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Sterben für Kabul: Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg
Sterben für Kabul: Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg
Sterben für Kabul: Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg
Ebook410 pages5 hours

Sterben für Kabul: Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg

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Dieses Buch handelt vom Kämpfen, Töten und Sterben deutscher Soldaten in Afghanistan. Die Gesellschaft, in deren Auftrag die Soldaten in den Kampf geschickt werden, hat die Tendenz, den Krieg zu verdrängen oder zu verharmlosen. Beides ist inakzeptabel, nicht nur aus Sicht und im Sinne der Soldaten, sondern aus Gründen demokratischer Selbstvergewisserung.

Wenn Demokratien Krieg führen, haben ihre Bürger das Recht und die Pflicht, die Gründe, für die Mitbürger Tausende Kilometer entfernt ihre Gesundheit riskieren, für die sie mitunter töten und sterben, regelmäßig neu und kritisch zu überprüfen. Dies ist in über zehn Jahren Afghanistankrieg nicht geschehen. Der Titel erscheint als reflowable ebook.
LanguageDeutsch
Release dateJan 1, 2015
ISBN9783813210002
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    Sterben für Kabul - Marco Seliger

    verwenden.

    Zeittafel – Ein Abriss der Geschichte Afghanistans

    Afghanistan

    Grafik: Ruwen Kopp

    1. Kapitel | Was uns die Geschichte lehrt

    Afghanistan, Mitte 19. Jahrhundert

    Die Höfe gleichen Festungen: vier bis sechs Meter hohe fensterlose Lehmmauern, an der Ecke ein Wachturm, am Eingang ein eisenbewehrtes Tor. Mehrere dieser Behausungen hinter- und nebeneinander bilden ein Dorf. »Die Afghanen sind ein tapferes, zähes und freiheitsliebendes Volk«, schrieb Friedrich Engels vor mehr als 150 Jahren. »Nur ihr Hass auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe für persönliche Unabhängigkeit verhindern, dass sie eine mächtige Nation werden.« Afghanistan ist ein Land im Schatten der Geschichte. 1801 wurde der Name erstmals offiziell erwähnt. Es hat einige Versuche gegeben, das Land aus seiner Isolation zu holen. Die Briten griffen dreimal an. Sie wollten ihre Vormachtstellung in der Region im Kampf mit dem zaristischen Russland sichern. In ihrem »Great Game« lieferten sich das Zarenreich und das Empire einen absurden Wettbewerb um Macht und Einfluss. Die Briten waren überzeugt davon, Russlands Vormarsch nach Indien nur abwehren zu können, wenn sie Afghanistan kontrollierten. Zwischen 1838 und 1919 führten sie dreimal Krieg am Hindukusch. Sie scheiterten verlustreich. Afghanistan wurde zum Friedhof für Tausende britische, später sowjetische und noch später amerikanische und andere westliche Soldaten.

    Den ersten Anlauf unternahmen die Briten am 25. April 1839 – und ihr Vorgehen mutet aus heutiger Sicht wohlbekannt an. Etwa 21.000 Soldaten setzten über den Indus. Am 7. August marschierten sie kampflos in Kabul ein und setzten ihren Kandidaten Schah Shudscha anstelle des russlandfreundlichen Emirs Dost Mohammad auf den Thron. Das Volk lehnte die Marionette ab. Die Briten mussten den neuen Emir schon bald stützen und beschützen. Sie besetzten Afghanistan, errichteten eine große Garnison in Kabul und stationierten kleinere Truppenkontingente in anderen Städten. Wie in ihren Kolonien üblich, richteten sie sich in ihrem Überlegenheitsgefühl mit allem Komfort ein. Sie scherten sich nicht um Kultur und Religion und machten sich sogar an die Frauen heran, die in Afghanistan für Fremde unantastbar sind.

    In Kabul stiegen die Preise. Breite Schichten der Bevölkerung verarmten und machten die Besatzer dafür verantwortlich. Viele britische und indische Soldaten ließen Frauen und Hausrat kommen, mit denen sie sich in kaum befestigten Kasernen in einer sumpfigen Senke außerhalb der Stadt einrichteten. Munition und Vorräte wurden unter Missachtung elementarster militärtaktischer Grundsätze weit entfernt von ihren Kasernen untergebracht. Ganz wohl schienen sich die Briten jedoch schon damals nicht gefühlt zu haben. Als General John Keane, der Befehlshaber der Truppen, im Oktober 1839 zurück nach Bombay aufbrach, soll er den jungen Leutnant Henry Durand vor der kommenden Katastrophe gewarnt haben. Es war der Vater jenes Mortimer Durand, der 1893 als Außenminister der englischen Verwaltung in Britisch-Indien den bis heute konfliktträchtigen Grenzverlauf zwischen Afghanistan und Pakistan willkürlich durch paschtunisches Stammesgebiet festlegte und es den Briten damit ermöglichte, die paschtunischen Stämme gegeneinander auszuspielen. Mortimer Durand verhalf dem Empire mit diesem diplomatischen Schachzug dazu, den Unruheherd Afghanistan leichter zu kontrollieren. Der einstige Vorteil hat sich jedoch längst als Fluch erwiesen. Entlang der Durand-Linie, der heutigen Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan, gibt es keine Staatsgewalt, keine Polizei und keine Armee. Es gibt nur die Ordnung der paschtunischen Stämme. Hier fanden in den 80er-Jahren die Mudschaheddin, später Osama bin Laden und sein Terrorgefolge und heute die Taliban mit ihren fundamentalistischen arabischen Unterstützern Unterschlupf.

    General Keane behielt recht. Zunächst schenkten die Briten den zunehmenden Unruhen in den Provinzen nicht die nötige Aufmerksamkeit. Dann wurde der Krone die Expedition am Hindukusch zu teuer. Gespart wurde nicht bei den Truppen, sondern bei den verbündeten afghanischen Milizen. Sie wechselten prompt die Seiten. Am 2. November 1841 brach in Kabul der Aufstand los.

    Die Kolonialtruppen wurden von General Elphinstone befehligt, einem unentschlossenen, hilflosen alten Mann, der an Rheuma und Fieber litt und ständig widersprüchliche Befehle gab. Er nahm an, die Aufständischen seien schwach und einfach zu besiegen. Doch schon bald wurden die Soldaten in ihren Kabuler Kasernen von den Stämmen belagert. Von Hunger und Kälte zermürbt, wurden die Kampftruppen aufgerieben und teilweise vernichtet. Schließlich kapitulierten die Briten. Sie handelten freien Abzug aus und sollten zugleich jeglichen Einfluss in Afghanistan verlieren. Am 6. Januar 1842 verließen sie mit 4.500 Kampftruppen und 12.000 Familien- und Trossangehörigen Kabul in Richtung Indien. Sie nahmen die Straße nach Jalalabad. Sie führte in den Tod. Schnee, Frost und Nahrungsmangel hatten eine Wirkung wie bei Napoleons Rückzug aus Moskau. Die Truppen wurden von Kälte und Hunger dahingerafft und von pausenlosen Angriffen wutentbrannter afghanischer Stammeskrieger aus dem Hinterhalt gepeinigt. Der Khurd-Kabul-Pass war von Leichen übersät. Er wurde fast allen Soldaten und ihren Begleitern zum Grab. Es war das größte Militärdebakel der britischen Kolonialgeschichte. Der gängigen Überlieferung zufolge überlebte mit dem Militärarzt Dr. William Brydon nur ein einziger Mann den Todesmarsch. Tatsächlich erreichten einige Verwundete und Versprengte mehr die Garnison in Dschalalabad lebend.

    Eine Begebenheit wie eine Metapher, die bis heute für Invasionen in dieser Weltgegend gilt. Doch Imperien lernen offensichtlich nicht. Sie verdrängen ihre Niederlagen. Die Briten schickten umgehend eine Strafexpedition und richteten ein Massaker an der Bevölkerung an. Im Oktober 1942 zogen sie sich vollständig nach Indien zurück. Zwei weitere Male versuchten sie, Afghanistan zu unterwerfen. Alles, was sie erreichten, war ein Schutzvertrag mit Kabul, der die Russen aus dem Land fernhielt. Als die Briten Afghanistan, vom Ersten Weltkrieg geschwächt und vom Ärger mit aufständischen paschtunischen Stämmen genervt, 1919 die volle Unabhängigkeit zugestehen mussten, war die Sowjetunion der erste Staat, der die neue Nation anerkannte. Es war der Beginn einer langen Partnerschaft, vor allem der Militärs. Über Jahrzehnte übte die sowjetische Armee großen Einfluss auf die afghanischen Streitkräfte aus.

    Doch eine weitere europäische Macht entwickelte plötzlich ein Interesse an dem Land am Hindukusch. Wie zuvor Russland und das britische Empire war auch sie von reinem machtpolitischen Kalkül getrieben. 1915 sollte der bayerische Artillerieoffizier Oskar von Niedermayer im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. den afghanischen Emir Habibullah auf die Seite der Mittelmächte ziehen und zum »wilden Aufstande« gegen Großbritannien und Russland aufstacheln. Deutschland wollte seine Kriegsgegner in einen Mehrfrontenkrieg verwickeln. Doch der Emir in Kabul entschied sich, neutral zu bleiben. Gleichwohl hinterließ die Niedermayer-Expedition bleibenden Eindruck am Hindukusch. Der 1916 ausgehandelte deutsch-afghanische Vertrag brachte dem Emir die Anerkennung seines Landes durch eine europäische Großmacht ein. Die Afghanen haben das den Deutschen bis heute nicht vergessen.

    Afghanistan, Anfang 20. Jahrhundert

    Drei Jahre nach dem Auszug Niedermayers aus Kabul im Mai 1916 ertrotzten die Afghanen ihre Unabhängigkeit von Großbritannien – um gleich darauf diplomatische Beziehungen zu Deutschland aufzunehmen. Nach der Ermordung von König Habibullah im Jahr 1919 bestieg sein Sohn Aman Ullah den Thron. Er modernisierte den Staat, schuf eine Verwaltung und führte die Schulpflicht ein. Er orientierte sich an Deutschland. Es entwickelte sich eine enge wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Zunächst waren es Geschäftsleute, Techniker, Ausbilder und Diplomaten, die eine deutsche Präsenz in Afghanistan begründeten. Sie bauten Schulen, Fabriken, Straßen und Krankenhäuser. 1921 begannen die Regierungen beider Staaten mit gegenseitigen Delegationsbesuchen. 1923 wurde die deutsche Gesandtschaft in Kabul eröffnet.

    Von nachhaltiger Wirkung blieb das deutsche Engagement im afghanischen Bildungssektor. Junge Afghanen wurden ab 1922 im Rahmen eines staatlich geförderten Programms zur Ausbildung nach Deutschland eingeladen. Zugleich förderte Deutschland den Aufbau des Schulsystems in Afghanistan. Die Eröffnung der deutschsprachigen Amani-Oberrealschule in Kabul im Jahr 1924 ermöglichte auch den bürgerlichen Schichten Afghanistans eine fundierte Ausbildung, die ihnen dabei half, in die Führungselite des Staates und der Gesellschaft aufzusteigen. Deutsche Ingenieure bauten Staudämme, deutsche Architekten und Künstler errichteten den prunkvollen (und im Bürgerkrieg der 90er-Jahre zerstörten) Königspalast im Kabuler Vorort Darulaman. Noch in den 60er-Jahren zahlte Deutschland keinem Land so viel Entwicklungshilfe wie Afghanistan. Doch vor allem auf dem frühen Engagement Deutschlands in Afghanistan gründete die später für viele Bundeswehrsoldaten überraschende, wegen des häufigen Bezugs auf eine »gemeinsame arische Kultur« bisweilen unangenehme, überschwängliche Sympathie, die ihnen viele Afghanen entgegenbrachten.

    Oskar von Niedermayer hatte als einer der ersten Deutschen überhaupt das ungestüme Temperament und das sture, trotzige, nach innen gerichtete und oftmals unterschwellig fremdenfeindliche Wesen der Afghanen kennengelernt. Wenige Regionen der Welt waren so vielen Wanderzügen, Invasionen und verschiedenen kulturellen Einflüssen ausgesetzt wie Afghanistan. Fast alle Nationen Asiens waren kolonialisiert. Afghanistan aber konnte nie wirklich erobert werden. Das Land ist ein Korridor der Mächte. Ein Pufferstaat. Hier Indien und China, dort Persien. Hier Zentralasien, dort der Indische Ozean. Mit Hartnäckigkeit haben die Afghanen ihre Identität und Kultur durch die Wirren der Zeit bewahrt. Unterwürfigkeit gegenüber einer fremden Macht ist ihnen unbekannt, auch wenn ihr Land zwischen den Volksgruppen geteilt ist und sie sich selten einig sind.

    So wie der Hindukusch das Land geografisch durchschneidet, zerfällt die Bevölkerung ethnisch in die indogermanischen Paschtunen sunnitischen Glaubens südlich des Gebirges und in verschiedene turko-mongolische und tatarische Stämme, die überwiegend nördlich siedeln. Niedermayer war, wie viele westliche Besucher des Landes nach ihm, fasziniert von der Physiognomie des »Völkerkessels« Afghanistan: von den adlernasigen Persern, den schrägäugigen Mongolen und den stolzen, schwarzhaarigen Paschtunen. Die Paschtunen stellten von jeher in Afghanistan den größten Bevölkerungsteil. Ihre Stämme sind herrisch, kriegerisch und lehnen jede zentrale Autorität ab.

    Die Loyalität der Paschtunen gehört der Familie, dem Clan, dem Unterstamm, dem Stamm. Und danach vielleicht der Regierung in Kabul. Zwei Stammesverbände ragten stets hervor: die Durani und die Ghilzai. Sie haben sich in ihrer Geschichte fortlaufend bekämpft. Ohne ihre Zustimmung kann sich keine Macht in Kabul lange halten. Der heutige Präsident, Hamid Karsai, entstammt den Durani, die seit mehr als 230 Jahren die Hauptstadt beherrschen. Afghanistan befindet sich noch immer im Übergang von einer feudalen Stammesgesellschaft zu einer Nation. Das erschwert es, eine zentrale Macht, gar einen modernen Zentralstaat, zu errichten. Der Westen verdrängt das seit einem Jahrzehnt geflissentlich.

    Es gibt kaum eine Gesellschaft, die so konfliktgeladen ist wie die afghanische. Ein Ehrenkodex, der »Paschtunwali«, schreibt dem Paschtunen vor, wie er sich im Konflikt zu verhalten hat: Er muss Badal üben, Vergeltung. Meist ist dies mit Blutrache verbunden. Wenn er sie zu umgehen versucht, hat er sich entehrt. Zum Ehrenkodex gehört auch die Gastfreundschaft. Es zählt zu den Pflichten eines Paschtunen, selbst seinen Todfeind zu beherbergen, wenn er um Asyl bittet. Die Afghanen, das zeigt ihre Geschichte, sind ein unbeugsames, kriegerisches Volk, hart wie die Natur, in der sie leben. Die Winter sind rau und kalt, die Sommer glühendheiß. Armut und Hunger haben den Menschen im Hochland, in den Steppen und Wüsten immer schwer zugesetzt. Nur die Stärksten überleben. Doch so zerstritten sie meist sind, so einig waren sich die Afghanen immer, wenn es um ihre Unabhängigkeit ging. Die Invasoren haben das über die Jahrhunderte zu spüren bekommen. Auch die Rote Armee, die die sowjetische Regierung von Weihnachten 1979 an in einen verheerenden, brutalen und folgenschweren zehnjährigen Krieg schickte. Der Krieg war hart für die Afghanen. Die Sowjetunion hingegen zerbrach nicht zuletzt auch daran.

    Afghanistan, 1979–1989

    Die sowjetische Invasion war zunächst auf wenige Monate angelegt. Zuvor hatten junge, in der Sowjetunion ausgebildete afghanische Offiziere ein kommunistisches Regime errichtet, gegen das sich im ganzen Land der Widerstand regte. Die militärische Führung der Roten Armee ahnte, welche Risiken der Einsatz in dem südlichen Nachbarland barg. Sie wusste, dass sie dafür weder geeignete Ausrüstung noch ausreichend Personal hatte. Deshalb wollte sie sich darauf beschränken, die Städte und die wichtigsten Verkehrsverbindungen des Landes zu sichern. Zugleich sollte die afghanische Armee für den Kampf gegen die Rebellen ausgebildet werden, die sich schon bald gegen das kommunistische Regime in Kabul erhoben. Doch dem blutigen Krieg, den ihnen eine immer stärker werdende, aus dem Ausland geförderte Guerilla, die Mudschaheddin, aufzwang, konnten sich die sowjetischen Truppen nicht entziehen. Sie gerieten in den Strudel eines erbittert geführten Partisanenkampfes, in dessen Hochphase beide Seiten mit grausamer Härte gegeneinander vorgingen.

    Ab Mitte der 80er-Jahre setzten die Sowjets vor allem Flugzeuge, Hubschrauber und Luftlandetruppen gegen die Aufständischen ein. Dörfer wurden aus der Luft angegriffen und – oft als Kinderspielzeug getarnte – Minen abgeworfen, um die Bevölkerung zu vertreiben und den Mudschaheddin Unterschlupfmöglichkeiten zu nehmen. Millionen Menschen flüchteten nach Pakistan, wo sich immer neue Kämpfer rekrutieren ließen. Zeitweise setzte die Sowjetunion bis zu 110.000 Soldaten ein. Mehr wollte die Regierung in Moskau nie schicken, obwohl die Militärs klagten, dass die Kräfte nicht ausreichten, um erobertes Gebiet zu halten. Am 15. Februar 1989 verließen die letzten Soldaten der Sowjetarmee offiziell Afghanistan. Taktisch waren sie nicht besiegt worden. Strategisch aber hatte ihr Land den Krieg verloren. Der NATO droht heute ein ähnliches Schicksal. Als hätte sie nichts aus der Geschichte gelernt, wiederholt sie wesentliche Fehler der Sowjetunion.

    So war das ursprüngliche politische Ziel, Afghanistan in einen demokratischen Staat umzuwandeln, ebenso unrealistisch wie einst das sowjetische Vorhaben, am Hindukusch den Kommunismus einzuführen. Wie die Sowjets übersah auch der Westen lange Zeit die Bedeutung von Kultur und Religion für die Menschen vor allem in den ländlichen Gegenden. Hier sind weder Demokratie noch Kommunismus gewollt. Ein Konflikt mit im Volk verwurzelten Aufständischen muss scheitern – gerade wenn die Besatzungstruppen in weiten Teilen des Landes nicht präsent sind. Damals wie heute sind Luftschläge das taktische Mittel, um diese strategische Schwäche auszugleichen. Sie fordern oft zahlreiche zivile Opfer, was die ausländischen Soldaten in den Augen der Afghanen zu Besatzern macht.

    Auch die Unkontrollierbarkeit der afghanisch-pakistanischen Grenze hat heute ähnliche Folgen wie einst. Geld, Waffen, Versorgungsgüter und Kämpfer gelangen ungehindert von einem Land ins andere. Noch entscheidender aber für das drohende Scheitern der Interventionsmächte: Je länger der Krieg dauert, je mehr Opfer er fordert, desto weniger wird der Einsatz im eigenen Land unterstützt. Der sowjetische Krieg hat bis zu 1,5 Millionen Afghanen und 15.000 Sowjetsoldaten das Leben gekostet. Auch wenn die Opferzahlen auf allen Seiten heute bei Weitem nicht so hoch sind – die Koalition hatte bis Herbst 2011 etwa 2.700 Gefallene zu beklagen –, nimmt wie einst in der Sowjetunion die Skepsis und Kriegsmüdigkeit im Westen rapide zu.

    Während der Besatzung gab es Tausende von sowjetischen Beratern in Afghanistan. Sie saßen in den Streitkräften, in der Polizei, in der Verwaltung, in der Wirtschaft. Heute kommen diese Berater aus den USA und Europa. Auch die Sowjets verfolgten den Plan, afghanische Streitkräfte aufzubauen, um sie gegen die Aufständischen zu schicken. Er scheiterte. Die Soldaten desertierten zu Tausenden. Ganze Einheiten liefen zu den Mudschaheddin über. In der NATO gilt die von ihr aufgebaute afghanische Armee heute als verhältnismäßig zuverlässig. Doch ob sie tatsächlich dazu taugt, die Aufständischen dauerhaft in Schach zu halten, wird sich erst zeigen, wenn die westlichen Berater und Geldgeber fort sind.

    Die einstige taktische Stärke der Guerilla ist auch ihre Waffe von heute: Sie operiert aus dem Hinterhalt und wendet sehr flexibel verschiedene Kampftaktiken an. Die Rebellen versuchen, so nah wie möglich an die Soldaten heranzukommen, um Luftschlägen oder Artilleriefeuer zu entgehen. Sie tauchen in der Bevölkerung ab, die sie mehr oder weniger freiwillig unterstützt. Besonders wirkungsvoll sind die terroristischen Methoden, mit denen die Aufständischen ihren Kampf führen. Sie verstecken Bomben in den Straßen, die unter Militärfahrzeugen explodieren. Im Alltag der Scharmützel, Sprengfallen und Hinterhalte lassen sich für die ausländischen Truppen allenfalls lokal begrenzte Erfolge erzielen. Doch sie sind nicht nachhaltig und können nicht zu einem strategischen Sieg summiert werden. Die Aufständischen weichen in andere Gebiete aus und zwingen die Besatzungstruppen erneut zum Reagieren. Wie in jedem Guerillakrieg leidet besonders die Bevölkerung unter den Auseinandersetzungen. Weite Teile der Einwohner wollen die Taliban nicht zurück. Doch je länger der Krieg dauert, je legitimer die Ziele der Aufständischen werden, desto stärker schlägt sich das Volk auf ihre Seite. Das zeigt die Geschichte von Guerillabewegungen.

    Bei ihren Operationen gegen die Mudschaheddin setzte die sowjetische Armee zunächst auf hohe Feuerkraft und schnelle Vorstöße mit gepanzerten Fahrzeugen. Das hatte sie für den Einsatz gegen die NATO in Mitteleuropa trainiert. Doch musste dieses Vorgehen auf die wenigen asphaltierten und befahrbaren Straßen Afghanistans beschränkt bleiben. Das war für die Mudschaheddin ausrechenbar, und sie konnten sich den Angriffen leicht entziehen. Später verlegten sich die Sowjets auf massive Attacken aus der Luft und den Einsatz schneller, beweglicher Luftlandetruppen. Dabei wurden Hunderte Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Doch der Glaube der Mudschaheddin an die überirdische Kraft Allahs war dem Glauben an die sozialistische Weltrevolution deutlich überlegen. Und der »gottlose« Kapitalismus half tatkräftig mit Geld und Waffen nach.

    Die USA und Saudi-Arabien bedienten sich des pakistanischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI), um die Mudschaheddin in Afghanistan zu unterstützen. Geleitet von dem mitunter irreführenden Gedanken »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« züchteten die Amerikaner den ISI zu einem einflussreichen und für sie unkontrollierbaren »Player« auf dem afghanischen Schlachtfeld. Der besonderen Rolle im »Heiligen Krieg« gegen die Sowjetunion verdankt der ISI seine bis heute andauernde Dominanz und seine Kontakte in Afghanistan. Der ISI war es auch, der eine größere Anzahl von Arabern ausbildete, in die afghanischen Kampfgebiete schleuste und in Mudschaheddin-Verbände eingliedern ließ. Jahre später tauchten diese fundamentalistischen Kämpfer überall in der Welt auf. Damals kämpften sie ihren »Heiligen Krieg« gegen die »ungläubigen Kommunisten«. Dann schwenkten sie auf den »ungläubigen Westen« um. Ihren Krieg führen sie bis heute. Seinen vorläufigen Höhepunkt hat er am 11. September 2001 gefunden. Die Terroranschläge auf New York und Washington trafen die Vereinigten Staaten ins Herz. Der amerikanische Präsident George W. Bush rief den »Krieg gegen den Terrorismus« aus, dessen Hort schnell ausgemacht war. Das Afghanistan der fundamentalistischen Taliban hatte eine Zeit lang auch jene neunzehn Terroristen beherbergt, die später in den USA vier Passagierflugzeuge entführten, in Bomben verwandelten und zirka 3.000 Menschen töteten.

    Afghanistan, Anfang der 1990er-Jahre

    Der Abzug der Roten Armee im Februar 1989 führte nicht sofort zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes von Mohammad Najibullah in Kabul. Präsident Najibullah bot den Mudschaheddin mehrfach die Versöhnung an, so wie es zwanzig Jahre später auch Präsident Hamid Karsai gegenüber den Aufständischen tun sollte. Für die Mudschaheddin blieb Najibullah ein Repräsentant des Kommunismus, genauso wie Karsai für die Taliban ein Repräsentant des Westens ist. Moskau, mit den weltpolitischen Umwälzungen und dem Zusammenbruch des sozialistischen Reichs beschäftigt, ließ seinen Statthalter in Kabul mit der Wahl Boris Jelzins zum russischen Präsidenten 1991 im Stich.

    Auch die Amerikaner, die zuvor Milliarden Dollar und moderne Waffen nach Afghanistan gepumpt hatten, zeigten, wie die meisten westlichen Länder, kein Interesse mehr an den Entwicklungen am Hindukusch. Private Milizen, die das kommunistische Regime bis dahin unterstützt hatten, liefen auf die Seite der Mudschaheddin über. Den Kriegsgewinnern fiel das Land wie eine reife Frucht in den Schoß. Doch sie hatten keine Strategie zu seiner politischen Neugestaltung.

    Stattdessen verschärften sich ihre internen Differenzen, die schon während des »Heiligen Kriegs« gegen die Sowjetunion häufig in heftige Kämpfe ausgeartet waren. Zwischen dem tadschikischen Militärkommandant Ahmed Schah Massud und dem paschtunischen Islamisten Gulbuddin Hekmatyar bestand eine persönliche Rivalität, die in einen brutalen Konflikt um Macht und Vorherrschaft im Land mündete. Als Massud im April 1992 Kabul kampflos einnehmen konnte, stürzte die kommunistische Regierung endgültig. Najibullah flüchtete sich in die UN-Vertretung, deren Immunität die Warlords respektierten. Erst vier Jahre später wurde Najibullah durch die Taliban gehängt.

    Die Mudschaheddin errichteten unter dem im Herbst 2011 von einem Selbstmordattentäter in Kabul ermordeten Präsidenten Burhanuddin Rabbani eine von den Tadschiken dominierte Übergangsregierung. Massud als der eigentliche Herrscher wurde Verteidigungsminister und beherrschte mit seinen Milizen Kabul. Für die Paschtunen, die 250 Jahre über Afghanistan geherrscht haben, war das unannehmbar. Zwei Jahre lang belagerte Hekmatyar mit seinen Truppen die Hauptstadt. Die in stetig wechselnden Allianzen ausgetragenen Fehden der Tadschiken, Paschtunen, Usbeken und anderer Volksgruppen mündeten in einem Gemetzel. Kabul, einst als »größter Basar Mittelasiens« umschwärmt, wurde zu zwei Dritteln zerstört. Bis zu 80.000 Einwohner starben in Bombenhagel und Straßenkämpfen, mehr als anderthalb Millionen Menschen flohen aus der Stadt. Innerhalb von zwei Monaten nach der Machtübernahme der Mudschaheddin zerfiel Afghanistan in die Einflussbereiche verschiedener Kommandeure. Überall waren die Menschen auf der Flucht vor den Milizen, die raubend, mordend, plündernd und vergewaltigend durch die Gegend zogen. Söhne, teilweise jünger als zehn Jahre, wurden ihren Eltern entrissen und in die Miliztruppen gezwungen, die ständig Nachwuchs brauchten. Die entfesselte Gewalt zerstörte das innere Gefüge Afghanistans sehr viel stärker, als dies die sowjetische Invasion vermocht hatte. Das Morden und Sterben gehörte zum Alltag der Menschen, sie stumpften ab und entwickelten eine Gefühllosigkeit, die vieles, was deutsche Soldaten zehn Jahre später an Brutalität und Kälte erleben sollten, erklärt. In der afghanischen Gesellschaft ist in den verheerenden Jahren des Bürgerkriegs der grundlegende gesellschaftliche Konsens über die Anwendung von Gewalt zerstört worden. Die Milizkommandeure steckten ihre Gebiete mit Millionen von Spring- und Tretminen ab, die noch in Hunderten Jahren explodieren werden. Sie machten einfach dort weiter, wo die Sowjets aufgehört hatten. Es gibt Gebiete in Afghanistan, in denen die Minen in Schichten übereinander liegen. Die unterste Schicht stammt von den Sowjets, darüber die von den Mudschaheddin, dann die der Taliban, dann die der Nordallianz. Kaum ein Land der Welt ist so minenverseucht wie Afghanistan. Bis heute sterben täglich Menschen durch die tückischen Waffen. Der Staat, der sich seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1919 zaghaft gebildet hatte und die Gesellschaft, die einst funktionierte, zerfielen binnen weniger Jahre.

    Auch die traditionellen Strukturen erodierten. Die einigende und führende Kraft der Stammesführer fehlte, da sie in den Kriegen ausgemerzt worden waren. Die nahezu komplette geistige und wirtschaftliche Elite flüchtete aus dem Land. Ein Verlust, den Afghanistan bis heute nicht überwunden hat. Die mächtigen Kommandeure teilten das Land auf und etablierten teilweise autonome, halbstaatliche Strukturen mit eigenen Ordnungssystemen. Im Norden regierte der Usbeke Rashid Dostum, im Nordosten der Tadschike Massud, im Süden und Südosten herrschten paschtunische Koalitionen und im Westen der Tadschike Ismael Khan. Jede Gruppierung erhielt politische, finanzielle und materielle Unterstützung aus dem Ausland. Die Paschtunen wurden aus Pakistan und Saudi-Arabien gefördert, Ismael Khan von Iran, Dostum von Iran und Usbekistan, Präsident Rabbani und Massud von Indien und Russland.

    Pakistan hatte kein Interesse an einem Chaos in seinem Nachbarland, das die Regierung in Islamabad im Konflikt mit dem Erzfeind Indien als »strategischen Hinterhof« betrachtet. Im Fall einer indischen Invasion sollen sich die pakistanischen Truppen bis nach Afghanistan hinein zurückziehen können. Islamabad braucht dazu eine gewisse Ordnung im Nachbarland und eine Pakistan gewogene Regierung in Kabul. Pakistan unterstützte anfangs Hekmatyar und seine Hisb-e-Islami, eine islamistische Partei, in der Hoffnung, der paschtunische Fanatiker könne den Bürgerkrieg gewinnen. Doch als sich das Scheitern Hekmatyars abzeichnete, entschieden sich die Herrscher in Islamabad, jenseits der Grenze eine neue Macht aufzubauen. Sie wollten eine Marionette in Kabul installieren. Die Idee war geboren, die Taliban (Talib – Sucher des religiösen Wissens) aufzubauen.

    Das »Great Game«, das große Spiel um Afghanistan, einst von Großbritannien und dem Zarenreich im Kampf um Macht und Einfluss in der Region ausgefochten, wurde Mitte der 90er-Jahre neu aufgelegt. Diesmal beteiligten sich einige Parteien mehr. Neben Pakistan verfolgten schon bald die Großmächte USA, Russland und China, die Regionalmächte Iran, Türkei, Indien sowie die zentralasiatischen Länder Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan ihre Interessen in Afghanistan. Im Kern geht es in dem »Spiel« bis heute um die Öl- und Gasvorkommen Zentralasiens, die über eine Pipeline durch Afghanistan zum Indischen Ozean transportiert und von dort nach Europa und Nordamerika verschifft werden sollen.

    Afghanistan, Mitte bis Ende der 1990er-Jahre

    Pakistan konnte das neue »Great Game« zunächst zu seinen Gunsten lenken. Schon während der sowjetischen Besatzung zwischen 1979 und 1989 und während des anschließenden Bürgerkriegs nahm das Land mehrere Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan auf. Die Regierung in Islamabad und der Geheimdienst ISI rekrutierten in den Flüchtlingslagern afghanische Kinder und Jugendliche, die sie in Madrassas (Koranschulen) ausbildeten. Überwiegend waren es paschtunische Jungen und junge Männer, die einerseits den Koran studierten und andererseits das Militärhandwerk erlernten. Es begann mit einigen Hundert Taliban, die, unterstützt von Pakistan, in einem erbarmungslosen Krieg fast ganz Afghanistan eroberten. Mullah Mohammed Omar Akhund, ein ehemaliger Mudschaheddin-Kommandeur, hatte die Taliban-Bewegung mit dem Ziel gegründet, »eine wahre islamische Ordnung« zu errichten. Die mehrheitlich paschtunischen Taliban verpflichteten sich, für Frieden zu sorgen, das Volk zu entwaffnen und die islamische Rechtsordnung (Scharia) durchzusetzen. Zugleich wollten sie die Herrschaft der Paschtunen über Afghanistan wieder herstellen.

    Ausgangspunkt ihres Siegeszuges war Kandahar, das Zentrum der Paschtunen. Nachdem die Stadt gefallen war, liefen zahlreiche Mudschaheddin-Einheiten zu den Taliban über. Die Kommandeure erkannten, dass die kriegsmüden Menschen die neuen Herrscher begrüßten und hängten ihr Fähnlein in den Wind. Die Taliban verstanden es, sich der Bevölkerung als neue, unabhängige Ordnungsmacht darzustellen, die in den Bürgerkrieg nicht involviert ist. Die stark religiös inspirierten Milizen traten zwar rigoros und nicht weniger grausam als zuvor ihre Gegner auf, wirkten aber moralisch glaubwürdig. Das Volk erhoffte sich nach den Jahren des staatlichen Zerfalls voller Chaos und Rechtlosigkeit endlich Frieden, Normalität und persönliche Sicherheit.

    Vor allem die Scharia in einer extrem rigiden Auslegung wirkte im ländlichen Süden stabilisierend. Die Taliban-Milizen stießen selbst bei der Eroberung Kabuls im September 1996 auf keinerlei Gegenwehr. Erst als sie gegen weitere Städte mit liberaler und moderner Tradition wie Herat und Mazar-i-Sharif antraten, kam es zu Kämpfen. Die gegen die Taliban vereinte Front überwiegend tadschikischer und usbekischer Milizen (Nordallianz) zog sich bis in die nordöstliche Provinz Badachschan zurück und verteidigte sich bis zu dem Tag, an dem die Amerikaner mit ihrer Hilfe begannen, die Taliban zu vertreiben.

    Aus religiös verbrämten Gründen verboten die Taliban Musik, Sport, Bilder, Kino und Fernsehen. Der größte Teil der Schulen und Universitäten wurde geschlossen. Männer mussten sich Bärte wachsen lassen, Frauen durften nur mit männlicher Begleitung und von einem Ganzkörperschleier, der Burka, bedeckt das Haus verlassen. Die Taliban traten die Menschenrechte mit Füßen und stießen die Bevölkerung noch tiefer ins Elend. Hunger und Not erreichten während der vier Herrschaftsjahre der Taliban endemische Ausmaße. Eltern verkauften ihre Kinder, um sich Lebensmittel leisten zu können. Das Land war voller Waisenkinder, verlorene Kreaturen in einer Zeit des Wahnsinns. Die Taliban waren unfähig, für das Volk zu sorgen. Stattdessen schwärmten ihre Schergen aus, um ihren Gesetzen gewaltsam Geltung zu verschaffen. Ihre Ideologie orientiert sich bis heute an einer extremen Auslegung des muslimischen Glaubens, dem Deobandismus. Bis heute sehen sich viele Taliban als Krieger für die reine Lehre des Islam.

    Ein Großteil der Afghanen jedoch hängt einer gemäßigten islamischen Strömung an. Für sie sind Gebet, Tanz und Musik untrennbar miteinander verbunden. Die Taliban errichteten eine zentralisierte, abgeschottete Diktatur, die nur Paschtunen an der Regierung beteiligte. Die meisten Ministerien in Kabul waren wegen der Inkompetenz des Personals handlungsunfähig. Ein Großteil der Minister und Verwaltungsbeamten konnte weder Lesen noch Schreiben. Die wichtigen Entscheidungen fielen ohnehin in Kandahar. Dort hatte die Talibanführung unter Mullah Omar ihren Sitz. Sie bestand aus zehn Vertretern der Durani-Paschtunen sowie militärischen Befehlshabern, Stammesältesten und Geistlichen. Während ihrer knapp fünfjährigen Diktatur zwischen 1996 und 2001 ahndeten die Taliban Verstöße gegen ihre Gesetze mit drakonischen Strafen. Dieben schlugen sie die Hände ab, Ehebrecher wurden gesteinigt. Die Hinrichtungen wurden öffentlich vollzogen – zur Abschreckung.

    Das finstere Geschehen in Afghanistan spielte sich seit dem Abzug der Sowjets im Schatten der weltpolitischen Umwälzungen ab. Doch dass der saudische Millionär Osama bin Laden mit Duldung der Taliban terroristische Ausbildungslager errichten ließ, entging den westlichen Geheimdiensten nicht. Sie beobachteten das Geschehen am Hindukusch mit wachsender Sorge. 1999 beschuldigte die amerikanische Regierung die Taliban, mit Terroristen zu kooperieren. Die Vereinten Nationen (UN) warfen den Taliban im Dezember 2000 vor, den Terrorismus zu unterstützen und mit Drogen zu handeln. Kurz nach dem 11. September 2001 richtete sich der Fokus der USA vollends auf Afghanistan. Als am 7. Oktober 2001 die ersten amerikanischen Marschflugkörper die

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