Weißt du, meinte er unvermittelt nach einer längeren Zeit selbstgefälligen Nachdenkens, „es ist eigentlich doch ganz gut, daß man auch heutzutage noch so aus allem herauskann. Ganz schön, daß es noch so sagenhafte Vehikel gibt wie das, in dem wir sitzen. Man kann mit ihnen glatt, das heißt natürlich etwas umständlich, ein halbverfallenes Schloß mitten in der Au, mitten im zeitlosen Urwald, erreichen.

    „Also auch ein bißchen Seele in diesem Mehlmann", sagte Petrik und dachte an einen Fabrikanten, der an einem Wochenende im Monat seine Liebe zu Erde und Bäumen pflegt. Etwas gewaltsam natürlich, und wahrscheinlich nur, weil Camping und dergleichen gerade aktuell sind und propagiert werden.

    „Was heißt Seele, entgegnete der rotblonde, mit seinen dreißig Jahren schon zur Fülle neigende Nachbar. „Mehlmann hat Seele, Mehlmann hat Gefühl, vielleicht sogar viel zu viel davon, ich kann mich nur besser beherrschen als die windelweichen Brüder von der Gänseblümchengilde.

    „Du meinst also mich."

    „Ach, wer spricht von dir, du bist ein besonderer Fall. Aber bleiben wir bei mir: Ich habe da zufällig dieses Mädchen aus der Au kennengelernt – rassig, kann ich dir sagen, du wirst ja sehen – (er sprach jetzt leiser, damit es der Mann „Josef auf dem Kutschbock nicht hören konnte). „Sie gefällt mir ausnehmend, ich erfahre, daß sie in einem Barockschloß da unten wohnt (er wies vage mit der Rechten gegen Südosten), „eine echte Baronesse, die noch adeliges Landleben wie vor hundert Jahren betreibt. Na, ich halte mich dazu, Mehlmann wirklich verliebt, ich gefalle ihr auch, sie lädt mich ein, wir verloben uns sozusagen! Obwohl dieses ganze Schloß Schwarzwasser nur mehr eine zerfallende Ruine ist, in die nicht einmal das Wohnungsamt jemanden einweisen würde. Und der Alte, der Herr Baron Franz Joseph Suchy-Sternberg, ein Original, ein verschrobener Kauz, der den Roman Alt-Österreichs schreiben wollte und in dreißig Jahren noch kein Kapitel fertiggebracht hat! Dabei aufgeblasen und sonderbar, gar nicht einfach, mit ihm umzugehen.

    Die Wagenachsen knarrten plötzlich ganz gefährlich. Mehlmann befürchtete einen Radbruch. Aber der Wallach ging seelenruhig weiter. Die Sonne hing verschleiert über der Spinnweben-Ebene. Die Holzäpfel lagen zerquetscht im Staub der elenden Bezirksstraße.

    „Womit also hinlänglich bewiesen wäre, daß Mehlmann Seele und Gefühl hat, resumierte Petrik, „er ist verliebt in eine Baronesse, er verlobt sich mit ihr, obwohl sie wahrscheinlich kein Geld hat, das Stammschloß schwer lädiert und der Herr Schwiegerpapa ein Sonderling ist. Er fährt bereits zum fünftenmal ...

    „Das sechstemal", unterbrach ihn Mehlmann.

    „Gut. Er fährt also bereits zum sechstenmal in diesem Jahr in die weltverlassene Gegend – der seltene Fall eines modernen Minnesängers. Eine gute Propaganda für einen jungen Autor in unserer trotz allem, dank des Films, wieder recht sentimentalischen Zeit. Man hört sicher gerne, wenn du dieses Treatment‘ zum besten gibst. Auch mir gefällt es, offen gestanden, jedesmal besser, wenn du es erzählst. Und ich hörte es ja schon einige Male."

    „Was soll es denn, du wärst froh, hättest du irgendwann einmal eine solche Bekanntschaft gemacht. Da wärst du wenigstens einmal aus dem Wasser. Soviel, um dich auszuhalten, hat der Alte auf jeden Fall noch!"

    „Ganz bestimmt, Herbert. Ich bin auch recht froh, daß mich der geschätzte Herr Minnesänger jetzt mitnimmt aufs Schloß. Auf ein echtes Schloß. Zu einem echten Baron. Ist immerhin seit drei Jahren mein erster Urlaub."

    „Na also."

    Das Gras hinter den Holzapfelbäumen hatte der Sommer verbrannt. Es stand fahl und struppig wie Pferdemähnen entlang der Straße. Nah und fern schabten vielstimmig die Grillen. Es roch nach welkendem Kartoffelkraut und trockener, sandiger Erde.

    Die drei Männer in der Kalesche spürten aber vor allem den Geruch des Wagens: den ins Leder eingegangenen Duft ungezählter Sommer, reicher, sonniger Sommer und die nicht minder festgefressene Ausdünstung ebenso ungezählter Jahre in muffigen Schuppen.

    Der Mann auf dem Kutschbock drehte sich wieder einmal um. „Wir kommen bald in die Au."

    „Ja, ja, endlich, sagte Dr. Mehlmann. Er vergaß diesmal, das „Fahr schneller, Josef anzufügen.

    Tatsächlich wuchs die Wand der Aubäume ihnen langsam entgegen. Der Übergang aus der Ebene zur Au vollzog sich plötzlich. Hinter der ersten gewaltigen Reihe von Erlen, Schwarzpappeln und uralten Weiden begann der Auwald. Draußen die dürre Kargheit einer östlichen Steppenebene, mühsam nur dem Ackerbau unterworfen, im Wald mit seinen hunderten Wasserarmen und Lacken, die alle insgeheim vom großen Strom gespeist werden, das üppig wuchernde Leben zwischen Keimen, Fäulnis und neuem Keimen, unentwirrbar ineinander verstrickt.

    Bei einer hohen Pappel, an der ein verwaschenes Marienbild hing, mit einem verdorrten Tannenzweigbukett geschmückt, bog der Wagen von der Bezirksstraße und ihren Apfelbäumen ab.

    Die Bezirksstraße wich der Au in großen Bogen aus, als hätte sie Angst vor ihr. Sie führte zu irgendwelchen abgelegenen Dörfern schon nahe der Mündung der March in die Donau.

    Mehlmann sah auf die Armbanduhr (Schweizer Ware, prächtig, prächtig). Er winkelte dabei den Arm so ab wie alle, die im Zeitalter der Manager sich selbst zu diesem Geschäft begabt und berufen fühlen. „Über eine Stunde fahren wir schon mit diesem Karren, Josef. Das letztemal haben wir vom Autobus bis zur Pappel nur knappe 45 Minuten gebraucht."

    Der Mann auf dem Kutschbock gab durch Gesichtsausdruck und Schulterhaltung zu verstehen, daß er nichts dafür könne. Außerdem hatte Petrik das dringende Gefühl, daß sich dieser gute Mann mit Josef nicht sonderlich angesprochen fühlte.

    Petrik hatte nichts gegen die lange, langsame Fahrt. Sie fuhren jetzt in einer Allee hoher Kastanienbäume. Es war der Weg zum Schloß. Seine Fahrbahn war noch schlechter als die der Bezirksstraße. Die Räder der Kalesche, staubig von der Ebene, mahlten hier durch nassen Sand, Gras und Unkraut. Wären die Kastanien nicht gewesen, hätte man schwer erkannt, daß die Schneise in die Au überhaupt ein Weg sein sollte.

    Mehlmann atmete auf. Es war kühl unter dem dichten Blätterdach. Die Schnaken und all das andere Mückenzeug kamen erst gegen Abend.

    Petrik streckte die Hand aus und riß sich ein Blatt von einem tief herunterhängenden Zweig ab. Eine große, gütige Hand. Er ließ sie winken. Sie winkte sanft in das Wuchern des üppigen Grüns hinter den Kastanien. Er hatte schon als Kind in den lappigen Blättern eine Hand gesehen. Es war seine erste Erfahrung mit Blättern. Im Hof des Zinshauses, in dem er aufgewachsen war, stand auch so ein Baum ...

    „Wenn uns der Apparat da nicht im letzten Augenblick in Brüche geht, sind wir in einer Viertelstunde am Ziel."

    Petrik gab Mehlmann keine Antwort. Er wollte jetzt nicht reden. Zumindest nicht mit Mehlmann. Er fühlte, daß er diesem seinem einzigen „Freund" eigentlich Unrecht tat, aber er fand ihn lächerlich. Ein aufgeblasener Clown, der gute Geschäfte macht. Ein Mann des Kaffeehauses, der nicht unter Bäume paßt. Vor acht Jahren war er noch ganz anders. Jetzt ist er ein Mann mit Namen, ein Mann mit Basis und Sicherheit. Ein Mann, der Stimmungen nicht erlebt, sondern Stimmungen macht. Oder sollte das doch etwas übertrieben sein? Das Kastanienblatt in Petriks Hand taumelte hin und her. Er hielt es sehr lose.

    „Eine tolle Straße, die sie da haben", sagte Mehlmann, um etwas zu sagen. Das Schweigen in der feuchten Dämmerung, in diesen vielen Schattierungen schwer atmenden Grüns, machte ihn unsicher. In der Ebene konnte er dahindösen, durch nichts aus seiner Fassaden-sicherheit aufgeschreckt. Die Au beunruhigte ihn jetzt wieder genauso wie im Frühjahr, als er zu seinem ersten Besuch nach Schwarzwasser gekommen war. Es dauerte einige Zeit, bis er sich an diese Gegend gewöhnt hatte.

    Mit Jutta und ihrem Vater ging es ihm ähnlich. Auch an ihnen war etwas, das seine gewohnte Selbstsicherheit ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. Diesmal sollte es aber nicht so sein: ich bin Herbert Mehlmann, immerhin. Man darf sich nicht allzusehr imponieren lassen. Auch nicht, wenn man verliebt ist.

    Und Mehlmann war verliebt. Er gestand es sich wieder einmal ein.

    Petrik soll staunen, verlegen und unsicher sein. Dem paßt das besser. Wahrscheinlich habe ich ihn hauptsächlich deshalb mitgenommen. Natürlich auch wegen der Korrekturen (daß Petrik besser Korrektur lesen konnte als er, gestand er ihm neidlos zu). Aber es ist auch gut, einen Begleiter zu haben, der meine Errungenschaften richtig einschätzt und vielleicht den einen oder anderen Hinweis gibt.

    Auch das. Petrik, so verdreht er ist, sieht manchmal recht klar.

    Also, zog Mehlmann die Bilanz, war es ein glänzender Einfall, Petrik mitzunehmen. Übrigens wird es auch ihm ganz gut tun.

    Zurückgelehnt in die jämmerliche Polsterung sah er seinen Nachbarn beifällig an. Mein ältester und bestimmt nicht mein schlechtester Freund. Er weiß zwar ein bißchen viel von mir, aber er macht ja keinen schlechten Gebrauch davon.

    Die vergraste Allee lief nun über einen Damm, der hinter den Kastanien steil abfiel. Das Dickicht reichte nicht bis an den Damm heran. Verschilfte Wasserflächen, aus denen der Moderdunst sumpfiger Gewässer aufstieg, drängten Bäume und Buschwerk zurück. Bis auf das Geräusch des Wagens war es sehr still.

    Im Frühjahr oder bei längerem Regen bedeckten die Tümpel wohl viel größere Flächen, denn an ihren Rändern lagen grellweiße Schotterfelder, hie und da von olivgrauen Streifen unterbrochen, die das Sinken des Wasserspiegels markiert hatte.

    Petrik vermißte das Krötengequake und die feinen, traurigen Rufe der Unken, die doch sonst immer in solchen Gegenden zu hören sind. Wahrscheinlich würden sie erst in der Dämmerung ihre uralten Stimmen erheben.

    Er liebte die geheimnisvollen Laute der Tümpel seit Rußland, seit dem Krieg, in dem die entrückten Stimmen aus verschilften Sümpfen und Wasserlöchern mit den Grillen das einzige waren, das der harte, trockene Lärm der Detonationen nie zum Schweigen gebracht hatte. Die Kröten und die Grillen konnte auch der totale Krieg nicht erschießen, sie sangen weiter, die unsichtbaren Geister der Landschaft, die überschrieen, aber nicht getötet werden konnten, wie der Mensch getötet wurde.

    In den Kastanien hingen die stacheligen Kugeln schon ziemlich groß. Manche waren schon aufgesprungen und zeigten die braunen Früchte.

    Zu beiden Seiten des Dammes war der Wald noch weiter zurückgetreten. Der Boden bestand hier aus Kieselhalden, auf denen selbst das Distelgrün vertrocknet und verdorrt schien. Die Sträucher, die auf diesen Halden wuchsen, standen da wie das dornige, zähe Astwerk der großen Steppen. Akazienbüsche, verstaubt die kleinen Blätter, Sanddorn mit den leuchtend gelben Beeren zwischen fingerlangen Stacheldolden, wilde Rosen mit roten Hagebutten, die Korallen staubiger Festländer.

    „Schau, ein Hase", rief Mehlmann plötzlich. Tatsächlich hopste ein graubrauner Feldhase gemächlich über die Kieselflächen.

    „Karnickel gibts hier in Massen", kommentierte der Mann auf dem Kutschbock ungefragt die naive Entdeckerfreude des jungen Erfolgsautors.

    Es freute Petrik, daß sich Mehlmann überhaupt noch um solche Nebensächlichkeiten kümmerte. Er hat doch noch bessere Augen, als ich dachte. Sieht einen gewöhnlichen Hasen.

    Und dann kam auf einmal das Schloß in Sicht. Zwischen den Stämmen und Ästen der Kastanien war es plötzlich aufgetaucht. Der Damm mündete in die steinig dürre Fläche des Buschwerks, das

    etwas dichter zusammenrückte. Die Kalesche hatte das Ende der Kastanienallee erreicht. Die Straße ging ein in eine weite Fläche, die durch ihr niedriges, zähes, teppichartiges Gras einer ungarischen Dorfweide glich. Es fehlten nur die Gänse. Und außerdem wuchsen für eine Weide aus dem Gras ein wenig zuviel Disteln.

    Das also ist dieses Schloß Schwarzwasser. Eine Ruine, einige Fensterhöhlen leer oder mit Brettern notdürftig vernagelt, viele Dachziegel zerbrochen und herabgefallen. Der Dachstuhl über dem höheren Mitteltrakt zeigte seine Sparren wie ein Skelett die Rippen. Verfall. Langsam, melancholisch zerbröckelnde Vergangenheit in weltverlassener Gegend. Die Barockfassade hält alles noch ein wenig zusammen. Auch im Sterben ist Stil das letzte Gesetz. So hielt man es ...

    Der Wagen fuhr eine weite Runde um den großen Platz.

    Dieses Schloß versinkt langsam in der Erde, dachte Petrik.

    Die Fenster des Erdgeschosses lagen nur noch einige Handflächen breit über dem Boden. Risse, die nicht alle von den Kriegseinwirkungen des Jahres 1945 stammen konnten, zogen sich über die ganze Mittelfront, die aber in ihrer Harmonie noch immer beherrscht und beherrschend wirkte. Vier Halbsäulen trugen den breiten Sims, über dem das hier flachere Dach seine verwitterten Sparren hielt. Auf den beiden Flanken des Simses standen zwei kleine Obelisken, der eine hatte keine Spitze mehr.

    Die beiden etwas niedrigeren, vorgebauten Flügeltrakte waren besser erhalten, obwohl auch von ihnen der mariatheresien-gelbe Verputz in großen Flecken abgefallen war und die gemischte Schichtung von Steinen und Ziegeln zeigte, in der man einst gebaut hatte.

    Ein Jagdschloß aus dem Barock, eine der schönen Posen, die der Zufall in die Zeit der Lagerbaracken und Mietställe, mühsam genug, herübergerettet hat.

    Petrik hatte kein Auge mehr für Mehlmann gehabt, der im Anblick des Schlosses instinktiv die rote Zipptasche von der zerschlissenen Polsterung genommen und auf seine Knie gelegt hatte. Er hielt sie fest, als sei sie ein Schild oder gar eine Waffe im Kampf gegen das Schloß, das er in den nächsten Augenblicken betreten würde.

    Die Kalesche hielt stöhnend vor dem Gitter, das zwischen den bei- den Seitentrakten und der Mittelfront des Schlosses einen kleinen Platz von der großen Gänseweide abschloß. Viele der eisernen Stäbe mit den lanzenähnlich breitgeschmiedeten Enden waren, wie es aussah, mit Gewalt aus dem Gitter herausgebrochen worden. Das Tor zwischen den bemoosten Pfeilern fehlte überhaupt. Gelb verrostete Angeln hingen nutzlos im Sandstein.

    Der Mann „Josef" stieg vom Kutschbock, tätschelte den Wallach und ging dann daran, die beiden Koffer, den hotelzettelbeklebten Lederkoffer Mehlmanns und das ramponierte kofferähnliche Gebilde Petriks, vom Brett zwischen den Hinterrädern herunterzuheben. Petriks Koffer war oben gelegen und dadurch über und über mit dem Staub der Bezirksstraße bedeckt.

    „Josef" trug die beiden Koffer wortlos dem Portal des Schlosses zu. Die beiden Freunde folgten ihm ebenso schweigend. Die Stille war bedrückend, das Schloß schien ausgestorben.

    Als der Wallach unvermutet wieherte, schob Mehlmann seine rote Aktenmappe fester unter den Arm. Dann wandte er sich aber lächelnd zu Petrik und sagte, wieder völlig Herr der Lage:

    „Wenn das Ganze da einmal mir gehört, wird es anders aussehen."

    Hoch wie die Lebensbäume zu beiden Seiten des Weges zum

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