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Die unsichtbare Grenze
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Die unsichtbare Grenze
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Die unsichtbare Grenze

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About this ebook

"Nie wieder wollten sie den Leibhaftigen beim Baden stören, und hofften, dass er dafür Dorf und Bewohner verschonte. Das blieb auch viele Jahrhunderte lang so. Bis einer die unsichtbare Grenze, die das Gute vom Bösen trennte, übertrat." Am Ende des 19. Jahrhunderts, tief im Valsertal. Im Dorf Fanell wächste der wissbegierige Andreas auf. Er findet sich in der streng katholischen und abergläubischen Gemeinschaft nicht zurecht und flüchtet in die Welt der Bücher. Sobald er kann, verlässt er das Dorf, um in Zürich Mathematik zu studieren - seine große Liebe Elfi muss er zurücklassen. In Davos begegnet er dem unheimlichen Engländer Clifton, der besessen ist vom Bösen. Als ihm Andreas die Teufelssage von Fanell erzählt, wittert dieser die dunklen Mächte und bricht ins Valsertal auf. Erst spät realisiert Andreas, welche Gefahr dem abgeschotteten Dorf und seiner großen Liebe droht.
LanguageDeutsch
Release dateJul 23, 2014
ISBN9783905811995
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    Die unsichtbare Grenze - Dominique Anne Schuetz

    DOMINIQUE ANNE SCHUETZ – DIE UNSICHTBARE GRENZE – ROMAN

    Gefördert durch die UBS Kulturstiftung

    © 2014 by Europa Verlag AG Zürich

    Umschlaggestaltung und Satz: Christine Paxmann text • konzept • grafik

    Umschlagbild: © Dominique Anne Schuetz

    Druck und Bindung: CPI books, Ulm

    E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

    E-Book-ISBN 978-3-905811-99-5

    Für Thierry und Laurent

    Von seinen Worten, den unscheinbar leisen

    Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen

    Er macht die leere Luft beengend kreisen

    Und er kann töten, ohne zu berühren.

    Hugo von Hofmannsthal, Der Prophet

    Prolog

    D I E  S A G E  V O M  S C H R E C K L I C H E N  E R E I G N I S

    Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Kanton Graubünden ein Ort des Grauens, seine Durchquerung nur etwas für Wagemutige und Lebensmüde. Schmale Saumwege und Pfade, die Mensch und Tier kaum Halt boten, wanden sich an tiefen Furchen und Schrunden entlang, und die Wettergeister waren oft schlecht gelaunt. Wenn trotzdem einmal ein Fremder hier durchmusste, wollte er nur eines: möglichst schnell wieder weg. Langsam begann sich dies zu ändern. Die reine und leichte Bergluft, das neue Wundermittel im Kampf gegen die Schwindsucht, zog immer mehr Lungenkranke der Hautevolee aus Europa und Übersee an, die Belle Époque hielt Einzug und nahm der abweisenden Bergwelt ein wenig von ihrem Schrecken. Trotz des einsetzenden Tourismus blieben einige Gegenden im Bündnerland blinde Flecke, und der allerblindeste Fleck war wohl das Valsertal, eingeschlossen in der rauen Geografie hoher Berge und tiefer Schluchten. Kein Gleis und keine Straße führte in diese versteckte Hautfalte, wo einsame Gehöfte aus schwindelerregender Höhe nach unten blickten und die Wasser durch ihr felsiges Korsett donnerten. Ganz zuhinterst in diesem geheimnisumwitterten Tal lag Fanell auf einem grünen Inselchen, tausendachthundert Meter über dem Meer. Ein Dorf wie viele, mit einer Kirche, einem kleinen Friedhof und einem Gewühl aus niedrigen Holzhäusern mit schuppenartigen Dächern aus Gneis- und Glimmerschieferplatten. Und doch gab es etwas, das den Ort von anderen unterschied. Wenn man den Blick in Richtung Frunthorn und Dachberg lenkte, war ein unheimliches Phänomen zu beobachten, eine neblige Schwade, die nie verschwand. Das sei der Ewige Nebel, sagten die Dörfler und warnten, der Boden dort sei verflucht. Wenn man sie fragte, warum das so sei, flüsterten sie: Hast du noch nie etwas vom Schrecklichen Ereignis gehört?

    Laut Überlieferung war es im Jahr 1432 gewesen, als sich zwei tapfere Faneller aufgemacht hatten, um jenen mystischen Ort zu erkunden, der sich hinter dem Ewigen Nebel verbarg. Petrus und die Berggeister schienen gut gelaunt, denn der Tag versprach Milde und Trockenheit. Zuversichtlich machten sich die Burschen mit Wanderstock, Wasser, Brot, etwas Trockenfleisch und einem Kruzifix an den Aufstieg, während ihnen die Dörfler nachsahen, bis sich ihre schattigen Gestalten im morgendlichen Dämmer verloren hatten. Mit forschem Schritt erklommen die Abenteurer das steile Gelände. Der Weg war ihnen vertraut, schon als Buben waren sie auf den Weiden herumgesprungen, mit nackten Füßen, hatten Ziege und Schafe gehütet und ihre euterfrische Milch getrunken. Sie kamen gut voran, doch je höher sie stiegen, desto sorgenvoller sahen sie zum Himmel, und wie befürchtet, hetzte alsbald drohendes Gewölk über ihre Köpfe, der Wind frischte auf, Donner dröhnten, und trockene Blitze schossen in den Boden. Tapfer kämpften sich die beiden weiter, brachten die Fruntalp hinter sich und lenkten ihre Schritte über Felder aus Stein. Völlig unerwartet beruhigte sich das Firmament, und der Ewige Nebel blähte sich vor ihnen auf wie ein zerfetztes Segel. Nach dem grausigen Brausen und Pfeifen war die plötzliche Stille gespenstisch, sodass sie unsicher innehielten. Sollten sie nicht umkehren, solange sie noch konnten? Doch in diesem Alter wollte man alles sein, bloß kein Feigling, und so traten sie in die weiße Wand und tasteten sich durch die milchige Suppe. Sie waren nicht weit gegangen, da lichtete sich der Nebel ein wenig, und vor ihnen lag ein kleiner See, der von einer heißen Quelle gespeist wurde und aus dem beständig Dampf aufstieg. Das also war des Rätsels Lösung! Erleichtert schnauften sie auf und sahen zu, wie das Wasser aus dem Fels sprudelte. Doch was war das? War es Täuschung, oder sahen sie tatsächlich die Umrisse von etwas Lebendigem? Da der Dunst die Sicht trübte, gingen sie näher, und dann sahen sie es, schwarz behaart wie ein alter Ziegenbock, und aus seinem höckerigen Rücken ragten zwei zerfledderte Flügel. Erschrocken wichen die Bauernsöhne zurück, hofften, ungesehen fliehen zu können, doch es war zu spät, das Scheusal hatte sich bereits umgedreht und fixierte sie mit seinen gelben Augen. Der Leibhaftige! In wilder Wucht bäumte er sich auf und brüllte, welche Menschenkreaturen es wagen würden, ihn bei seinem Bad zu stören. Wahnsinnig vor Angst, rannten die jungen Männer, so schnell sie konnten, durch den Nebel. Fort, nur fort von diesem schlimmsten aller schlimmen Orte! Doch wie sie in Panik nach einem Ausgang suchten, nahmen ihnen schweflige Schwaden die Sicht, sie kamen vom Weg ab und irrten an gefährlichen Abhängen entlang, bis einer der Burschen mit einem Schrei ins Bodenlose stürzte. Der andere tappte weiter, halb verrückt vor Angst, und als er aus diesem Labyrinth der Wahrnehmung herausgefunden hatte, kämpfte er sich erneut durch ein grässliches Unwetter, bis er endlich in Fanell ankam, sein Gesicht bleich, sein Körper fiebrig. Mit letzter Kraft schilderte er den Dörflern, was sich am Berg oben zugetragen hatte, dann blieb er für den Rest seiner Tage stumm.

    Seit dem Schrecklichen Ereignis mieden die Faneller die Nähe des Ewigen Nebels. Nie wieder wollten sie den Leibhaftigen bei seinem Bad stören, und hofften, dass er dafür Dorf und Bewohner verschonte. Das blieb auch viele Jahrhunderte lang so. Bis einer die unsichtbare Grenze, die das Gute vom Bösen trennte, übertrat.

    Zwei Welten

    London, 1876

    Sir Aleister Francis B. Devlin war gestorben. Bei nassgrauem Wetter wurde er auf dem Londoner Highgate Cemetery zu Grabe getragen. Ein schwarzer Tross von Regenschirmen bewegte sich durch das exotische Tor, das zur Egyptian Avenue im westlichen Teil des Friedhofs führte, an der Spitze des Zuges der Verstorbene in seinem Schrein, getragen von sechs Männern. Ein schöner Sarg mit Goldbeschlägen, sein Inneres mit blütenweißer Seide ausgeschlagen. Der Bestatter hatte ein Modell aus Mahagoni amerikanischer Provenienz empfohlen. Wie er sagte, vermochte das Edelholz dem Zerfall noch länger zu trotzen als Eiche, und zudem konnte für einen Mann wie ihn nichts gut genug sein, denn Sir Aleister Francis B. Devlin war tatsächlich ein reicher und geachteter Mann gewesen. Konservenfabrikbesitzer.

    Dem Sarg und den Trägern folgte ein riesiges Aufgebot an Trauergästen, unter ihnen die Witwe, Eleanor Devlin, sowie ihr zwölfjähriger Sohn Clifton. Obwohl es sein Vater war, der zu Grabe getragen wurde, fühlte der Junge keine Trauer, vielmehr genoss er die skurrile Umgebung mit den Grabsteinen, Grüften und Mausoleen. Tief sog er die feuchte Luft ein, die zart nach Fäulnis und Wachs roch. Seine Mutter, eine gebürtige Schweizerin von kühler Schönheit, ging neben ihm her, ihre Bewegungen von ätherischer Eleganz, als würde sie nie ganz den Boden berühren. Ihr hauchdünner Trauerschleier flatterte im Wind, was Clifton an Fledermäuse erinnerte.

    Die Beerdigung lag nun schon Monate zurück, doch Mutter und Sohn hatten seither kaum miteinander geredet. Das war nicht weiter verwunderlich, Clifton hatte nie eine große Rolle im Leben seiner Mutter gespielt. Eleanors Aufmerksamkeit hatte in erster Linie ihrem Mann und ihren Vergnügungen gegolten.

    Während der Zwölfjährige den Vater nicht vermisste und sich weiter in seine einsame, morbide Unterwelt zurückzog, verharrte Eleanor in stilvoller Trauer, verbrachte die Tage im düsteren Labyrinth ihres feudalen Anwesens. War die Villa, die man wegen ihrer Fassade aus rotem Granit Red Mansion nannte, zu Lebzeiten des Fabrikanten ein Ort der Bälle und Bankette gewesen, war es nun still geworden hinter den neugotischen Mauern. Eleanor wurde erdrückt von diesem bleiernen Gefühl der Verlassenheit, und weil sie zudem eine Frau ohne inneren Antrieb war und nichts mit sich anzufangen wusste, begann sie, unnütze Dinge zu tun, redete mit den Rosen im Garten, rückte das Silber in den Vitrinen zurecht oder gab dem Personal überflüssige Anweisungen.

    Im November machte sie in der Nähe der Westminster Abbey ein paar Besorgungen. Da der Abend nahte und die Themse ihren grauen Atem ausstieß, nahm sie eine Abkürzung, um möglichst schnell eine Kutsche zu mieten und sich in die Red Mansion fahren zu lassen. Während sie durch eine der Gassen hastete, gewahrte sie die Umrisse einer alten Frau. Die gebeugte Gestalt stand am Rande eines Gaslichts, sodass sie diese kaum erkennen konnte. Eleanor wusste nicht, weshalb, aber sie konnte nicht an der Fremden vorbeigehen. Irgendetwas war an ihr, das sie neugierig hinüberschielen ließ. Sie verlangsamte ihre Schritte, und das Klappern ihrer Absätze auf dem Kopfsteinpflaster wurde leiser und leiser, bis es ganz aufhörte und nur noch Stille zwischen ihr und der Unbekannten war.

    «Milady», krächzte es aus dem Halbdunkel. «Gebt mir Eure Chände, und ich lesen Zukunft aus Krümmungen von Linien. Alles für eine Penny.»

    Unschlüssig starrte Eleanor auf die Erscheinung, ein Weiblein aus Haut und Knochen, in bunte Tücher und klimpernden Firlefanz gehüllt, das Haar eine silberne Gespinstwolke, die ihr Gesicht verbarg. Als die Frau – offensichtlich eine Zigeunerin – Eleanor erneut aufforderte, zog sie beinahe wie in Trance ihre Hände aus der Wärme ihres Nerz-Muffs und näherte sich der Alten. Sie war aufgewühlt, als würde sie etwas Verbotenes tun, doch sie konnte nicht anders, musste endlich dieses trübe Nichts aufhellen, wissen, was die kommende Zeit bringen würde. Es dauerte einen Moment, dann packte die Frau Eleanor am Mantel, zog sie, die immer noch die Hände ausstreckte, als würde sie schlafwandeln, ins Licht der Laterne, ergriff ihre Linke und tastete mit den Fingerkuppen die Innenfläche ab. Dabei hielt sie ihren Kopf schrägt wie ein Vogel, sodass das Licht auf ihr Gesicht fiel. Eleanor erschrak. Erst jetzt, im Schein der Straßenlaterne, sah sie, dass die Frau stockblind war, aus den Höhlen starrte lediglich das stumpfe Weiß der Augäpfel. Eleanor zuckte unwillkürlich zusammen, sie verspürte den Impuls, davonzulaufen, doch in diesem Moment begann die Zigeunerin zu reden. Ihre Stimme kratzte, und ihr Akzent war rau, aber dennoch strahlte sie eine ungeheure Ruhe aus. «Ihr chabt Eure Mann verloren, und nun sitzen Ihr allein in diese große Villa. Eine Villa, die aussehen wie Kathedrale.»

    Eleanor fuhr zusammen. Woher wusste sie …?

    «Ihr chaben eine Tochter … nein, eine Sohn. Er sein nicht Teil von Eure Leben, aber er wird noch werden. Mehr, als Ihr könnt Euch vorstellen jetzt. Uhh, und chier, genau chier, an diese Punkt von Lebenslinie, spüre ich Veränderung. Ich sehen eine …», erregt befühlte sie die Stelle in Eleanors Hand, und es schien, als würden ihre toten Augen für einen Moment flackern, «… eine Raum, voll mit Bücher. Alte Bücher. Dort Ihr werdet Vergangenheit und Zukunft in eine Person begegnen.»

    Unsicher flüsterte Eleanor: «Was bedeutet das?»

    Die Zigeunerin öffnete ihren Mund zu einem gehauchten Lachen, und Eleanor sah mit einem Schaudern in diese dunkle Höhle, in der nur noch wenige braune Zahnstümpfe steckten.

    «Das Ihr werdet verstehen, wenn geschieht. Und wird geschehen.» Nervös glitten ihre Finger mit den vergilbten Nägeln abermals über die Handinnenfläche ihrer Kundin. «Da fühlen ich Freundschaft, aber auch Eifersucht und … und … Tod.»

    Eleanor zog ihre Hand zurück. «Schluss!», sagte sie schroff, «Schluss!» und drehte sich ab, wollte möglichst schnell fort von der Frau, doch die Finger der Alten hatten sich in ihren Nerzmantel verkrallt. «Gebt mir meine Penny!» Und dann kicherte sie und hielt ihre faltige Hand auf. Hastig kramte Eleanor eine Münze aus ihrem Täschchen, legte sie mit einem Anflug von Ekel in die kalte Handfläche und eilte davon, während es hinter ihr hallte: «Hi, hi, hi, Glück und Unglück, chin und zurück, chin und zurück, hi, hi, hi.»

    Die Begegnung mit der Wahrsagerin ließ Eleanor keine Ruhe. Was hatte sie mit Vergangenheit und Zukunft in einer Person gemeint? Und was mit Tod? Wen würde es treffen? Tod. Die ganze Zeit hämmerte dieses Wort in ihrem Kopf, sie konnte es einfach nicht mehr zum Schweigen bringen. Obwohl ihr die Erinnerung an jenen Abend Gänsehaut verursachte, musste sie die Zigeunerin erneut aufsuchen, sie fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Wäre sie bloß nicht so überstürzt davongeeilt!

    Wiederholt suchte Eleanor in der Nähe der Westminster Abbey nach der blinden Frau, doch der Platz unter der Laterne blieb leer, und auch in den angrenzenden Straßen und Gassen konnte sie die Wahrsagerin nicht entdecken. Es kam ihr vor, als hätte ihr an jenem Abend ein runzliges Gespenst aus der Hand gelesen. Sie war verwirrt und suchte jemanden zum Reden, doch alle, denen sie von ihrer Begegnung erzählte, lachten sie aus. Handleserei sei barer Unsinn und schlimmster Aberglaube und wie sie bloß auf so ein Weib habe hereinfallen können. Aus Trotz und weil sie beweisen wollte, dass sie kein leichtgläubiges Ding war, entschloss sie sich, der Sache nachzugehen. Es war vielleicht das erste Mal, dass sie eine eigene Entscheidung traf, von der Wahl ihrer exquisiten Garderobe einmal abgesehen. Welchen Raum mit Büchern mochte die Zigeunerin gemeint haben? Eine Bibliothek womöglich? Die King’s Library? Das war zweifelsohne ein Raum voll mit alten Büchern.

    Während mehreren Wochen ging Eleanor fast täglich hin, aber nichts von Bedeutung geschah. Keine Begegnung, noch nicht einmal eine flüchtige. Sie war unsicher, ob es nur am falschen Zeitpunkt lag oder ob die Zigeunerin vielleicht etwas anderes gemeint hatte. Womöglich war gar nicht die königliche Bibliothek gemeint, sondern nur irgendein Antiquariat. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Zwischen Jane Austen und Daniel Defoe würde sie bestimmt jene geheimnisvolle Person treffen, die sie aus ihrer Tristesse herausholte. Schließlich hatte die Zigeunerin nicht nur diesen Raum mit alten Büchern gesehen, sie hatte auch von Freundschaft gesprochen, und daran glaubte Eleanor felsenfest, denn nichts erhoffte sie mehr als eine neue Liebe.

    Sie klapperte Antiquariat um Antiquariat ab, wo sie stets ratlos zu den überfüllten Regalen aufschaute, und wenn sie einer der Buchhändler fragte, wonach sie suche, wusste sie es nicht, sie wolle nur ein wenig stöbern, wenn das gehe, und in der Verlegenheit kaufte sie dann ein Gedichtbändchen oder einen Liebesroman. Sie hatte nicht das Geringste erreicht, nur der Stapel verstaubter alter Bücher in der Red Mansion wuchs und wuchs. Als der Butler fragte, wo man die Bücher einordnen solle, sagte sie bloß, man könne sie wegwerfen oder verschenken, es sei ihr egal.

    Im Februar sanken die Temperaturen so tief wie noch nie in diesem Winter, und Eleanor verließ eine weitere Buchhandlung auf ihrer endlosen Suche. Die Kälte umklammerte sie, und sie hasste sich selbst für ihre hilflosen Bemühungen. Energisch winkte sie ein Cab herbei. Der Kutscher klappte das Trittbrett herunter, die Kundin raffte ihren bodenlangen Pelzmantel, stieg ein und nannte ihm die Adresse. Erschöpft lehnte sich Eleanor zurück und schalt sich im Stillen: Dies, Mrs Devlin, ist dein letzter Anlauf gewesen. Vergiss die Wahrsagerin, vergiss den Raum mit den alten Büchern, vergiss die ganze unselige Geschichte!

    Nach einer Weile realisierte sie, dass der Kutscher in Richtung East End fuhr. Wahrscheinlich hatte er die Adresse falsch verstanden, glaubte wohl, sie sei eine von diesen wohltätigen Ladys, die in den Osten der Stadt fuhren, um den Armen zu helfen. Nun, dann hätte sie wohl kaum den Nerz angezogen. Sie ärgerte sich und wollte bereits reklamieren, als sie innehielt. Nur kurz hatte sie es gesehen, dieses heruntergekommene Antiquariat, aber es zog sie auf magische Art und Weise an. Sie vergaß alle Vorsätze, ließ unverzüglich anhalten, bis zum Geschäft umkehren, stieg aus und bezahlte den Kutscher. Zögerlich näherte sie sich dem Laden. Tür und Schaufensterrahmen waren in flaschengrüner Farbe gestrichen, die an manchen Stellen abgeplatzt war, und über die Breite der Fassade erstreckte sich in verwitterten Goldlettern der ehrenwerte Name der Buchhandlung: Penn’s Antiquarian & Rare Books, ergänzt durch den kleinen Zusatz since 1798. Der Laden hatte zweifelsohne schon bessere Tage gesehen, aber noch immer hielt er sich standhaft an diesem Ort des Zerfalls.

    Eleanor trat ein, das Türglöckchen bimmelte, und vor ihr tat sich ein hoher, zweigeschossiger Raum auf. Linker Hand führte eine Wendeltreppe zu einer offenen Galerie. In der spärlichen Beleuchtung konnte sie das tatsächliche Ausmaß des Antiquariats nur erahnen, aber es erschien ihr weit größer als alles, was sie bisher gesehen hatte. Von außen mochte das Geschäft des Herrn Penn nicht viel hermachen, aber das Innere war überwältigend, ein riesiger Gnadenhof für alles, was man zwischen Buchdeckeln fassen konnte. Romane, Erzählungen, Fachliteratur, Folianten und mehrbändige Werke, schmale Hefte und wertvolle Raritäten. Türme, Mauern, Wände und Säulen aus altem Papier und brüchigem Leder, das ganze Gebäude schien aus Schrift errichtet. Verwundert drehte sie sich, und ihr war, als könnte sie die Stockflecken und die Schwärze der Druckerfarbe riechen, den Duft von alten Geschichten und das zarte Parfum gepresster Blumen zwischen Löschpapier, den Gestank von schimmligen Einbänden, den frischen Wind eines kommenden Abenteuers.

    Seltsamerweise sah sie weit und breit keine Menschenseele, und es war so still, dass sie bei jeder Bewegung das Rascheln ihres Unterkleides hören konnte. Doch als sie gerade überlegte, ob sie durch Rufen auf sich aufmerksam machen sollte, tauchte plötzlich ein Mann in einem altmodischen, leicht abgewetzten Samtanzug aus der Düsternis auf, neben sich ein altersschwacher Bullterrier mit einem halben Ohr.

    «Womit kann ich dienen, Milady?»

    Eleanor starrte den Mann an. Noch selten hatte sie einen derart missgestalteten Menschen gesehen. Ein Schiefhals zwang ihn in eine bedauerliche Haltung, er hatte das Gesicht einer Krähe, und seine Hände waren von der Gicht gekrümmt. Trotzdem strahlte er Würde aus, und Eleanor starrte diese sonderbare Erscheinung sprachlos an.

    «Milady?», wiederholte er sachte.

    Eleanor zuckte zusammen. «Ja, also ich … ich suche Bücher über …» – sie wusste auch diesmal nicht, wonach sie suchte –, «nun ja, über …»

    «… über die geheimen Wissenschaften?»

    Sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber wie es aussah, war sie nicht die Einzige, die an solcher Literatur interessiert war. Das Antiquariat musste eine bekannte Adresse für diese Art von Büchern sein. Zaghaft nickte sie, und der Buchhändler zeigte mit seinem gekrümmten Finger in die Tiefe seines Reichs.

    «Bitte folgt mir, Milady!»

    Er lotste die vornehme Kundin durch diesen einzigartigen Irrgarten, vorbei an hohen Regalen, die so nah standen, dass Eleanor kaum atmen konnte. Vor einem Tischchen mit einer Argand-Öllampe blieb der Antiquar stehen, schob das Kinn vor und zeigte in einen Gang zwischen zwei langen Regalen. «Astrologie, Numerologie, Handlesen, Tarot, Alchemie, Hexerei, schwarze Magie, Freimaurerei, Geisterbeschwörung, Voodoo, Literatur über Vampire, Werwölfe, Hexen und Dämonen – was immer Ihr sucht, Milady.» Dann entfernte er sich geräuschlos und ließ seine Kundin in der okkulten Sammlung allein. Eleanor war konsterniert. Was sollte sie hier? Abwesend zog sie ihre Handschuhe aus. Sanft fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Buchrücken und las nacheinander einzelne Titel oder flüsterte die Namen von ihr unbekannten Autoren. Vorsichtig kippte sie ein erstes Buch aus dem Regal, schlug es auf, begann zu lesen. Eine ungeahnte Faszination ergriff sie. Planlos wühlte sie sich durch die Buchreihen, zupfte hier ein kleines Werk heraus und dort einen dicken Wälzer, setzte sich an den Tisch, blätterte, vertiefte sich in einzelne Abschnitte, bestaunte die Abbildungen. Der Lesestoff nahm sie derart gefangen, dass sie nicht merkte, wie die Zeit verging, und als plötzlich Penn neben ihr auftauchte, schrak sie auf wie aus einem Traum. Er bat um Verzeihung für die Störung, aber er müsse nun das Geschäft schließen. Eleanor ließ sich einen Stapel Bücher einpacken, und als sie zurück in der Red Mansion war, begann sie sofort, begierig zu lesen, geriet völlig in den Sog dieser ihr bis dahin unbekannten Materie.

    Von da an besuchte sie das Antiquariat regelmäßig, fühlte sich auf eigenartige Art und Weise wohl in Penn’s Antiquarian & Rare Books. Der Inhaber mochte ein schräger Vogel sein, aber er war gebildet und von angenehmer Zurückhaltung.

    Eleanor war einsam, unausgefüllt und ziellos gewesen, das machte sie empfänglich für alles, das diese Stumpfheit zu durchbrechen vermochte. Geheime Praktiken, Tischrücken, Untote, Weissagungen, Kristallkugeln – diese ganze irreale Welt hatte bei ihr Türen aufgestoßen. Sie begann, immer und überall auf Zeichen zu achten und diese zu deuten. Nichts war mehr Zufall, die Wahrsagerin nicht und nicht der Kutscher, der in die falsche Richtung gefahren war.

    Clifton hatte keine Ahnung, was seine Mutter den ganzen Tag trieb. Er sehnte sich nach ihrer Zuneigung, aber solange er denken konnte, hielt sie zu ihm Distanz. Da sie ihn nicht in ihr Leben ließ, zog er sich weiter in die Düsternis zurück, streifte durch Friedhöfe, nahm an Beerdigungen von Menschen teil, die er gar nicht kannte, verschlang Schauerliteratur und Groschenromane mit gruseligen Titelbildern, die von manchen abschätzig «Penny Dreadfuls» genannt wurden.

    Seine Mutter merkte nicht, dass seine Seele immer mehr zu einer Katakombe wurde, aber es gab Mitbewohner in der Red Mansion, die aufmerksamer waren. Zu ihnen gehörte eines der Dienstmädchen, Mary, ein junges Ding vom Land mit roten Wangen, das mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Ihre Aufgabe war es, das Zimmer des jungen Gentleman in Ordnung zu halten. Jeden Morgen huschte sie in ihrem schwarzen Kleid mit der weißen Schürze durch diese Gruft mit der bordeauxroten Tapete, der dunklen Boiserie und den schweren Möbeln, schob unter Anstrengung die Vorhänge zur Seite, die dick waren wie Teppiche, ließ für einen Moment Licht und Luft in den Raum und fuhr dann – ein Liedchen summend – mit Lappen und Staubwedel über das Mobiliar und die Stapel von Büchern. Es hatte sie nie gereizt, sich die Bücher anzuschauen oder gar darin zu lesen, alles Geschriebene war für sie ein Hindernislauf. Aber da eines der Bücher offen dalag, trat sie doch einmal neugierig näher. Der junge Herr war nicht im Haus, und seine Mutter ging nie in das Zimmer, Mary wusste, es würde sie niemand stören, daher begann sie, hier und dort zu blättern, starrte auf die schauerlichen Abbildungen und quälte sich mühsam durch ein paar Sätze. Was war das bloß für seltsames Zeug, dachte sie und schüttelte ratlos den Kopf. O, diese feinen Herrschaften und ihre eigenartigen Vorlieben. Das sollte eine wie sie verstehen. Während sie die Bücher wieder zuklappte und sich erneut ihrem Staubwedel widmete, dachte sie an den Richter, bei dem sie in Diensten gestanden hatte. Altes Operationswerkzeug hatte der gesammelt, obwohl der vom Menschen-Aufschneiden und -Zunähen weniger Ahnung hatte als der Stalljunge vom Vornehmtun. Und ihre letzte Landlady, eine alternde Schauspielerin, hatte ihren verstorbenen Mops ausstopfen und auf ein Brett mit kleinen Rädern montieren lassen, um ihn hinter sich herzuziehen wie ein Kind ein Spielzeug. Das waren verschrobene Erwachsene, aber der junge Devlin war doch noch ein halbes Kind. Wenn sie Kinder hätte, niemals würde sie ihnen so etwas zu lesen geben.

    Nachdem sie ihren Rundgang erledigt hatte, ging sie hinunter zur Köchin, um ihr zu berichten. «Also du wirst es nicht glauben, was ich in dem Zimmer von dem jungen Gentleman gesehen habe.»

    Die Köchin sah sie nur mit stoischer Ruhe an und konzentrierte sich dann wieder auf die Zwiebeln vor ihr.

    «Der liest sonderbare Sachen von Monstern, Untoten, Blutsaugern, Hexen und so Gruselgestalten.»

    Nun sah die Köchin das Mädchen scharf an. «Ich habe es schon immer geahnt.»

    «Was hast du geahnt», sagte Mary und schob sich ein Stück Zwiebel in den Mund.

    «An dem jungen Herrn ist etwas, das einem Angst machen kann. Nur schon sein Aussehen.»

    «Was meinst du damit?»

    «Sein Haar und seine Augen sind schwarz wie das Pianoforte drüben in der Bibliothek, aber seine Haut ist blass wie die seiner Mutter. Er sieht doch selber aus wie eines von diesen Wesen, die das Sonnenlicht scheuen.»

    Das Dienstmädchen überlegte kurz. «Jetzt, wo du es sagst. Ja, als wär da gar kein Blut in ihm drin, als hätten ihn die Vampire ausgesaugt.»

    Die Köchin sah vor sich hin. Sie griff zur Roten Bete, und während sie das Gemüse schälte, färbten sich ihre Hände rot.

    D E R  T O D  D E S  V A T E R S

    Etwa zur gleichen Zeit, als in London der Fabrikant Devlin in einer pompösen Zeremonie zu Grabe getragen worden war, hatten sich in der Schweiz, im Bündnerland, die Bewohner des kleinen Dorfes Fanell im Hellig-Garta – so ihr Name für den Friedhof – versammelt, um von einem der Ihren Abschied zu nehmen. Es war der Furger Jöri, ein redlicher Bauer, endlich erlöst von der Tschifera, die er sich wie alle anderen hatte auf den Buckel schnallen müssen, um Waren die Alp hoch, die Alp hinunter und über die Pässe zu schleppen, gab es doch keine Straße, die in diese abgelegene Ritze führte. Der Sarg war einfach, und, wie bei Verheirateten Sitte, schwarz angestrichen. Auch das Holzkreuz war bescheiden, trug lediglich die Jahreszahlen 1829–1876 und Jöris Initialen J. J. F. Schief steckte es im gefrorenen Boden. Leichter Schneefall legte sich als puderige Schicht auf die schwarze Kiste und die frierende Trauergemeinde. Der Pfarrer, sonst ein überschäumender Prediger, hielt keine große Grabrede. In einem Dorf wie Fanell kannte jeder jeden, keiner konnte besser und keiner schlechter gemacht werden, nachdem er sich auf die letzte Reise begeben hatte.

    An Begräbnissen, Kindstaufen und Hochzeiten nahm stets die ganze Dorfgemeinschaft teil, doch heute fehlten gleich zwei Gemeindemitglieder. Dass der Ungläubige der Bestattung fernblieb, war normal. Er kam nie in die Kirche, und dem kleinen Friedhof würde er auch so lange fernbleiben, bis er selbst in einer dieser Kisten lag. Doch neben dem Heiden ließ sich auch der älteste Sohn des Verstorbenen nicht blicken. Alle wussten, dass er die ganze Nacht dem Schnaps zugesprochen hatte. Allerdings nicht aus Trauer. O nein. Albert hatte gefeiert, denn als Erstgeborener war er nun der Herr auf dem Arvahof. Endlich!

    Während der betrunkene Sohn auf einem Ballen Stroh lag wie ein nasser Lappen, stand Jöri Furgers Witwe in Tränen aufgelöst am Grab. Ihr Mann war die Liebe ihres Lebens gewesen, für ihn war sie sogar in dieses abgeschottete Tal gezogen. Überwältigt von der Trauer, betete sie in einem fort. Nie wieder würde sie damit aufhören. Neben ihr standen ihre achtzehnjährige Tochter Silvia, die mit leerem Blick auf den Sarg starrte, und ihr zwölfjähriger Sohn Andreas, der hemmungslos weinte. Mit verschwommenem Blick sah der Bub hinunter in das Loch, dieses letzte Ruhebett aus feuchter Erde, Wurzeln und Würmern. Immer wieder wischte er sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen und dachte über die Vergänglichkeit nach, fragte sich, wo sein Vater wirklich hinging. Es war das erste Mal, dass er an etwas zweifelte, das er nie zuvor infrage gestellt hatte.

    Als Andreas nach der Beerdigung wieder zu Hause war, spürte er den Drang, zurück zum Hellig-Garta zu gehen. Er musste mit seinem Vater reden, irgendwie, und sei es, dass er seine Fragen und Anliegen

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