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Guter Junge
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Guter Junge

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About this ebook

In einem langen, heißen, turbulenten und gefährlichen Sommer endet die Kindheit für Mickey. Dass er schlau, lustig und sensibel ist, macht ihn zum Außenseiter, aber auch zum unbeirrbaren Kämpfer für seinen eigenen Weg inmitten von Chaos.

Der katholische Teil von Belfast in den frühen achtziger Jahren ist ein erschreckender Ort für einen ebenso klugen wie feinfühligen Jungen, dessen bester Freund seine kleine Schwester ist und dessen Lieblingsfilm »Der Zauberer von Oz«. In seiner Phantasie erträumt sich Mickey eine Zukunft als Filmstar in Amerika, obwohl seine Welt bereits hinter der nächsten Straßenecke endet.

Unterdessen entdeckt er seine Liebe für das unerreichbare Nachbarmädchen, hat Angst vor der neuen Schule mit den wilden Jungs und macht einen Ausflug zu den verbotenen Hügeln, um einmal einen Blick dahin zu wagen, wo alles anders ist und eine bessere Zukunft auf ihn warten könnte.

Der Autor schreibt mit solcher Wärme und Humor über eine Zeit der Armut und Gewalt, in der ein unschuldiger Junge zu früh Verlust und Verrat erfährt, aber sich als findiger Lebenskünstler aus jeder misslichen Lage zu befreien weiß. Nicht zuletzt um seiner mutigen, resoluten und nimmermüden Mutter zu einem kleinen Stück vom Glück zu verhelfen, entwickelt Mickey einen überraschenden Plan.

Den besonderen Tonfall des Romans haben die beiden Übersetzer wunderbar eingefangen.
LanguageDeutsch
Release dateAug 26, 2016
ISBN9783803142030
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    Guter Junge - Paul McVeigh

    Aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser

    Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Good Son bei Salt Publishing in Cromer.

    Dieses Buch wurde publiziert mit Unterstützung von Literature Ireland.

    E-Book

    -Ausgabe 2016

    © 2015 Paul McVeigh

    © 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

    Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Frankie Quinn.

    Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie übersetzungen.

    ISBN: 9783803142030

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3279 6

    http://www.wagenbach.de/​

    Für meine Ma

    1

    Ich bin an dem Tag geboren, an dem die Unruhen begannen.

    »Bin ich doch, Mama, oder?«, sag ich.

    »Die hast du begonnen, Junge«, sagt sie, und wir alle lachen, nur Unser Paddy nicht. Muss wohl wegen der Pickel sein und weil er überhaupt so hässlich ist. Mit so ’nem Gesicht wird man nicht so einfach froh. Fast tut er mir leid. An seinem Hals sehe ich einen dreckigen großen Knutschfleck, den bewahre ich im Gedächtnis als Munition zur Abwehr künftiger Angriffe.

    Als Mama mit Blecheimer und Schrubber an mir vorbeigeht, steigen mir nach Blumen riechende Putzmittelschwaden in die Nase und mischen sich unter den süßen Geschmack der Frosties in meinem Mund. Den Hof schrubbt Mama nur, wenn irgendwas passiert ist. Muss wohl Papa sein, wie immer.

    »Brauchst du Hilfe, Mama?«, sag ich.

    »Nein, Junge«, sagt sie und verschwindet durch die Hintertür. Nicht mal angeschaut hat sie mich. Nach der vergangenen Nacht mach ich mir Sorgen um sie.

    »Brauchste Hilfe, Mama?«, sagt Unser Paddy mit einer Mädchenstimme. »Du kleiner Arschkriecher.«

    »Das sag ich Mama«, sag ich.

    »Das sag ich Mama …«, äfft Paddy mich nach.

    Ich guck zu Maggielein rüber und werf ihr den Stimmt’s, wir hassen ihn-Blick zu. Sie wirft mir den Klar tun wir das, dieses fette Riesenschwein-Blick zu. Diese Blicke hat mir auf dem Cave Hill ein Mönch beigebracht. Ich hab trainiert wie ’n Jediritter, aber mein Lichtschwert war mein Gesicht. Jetzt bin ich Guck Skywalker. Meine Mission: die Jüngsten und Schwächsten in allen Familien gegen das Böse zu verteidigen, das sich großer Bruder nennt. Und jetzt ist Maggielein meine Schülerin.

    Um ihre telepathische Schulung zu testen, funke ich ein Mach dir über den keine Gedanken den fährt erst ’n Auto platt und dann rollt ihm noch ’n Laster übern Schädel dass ihm die Augen rauskullern. Maggielein lächelt. Sie hat’s kapiert. Ich glaube, in Wahrheit sind wir Zwillinge, die bei einem supergenetischen Reagenzglasexperiment der CIA entstanden sind, wenn auch mit großem Altersabstand.

    Paddy steht auf und lässt seine schmutzige Schüssel auf dem Tisch stehen, als wär er König Faruk.

    »Überlass das nicht einfach Mama«, sag ich.

    »Mamasöhnchen«, sagt er.

    »Halt den Mund«, sag ich. »Wenigstens hab ich keinen dreckigen großen Knutschfleck.«

    Maggielein verschluckt sich fast vor Lachen, und aus ihrem Mund fliegen Frosties auf Paddys Pullover, genau wie bei dem kleinen Mädchen in dem Film Der Exorzist, den ich im Jugendclub Papst Johannes Paul II. gesehen habe.

    »Deine Schuld, du schwuler Zwerg!« Paddy gibt mir einen Klaps auf den Kopf.

    Ich versuche, ihn zu treten, knalle mit dem Schienbein aber gegen den Tisch.

    Paddy lacht und wischt sich den Pullover ab. »Und du willst hier der Schlaue sein? Gymnasium? Von wegen.«

    »Immer noch schlauer als du, Dummkopf«, sag ich. »Übrigens, macht’s deiner Freundin eigentlich Spaß, an deinen Halspickeln rumzulutschen?«

    Paddy stürzt sich auf mich und zerrt mich an meinem Pullover vom Stuhl.

    »Mama!«, ruf ich in den Hof hinaus.

    »Was?«, brüllt Mama. Das Haus bebt, als ob ’ne Bombe hochgeht. Paddy lässt mich los. Mit unserer Mama würde sich nicht mal Muhammad Ali anlegen.

    »Nix«, schrei ich zurück. Paddy grapscht sich seinen Blazer von der Stuhllehne und zischt ab. Ich hebe die Augenbrauen und lächel Maggielein zu. »Sieg auf ganzer Linie!« Ich lache wie Graf Zahl aus der Sesamstraße.

    Auf Mamas gutem Tisch sieht’s wüst aus. Ich renne zur Spüle, mache den Lappen nass und sause zurück, bevor Mama reinkommt und jemand dran glauben muss. Jemand = ich. Obwohl ich der gute Sohn in der Familie bin, muss ich immer den Kopf hinhalten, wenn Maggielein was falsch macht, weil sie die Jüngste ist und ich auf sie aufpasse. Maggielein könnte mich in Brand stecken, aber Mama würde mir den Kopf abreißen, weil ich sie in die Nähe von Streichhölzern gelassen hab.

    Beim Tischabwischen sehe ich im Rauchglas mein Spiegelbild. Ich seh aus wie eins von den schwarzen Babys, für die wir in der Schule sammeln. Normalerweise spende ich ihnen Milchreis. Die Konserven kriegen wir gratis vom Gemeinschaftszentrum, weil wir arm sind und weil’s irgendwo einen Lebensmittelberg gibt, der aus lauter Dosen Milchreis und Corned Beef besteht. Ich glaube, der liegt in der Schweiz.

    Eines Tages werde ich Präsident von Irland sein. So gütig werde ich sein, so freundlich. Ich werde alle schwarzen Babys nach Belfast holen, wo’s für die armen Leute kostenloses Essen gibt und wo sie in neuen Häusern wohnen können, wie denen, die gerade am unteren Ende unserer Straße gebaut werden.

    Schwarze hab ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Außer denen, die in Afrika hungern, gibt’s noch welche, die Amerika gestohlen und zu Sklaven gemacht hat, was nicht besonders nett ist, aber immerhin haben sie ihnen was zum Anziehen gegeben. Ohne was zum Anziehen dürfte man in Amerika nicht rumlaufen. Oder in Belfast. Vielleicht, wenn sie bei den Protestanten wohnen würden. Protestanten hab ich bisher auch nur im Fernsehen gesehen.

    »Nicht abdriften, Mickey.« Maggielein zupft an mir rum. »Du kommst zu spät zur Schule.«

    Ich schleuder den Putzlappen in die Spüle und pese durchs Wohnzimmer und die Treppe rauf. Auf Zehenspitzen schleiche ich in mein Zimmer, weil ich Papa nicht aufwecken will. Mama hat ihn wieder aufgenommen, als er mitten in der Nacht an die Tür gehämmert hat. Er hat Männer mitgebracht. Oben auf der Treppe hab ich gelauscht. Ich hab Paddy erzählt, ich hätte Papa weinen hören und sie hätten über Geld geredet. Die Männer haben gesagt, dass sie heute wiederkommen.

    Paddy hat gedacht, diesmal kommt Papa nicht mehr zurück. Aber Papa kommt immer zurück. Mir ist schleierhaft, wieso Paddy sich überhaupt die Mühe macht, zu denken.

    Ich schnapp mir meine Schultasche und renne die Treppe runter in die Küche.

    »Bin schon auf dem Weg, Mama«, rufe ich in Richtung Hof.

    »Hast du dich gewaschen?«, ruft Mama zurück.

    »Klar!« Vom Türrahmen aus schaue ich zu Maggielein und tu so, als würd ich in der Nase bohren und mir den Rotz am Pullover abwischen. Sie lacht hinter vorgehaltener Hand. Sie findet, ich bin wie einer aus dem Fernsehen. Wie Dick und Doof oder Abbott und Costello. Die spielen wir manchmal nach. Sie sagt, es ist unfair, dass wir nie lustige Mädchen nachspielen, aber dann sag ich, ist doch nicht meine Schuld, dass Mädchen nicht lustig sind. Weil wenn sie’s wären, kämen sie ja wohl ins Fernsehen, oder nicht?

    Ich steige auf mein Pferd und reite los, weiche dem Stuhl und dem Tisch aus, mache einen Schlenker um die halboffene Tür ins Wohnzimmer, drehe eine Runde um Papas Sessel und am Sofa vorbei.

    »Cham-pi-on das Suhuuuperpferd«, singe ich und salutiere vor dem Fernseher. Dann galoppiere ich zur Haustür hinaus, und Maggielein rennt hinter mir her.

    »Mach das bloß nicht auf der Straße, Mickey«, sagt Maggielein, als wäre sie diejenige, die auf mich aufpasst.

    »Bin doch nicht bescheuert«, sag ich. »Los, geh schon rein.« Ich schiebe sie zurück ins Wohnzimmer.

    Das Brachland vor dem Haus wird zur offenen Prärie, und die alten, halb abgerissenen Häuser auf der rechten Seite sind jetzt eine verlassene Goldgräberstadt im Wilden Westen.

    Auf Champion reite ich in den Sonnenuntergang.

    »Mr Donnelly, wie spät ist es bei Ihnen?«, sagt Mr McManus. Ich stehe in der Tür und blicke auf meine Füße. »Tschuldigung, Sir.« Komischer Typ, dieser Mr McManus, weil er das zwar so sagt, ich aber dank meiner telepathischen Fähigkeiten genau weiß, dass es ihm völlig schnurz ist. Magische Kräfte wie meine sind sehr nützlich, denn dann weiß man, ob jemand es wirklich ernst meint. Er tut nur so, als wäre er verärgert, also tue ich so, als täte es mir leid.

    »Setzen Sie sich, Donnelly«, sagt Mr McManus und liest weiter.

    »Was geht ab, Fartin’?«, sag ich und lass mich auf meinen Stuhl fallen.

    »Scheiße«, sagt er.

    »Also, wo wir jetzt alle hier sind«, Mr McManus wirft mir einen Seitenblick zu, »dachte ich, wir veranstalten einen kleinen Wettbewerb. Bisschen kreatives Schreiben, eine Seite zu einem Thema eurer Wahl, und dem Gewinner winkt eine kleine Belohnung. Wer nicht mitmachen möchte, liest still an seinem Platz.«

    Alles stöhnt. Seit wir vor einer halben Ewigkeit die Aufnahmeprüfung für die weiterführende Schule abgeschlossen haben, gibt’s nur noch Gesang und Geschichten, und niemand kann es ab. Außer mir. Ich liebe Gesang und Geschichten. Ich werd was schreiben, aber vor den Harten Kerlen muss ich’s geheim halten. Die haben mich eh auf dem Kieker, weil ich’s nicht hier hab, sondern da. Gelobt seien der Herr, seine heilige Mutter und das kleine Jesuskind, dass ich meinen Kumpel Fartin’ Martin hab. Fartin’ hat’s hier und da, ist aber keiner von denen. Ohne ihn wär ich schon an die siebzehnmal gekillt worden.

    MEIN HUND KILLER

    Mein Hund Killer, der ist toll.

    Mein Hund Killer ist wundervoll.

    Ich führ ihn Gassi auf den Straßen,

    Und er macht nie auf fremde Rasen,

    Weil er nur tut, was man ihm sagt,

    Und einen niemals grundlos plagt.

    Er kennt sich aus, er ist der Coole,

    Dabei geht er nicht mal zur Schule!

    Er ist mein Hund, das wird er bleiben,

    Er könnt sogar ’ne Arbeit schreiben!

    Tief in der Nacht, da bellt er laut,

    Weil’s ihm im Dunkeln manchmal graut.

    Dann haart er Papas Sessel voll,

    Auf dem er gar nicht sitzen soll,

    Darüber regt sich Mama auf

    Und schimpft: »Du Böser, lauf!«

    Nicht unbedingt eins von meinen besten, aber ist ja auch nur zum Spaß. Darf man in einem Gedicht schwindeln? Die werden alle total neidisch sein, wenn sie glauben, ich hätt ’nen Hund.

    »Sind alle, die am Wettbewerb teilnehmen, fertig?«, fragt Sir.

    »Jawohl, Sir.« Alle schnalzen mit der Zunge und starren zu mir und den beiden Superhirnen herüber, die geantwortet haben. Ich lasse mich immer zu sehr mitreißen. Warum kann ich nicht einfach mein großes Maul halten, bis ich in St. Malachy’s bin, einfach nur weg von dieser Schule?

    »Wer möchte als Erstes vorlesen?«, fragt Mr McManus.

    »Ich, Sir«, sagt der Klumpen.

    Wieder schauen sich alle ganz genervt an. Das wird sie von mir ablenken. Auf den Klumpen ist immer Verlass. Der ist immer der Erste. Der Erste, der sich meldet, der Erste, der was anbietet, und der Erste, der eins auf die Fresse kriegt. Aber bei den Prüfungen hab ich ihn geschlagen, weil ich da nicht ’n paar Fehler eingebaut habe, wie sonst im Unterricht.

    Der Klumpen räuspert sich, dann liest er mit der gekünstelten Stimme von jemand vor, der nicht von hier ist. Berge und Meer und irgendwas über Schönheit. Mal ehrlich, wer in Ardoyne redet denn von so was? Man sollte meinen, langsam hätte er geschnallt, was man vor den Harten Kerlen geheim halten muss. Die Harten Kerle, in den Hauptrollen der Kleine Zwilling McAuley und der Große Zwilling McAuley – in den Nebenrollen Hurensohn und Affe McErlane. Ein Film über Trottel – wie sie in der Schule versagen und jeden zu Brei schlagen, der eine Gehirnzelle hat. Bald auch in Ihrem Kino.

    Der Kleine Zwilling starrt mich an, während er an einem Strohhalm für die Schulmilch kaut. Den muss er geklaut haben, weil wir unsere Milch noch gar nicht gekriegt haben. Das ist so eins von den bösen Dingen, die er tut. Aus seinem guten Auge feuert er puren Hass auf mich ab. Das andere ist auf unser Modell von Carrickfergus Castle gerichtet. Das schielende Auge ist einer Kugel gefolgt, die sein Gesicht gestreift hat, und dann lieber gleich ganz weggeblieben. Würde ich auch, wenn ich sein Auge wäre. Und immer dieses Gesicht im Spiegel sehen müsste.

    »Danke, Mr Campell, da steckt viel Mühe drin, gut gemacht«, sagt Sir. »Nun, wer kommt als Nächster dran? Mr Close?«, sagt er.

    Statusbericht: Sean Close – auch als Helmschädel bekannt – unter Beobachtung – letzten Monat in meine Straße gezogen – reicher Schnösel – deshalb vermutlich protestantischer Doppelagent, denn wer hätte je von reichen Katholiken gehört – hat keine Kumpel – findet sich super. Schlussfolgerung – kann ihn nicht ausstehen.

    Helm wird in Frieden gelassen, weil an seinem ersten Schultag jemand versucht hat, ihn zu verprügeln, und er ihn mit Karate erledigt hat. Entschieden verdächtig. Ein protestantischer Kinderspion mit Kung-Fu-Ausbildung? Wäre denen glatt zuzutrauen.

    »Die Geschichte heißt ›Monty die Fliege‹«, sagt Helm. Das lauteste Kichern kommt von mir. »Monty stammte aus Surrey und war von Beruf Jagdflieger. Er war eine kurzsichtige Fliege, weshalb er eine sehr große Brille tragen musste.«

    Er redet, aber ich kann nicht zuhören. Ich weiß jetzt schon, wie genial die Geschichte sein wird. Manchmal weiß man so was vom ersten Moment an. Wenn es eine Hausaufgabe gewesen wäre, hätte ich gesagt, sein schnöseliger Papa hat ihm dabei geholfen. Es reicht ihm nicht, dass er in ein neues Haus in meiner Nähe gezogen und in meine Klasse gekommen ist, nein, er muss auch noch in meine Sache reinpfuschen. Hier bin immer noch ich derjenige mit den genialen Geschichten.

    Aber so was würde mir nie einfallen. Im Leben nicht. Vielleicht, wenn ich nicht aus Ardoyne wär, sondern aus einer Gegend, wo man was lernen darf. Aber nach dem Sommer geh ich weg. St. Malachy’s Grammar School, ich komme! Da werd ich lernen, so geniale Geschichten wie seine zu schreiben.

    Heut wird er besser sein. Das darf ich nicht zulassen. Man darf sie nie gewinnen lassen.

    Ich schieb mir mein Übungsheft hinten in die Hose. »Toilette, Sir?« Ich stehe auf.

    »Sie sollten anderen nicht ins Wort fallen, Mr Donnelly, das ist sehr unhöflich«, sagt Sir.

    »Ich muss aber ganz dringend.« Ich quetsche meinen Schwanz zusammen, als würde die Pisse gleich rausplatzen. Als hätt ich schon vor Ewigkeiten rausgemusst und würde jetzt fast umkommen. So etwa: Ach, ich leide Todesqualen. O Gott, ich muss sterben. Moment mal, ich schauspielere ja nur. Eben hab ich mir glatt selbst geglaubt, so gut bin ich. Schauspieler sollte ich werden.

    Sir winkt mich hinaus wie ein gelangweilter König. Im Gang stehen die Klassenzimmertüren offen, und die Lehrer schauen raus, als ich vorbeiflitze. Vor Mrs O’Hallorans Tür bremse ich ab und schaue hinein. Wir haben ein Geheimnis, ich und Mrs O’Halloran. Sie blickt auf und lächelt.

    »Na, wenn das mal nicht Michael Donnelly ist. Kommen Sie einen Augenblick herein«, gurrt sie wie ein Täubchen.

    Ich bin verliebt in Mrs O’Halloran. Ich war der Einzige, der ihre Unterlagen zu Mr McDermot tragen durfte. Sie hat mich ihr Zuckerstück genannt. Ihr Knuffelchen. Sie hat gesagt, ich wär anders. Nicht wie die anderen Jungs. An meinem letzten Tag in ihrer Klasse hab ich ihr ’ne Halskette gekauft. Ganze fünfzig Pence hat die gekostet. Ein kleines goldenes Herz hing dran, und auf der Rückseite stand: Ich liebe dich.

    »Nun, liebe Schüler, ich möchte, dass ihr euch alle Mr Michael Donnelly anseht«, sagt sie, und ihr Arm auf meiner Schulter macht meine Haut ganz kribbelig. »Er ist einer der besten, nein, er ist der beste Schüler, den die Holy Cross Boys School je hervorgebracht hat.« Ich bin ganz verlegen und laufe puterrot an, mein Gesicht brennt wie ein geprügelter Arsch.

    »St. Malachy’s Grammar School. Das überrascht mich überhaupt nicht. Daran seht ihr, liebe Schüler, was man an dieser Schule durch harte Arbeit und Zielstrebigkeit erreichen kann«, strahlt sie mich an. Eigentlich sollte es ein Geheimnis sein, aber ich schätze, diese Zwerge können es ruhig erfahren. Und sie hat ja recht. Ich bin zielstrebig. Ich habe einen Plan. Weg von dieser Schule. Schlau werden. Nach Amerika gehen. Reich werden. Maggielein und Mama holen, damit sie zu mir ins Penthouse ziehen können.

    »Danke, Mrs O’Halloran«, sag ich mit meiner Guter-Junge-Stimme, um der Klasse zu beweisen, wie recht sie hat.

    »Man wird Sie schmerzlich vermissen«, sagt sie lächelnd. Sie flüstert: »Vergessen Sie nicht, heute noch einmal bei mir vorbeizuschauen, bevor Sie gehen, ja?«

    »Jawohl, Mrs O’Halloran«, sag ich, inzwischen feuerrot wie ein menschlicher Molotowcocktail. Ich trete gegen das Bein ihres Pults, lächel und verziehe mich schnellstens aus dem Klassenzimmer. Ich will erwachsen werden und alle meine Träume verwirklichen, aber eigentlich will ich einfach nur wieder in der Dritten sein, bei Mrs O’Halloran.

    In der Toilette hole ich mein Heft hervor. Ich reiße das Gedicht heraus und zerrupfe es, werfe es in die Toilette und spüle es für immer fort.

    Alle schauen mich an, als ich ins Klassenzimmer zurückkomme, deshalb gehe ich mit gesenktem Kopf an meinen Platz. Als wollte ich mir die Schuhe zubinden, suche ich Deckung unter meinem Tisch.

    »Ah, Mr Donnelly. Wir haben schon auf Sie gewartet«, sagt Mr McManus.

    »Was, Sir?«, sag ich, als wär ich total beschränkt, so richtig bekloppt und cool.

    »Sie sagten, Sie hätten etwas für den Wettbewerb«, sagt er.

    »Nee, hab ich nicht.« Das kam jetzt frech rüber.

    »Stehen Sie auf, Mr Donnelly«, sagt er. Ich hab die McManus-Grenze überschritten. Im ganzen Klassenzimmer Geflüster und Ooohs. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nichts zum Vorlesen haben?«

    »Doch, hat er, Sir. Ich hab gesehen, wie er’s geschrieben hat«, sagt Fartin’ und vergräbt lachend den Kopf in der Armbeuge auf dem Tisch.

    »Und?«, sagt Sir.

    »Nein, schauen Sie her.« Ich halte die leeren Seiten hoch. »Sehen Sie?«

    »Sie gehen mir heute ganz schön auf die Nerven, Mr Donnelly. Erst zu spät kommen und jetzt das. Was, glauben Sie, wird geschehen, wenn Sie sich in St. … in der weiterführenden Schule so aufführen? Warum bleiben Sie nicht einfach eine Weile stehen, dann fällt Ihnen vielleicht wieder ein, was aus Ihrem Text geworden ist.« Mr McManus geht zur Tür, um eine zu qualmen.

    Was kümmert’s ihn? Ich liebe Mr McManus, aber manchmal führt er sich auf, als hätt ihm jemand ’nen Staubwedel in den Arsch geschoben.

    »Jetzt bist du dran«, lacht Fartin’.

    »Was sollte das denn eben?«

    »Ich hab dich doch was schreiben sehen. Ich hab gedacht, du machst nur Scheiß. Hast du wirklich nichts?«, sagt er im kompletten Stirnrunzeln-Unglauben.

    Ich will’s mir mit Fartin’ echt nicht verscherzen, wo er doch in der Schule mein bester Freund ist. Mein einziger Freund. Wir hängen nach der Schule nicht zusammen rum, weil er am andern Ende von Ardoyne wohnt, bei den Prods, den Protestanten, und da darf ich nicht hin wegen der Krawalle. Wenn nächste Woche die Schule vorbei ist, werden wir uns nicht mehr oft sehen. Und nach den Ferien geh ich auf St. Malachy’s, und er geht wie alle anderen auf St. Gabriel’s. Ich frage mich, wo Helmschädel hingehen wird. Der findet sich so super mit seinen blonden Haaren und seinen blauen Augen und dem ganzen Ach, seht mich an mit meinen genialen Geschichten und meiner blitzblanken Schuluniform.

    Mr McManus kommt wieder herein, gefolgt von Mr Brown, dem Rektor.

    »Donnelly, kommen Sie mal her«, sagt Mr Brown, und das tu ich auch, weil er ’n ziemlich gruseliges Exemplar ist. In der Schule krieg ich nie Ärger. Ich bin ein guter Junge. Wegen dem Text kann’s also nicht sein. Muss was mit St. Malachy’s zu tun haben. Mr Brown hat gemeint, es wär besser, den anderen Jungs nichts zu sagen, und seinen Satz mit einem Blick beendet, der besagen sollte: Wenn du hier lebendig rauskommen willst. Mr Brown flüstert Mr McManus etwas zu und blickt sehr ernst drein. Mr Brown legt mir die Hand auf den Rücken und schiebt mich auf den Gang.

    Ich stehe am Fenster und blicke hinaus auf den asphaltierten Pausenhof, der übersät ist mit Scherben und bunten Klecksen von den Farbbeuteln, die die Harten Kerle nachts über die Mauern schleudern. In der Fensterscheibe sehe ich Mr McManus, der sich den Mund zuhält und auf seine Schuhe starrt. Mr Brown hat eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen reibt er sich die Glatze. Irgendwas ist passiert. Es ist wie eine von diesen Filmszenen, wenn jemand ’ne schlechte Nachricht bekommt, während die Musik spielt, und wir wissen, was gesagt wird, obwohl wir die Worte gar nicht hören. Normalerweise erfährt der Held, dass er unheilbar krank ist oder dass seine Eltern bei einem Autounfall umgekommen sind. Wir haben kein Auto, also …

    »Folgen Sie mir«, sagt Mr Brown. Das mache ich, sehe mich aber noch einmal zu Mr McManus um, der immer noch in der Tür steht und mich anlächelt wie … Ich hab Leukämie! Letzte Weihnachten hatte ich doch Nasenbluten. Mir wird ein bisschen schwummrig.

    Mr Browns Bürotür am Ende des Gangs steht offen. Er geht hinein. Ich warte.

    Ich liege in meinem Krankenhausbett, die ganze Familie kniet um mich herum und weint, ich setze mich auf, um zu sagen: »Ich vergebe euch allen. Sogar dir, Paddy.« Ich lächel und berühre seinen Kopf, dann sterbe ich.

    »Treten Sie ein, Michael«, sagt Mr Brown. Es ist das erste Mal in sieben Jahren, dass er mich mit Vornamen anredet.

    Verdammte Kacke! Mama und Papa sind da. In ihren Sonntagskleidern. Allmählich wird mir das zu fernsehmäßig.

    »Setz dich, Junge«, sagt Papa sehr freundlich. Hoffentlich kann Mr Brown aus Papas Pfefferminzatem nicht den Alkohol der vergangenen Nacht herausriechen. Ich setze mich auf den

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