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Die Muse von Paris: BsB_Romanbiografie
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Die Muse von Paris: BsB_Romanbiografie
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Die Muse von Paris: BsB_Romanbiografie

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About this ebook

Misia, Modell und Muse der jungen Künstler ihrer Zeit, Schwester, Geliebte und Freundin großer Männer.
Geboren in Sankt Petersburg als Tochter eines mondänen russischen Bildhauers am 30. März 1872, gestorben am 15. Oktober 1950 in Paris, war Misia Sert während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Muse, Freundin und Förderin der großen Künstler in Paris.
Mit 14 entflieht sie dem Kloster. Sie heiratet: in erster Ehe den Herausgeber einer Literaturzeitschrift, in zweiter einen Multimillionär, und schließlich in dritter, den spanischen Maler Josep-Maria Sert, der ihre große Liebe wird und dessen Namen sie noch trägt, als sie, längst von ihm verlassen, in Paris stirbt.
Mit ihrer verführerischen Ausstrahlung ist sie die Attraktion der Salons, der Mittelpunkt der Bälle im Paris der Belle Époque. Ganz Paris liegt ihr zu Füßen: Ravel widmet ihr "La valse", Verlaine so manches Sonett. Den größten Malern der Jahrhundertwende, Renoir, Bonnard, Vuiliard und Toulouse-Lautrec ist sie ein begehrtes Modell. Befreundet ist sie mit Marcel Proust ebenso wie mit Jean Cocteau, mit Serge Diaghilew, dem sie den triumphalen Weg des russischen Balletts nach Paris vorbereitete, mit Caruso ebenso wie mit Picasso, dessen Trauzeugin sie wird.
Misias bewegtes Leben, hier nachgezeichnet von einem Autor, der sie noch kannte, zeichnet ein schillerndes, lebenspralles Panorama der bedeutendsten und elegantesten Bohème über die zwei Weltkriege hinweg, von der Belle Époque bis zur Moderne. Über allem ist dies der Roman einer hingebungsvollen großen Liebe.
LanguageDeutsch
Release dateApr 15, 2015
ISBN9783864661112
Die Muse von Paris: BsB_Romanbiografie

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    Book preview

    Die Muse von Paris - Felix Lützkendorf

    978-3-86466-111-2

    Der Autor

    Felix Lützkendorf wurde 1906 in Leipzig geboren. Dort und später bei der Berliner Nachtausgabe war er journalistisch tätig. Als junger Lyriker und Dramatiker erregte er Aufsehen und wurde mehrfach ausgezeichnet. Er erhielt den Schiller-Preis der Stadt Leipzig 1932/33; den Biennale-Filmpreis 1937, den Dramatikerpreis der Kammerspiele München 1962. Für die großen Regisseure der Zeit – wie Gustaf Gründgens und Erich Engel – schrieb er die Drehbücher zu unvergesslichen Filmen. In seiner Romantrilogie »Jahre des Zorns«, zeichnet er die Geschichte seiner Generation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf.

    Die folgenden Romane des Autors erscheinen bis 30.Juni 2015 bei

    BsB_BestSelectBook_Digital Publishers

    und werden überall erhältlich sein, wo es E-Books gibt.

    Ich Agnes, eine freie Amerikanerin

    Milada Eine Liebe in Prag

    Kein Frühling kommt zu spät

    Mädchen aus gutem Hause

    Die schöne Gräfin Wedel

    Auf Wiedersehn Janine

    Prusso und Marion

    Die Muse von Paris

    Florentiner Spitzen

    Feuer und Asche

    Märzwind

    Franca

    Der Roman

    Misia, Modell und Muse der jungen Künstler ihrer Zeit, Schwester, Geliebte und Freundin großer Männer.

    Geboren in Sankt Petersburg als Tochter eines mondänen russischen Bildhauers am 30. März 1872, gestorben am 15. Oktober 1950 in Paris war Misia Sert während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Muse, Freundin und Förderin der großen Künstler in Paris.

    Mit 14 entflieht sie dem Kloster. Sie heiratet: in erster Ehe den Herausgeber einer Literaturzeitschrift, in zweiter einen Multimillionär, und schließlich in dritter, den spanischen Maler Josep-Maria Sert, der ihre große Liebe wird und dessen Namen sie noch trägt, als sie, längst von ihm verlassen, in Paris stirbt.

    Mit ihrer verführerischen Ausstrahlung ist sie die Attraktion der Salons, der Mittelpunkt der Bälle im Paris der Belle Èpoque. Ganz Paris liegt ihr zu Füßen: Ravel widmet ihr La valse, Verlaine so manches Sonett. Den größten Malern der Jahrhundertwende, Renoir, Bonnard, Vuiliard und Toulouse-Lautrec ist sie ein begehrtes Modell. Befreundet ist sie mit Marcel Proust ebenso wie mit Jean Cocteau, mit Serge Diaghilew, dem sie den triumphalen Weg des russischen Balletts nach Paris vorbereitete, mit Caruso ebenso wie mit Picasso, dessen Trauzeugin sie wird.

    Misias bewegtes Leben, hier nachgezeichnet von einem Autor, der sie noch kannte, zeichnet ein schillerndes, lebenspralles Panorama der bedeutendsten und elegantesten Bohème über die zwei Weltkriege hinweg, von der Belle Epoque bis zur Moderne. Über allem ist dies der Roman einer hingebungsvollen großen Liebe.

    Die Engel fliegen, weil sie sich leichtnehmen.

    Chesterton

    Nebelblumen pflückt man nicht

    Jener Augenblick, da sie zu sich selbst erwachte, sich als Misia Godebska zum ersten Male selbst erkannte, ist ihr zeitlebens unvergesslich geblieben.

    Das Schicksal hob den Taktstock, und mit einem Paukenschlag begann die Symphonie ihres Lebens.

    Kaum fünfzehn Jahre alt, betrat sie an der Seite ihrer Großmutter, Madame Servais, das königliche Schloss in Brüssel und überließ nur widerstrebend die mit dem königlichen Wappen geschmückte Einladungskarte dem Kammerherrn des Empfangs. Denn es war die erste Balleinladung in ihrem jungen Leben.

    Als sie neben ihrer Großmutter die Marmorstufen der Freitreppe zum Ballsaal hinaufging, bemühte sie sich, ihrem Gesicht den Ausdruck jener Langeweile zu geben, die sie den im Vestibül versammelten Hofdamen abgesehen hatte. Aber in Wahrheit schlug ihr das Herz bis in die Fingerspitzen, glühte ihr Gesicht, leuchteten ihre Augen vor glücklicher Erwartung.

    Auf dem ersten Absatz der Treppe kam ihr vor dem großen Spiegel ein junges Mädchen entgegen, ein noch kindhaftes Geschöpf, dessen verträumte Schönheit ihr den Atem raubte. Die großen dunklen Augen im schmalen blassen Gesicht, die von schwarzen Locken umwehte klare Stirn, die scheue Grazie ihrer Bewegungen, eingehüllt in ein Kleid von blassblauem Tüll, das in der überschlanken Taille von einem breiten Moirégürtel gehalten wurde – hatte sie dieses blütengleiche Mädchen nicht schon einmal gesehen?

    Im Traum vielleicht?

    Erst als sie einige Schritte weitergegangen war, erkannte Misia, dass sie selbst sich entgegengekommen war. Sie machte auf den Absätzen ihrer blauen Seidenschuhe kehrt und lief zu dem Spiegel zurück, um, hingerissen von sich selbst, unter dem Lächeln der Lakaien ihr eigenes Spiegelbild zu küssen.

    Auf diesem Ball tanzte sie mit dem Kronprinzen und hatte Flügel an den Schultern.

    Indes war sie schon vor diesem Spiegelerlebnis fest davon überzeugt gewesen, es begänne das bewusste Leben eines Menschen in Wahrheit lange vor seiner Geburt. Sie hatte Beweise dafür, sie hatte bereits im Mutterleib erfahren müssen, welchen Schmerzen, welchen Beleidigungen, welchen Erniedrigungen eine Frau in dieser Welt der Männer ausgesetzt war. Als hätte das Schicksal sie als noch Ungeborene schon für ihre Zukunft als Geliebte und wieder Verstoßene bereit machen wollen.

    Unter dem Herzen ihrer unglücklichen Mutter hatte sie deren Seufzer mitgeseufzt, deren Tränen mitgeweint, deren Einsamkeit und Verzweiflung mitgeatmet. Und es erschien ihr zeitlebens unerklärlich, dass sie im Augenblick ihrer Geburt den kummervollen Tod ihrer Mutter nicht mitgestorben war.

    Oder war sie selbst es gewesen, die den Tod der Mutter, indem sie ins Leben drängte, erst herbeigeführt hatte? Eine imaginäre Schuld, an deren Last sie ein Leben lang trug, die sie niemals ganz von sich abschütteln konnte. Sophie Godebska, ihre junge Mutter, lebte damals in Hall bei Brüssel im Haus ihres Vaters, des berühmten Geigers François Servais, der sich auf seinen Konzertreisen ein ansehnliches Vermögen erworben hatte, das er in seinem prunkvollen Haus offen zur Schau stellte und an dem er seine zahlreichen Freunde mit der kindlichen Freude eines Musikerherzens unbegrenzt teilhaben ließ.

    Fast täglich kamen Gäste aus aller Welt. Im großen Speisesaal waren zu den Hauptmahlzeiten ständig sechzig Gedecke aufgelegt. Gelächter. Übermut und Verschwendung. Und Musik natürlich,. Musik von allen Seiten. Zwei Konzertflügel im großen Salon und sieben Klaviere in den anderen Zimmern standen für Pianisten mit großen Namen, aber auch für begeisterte Dilettanten bereit. Und alle spielten Chopin oder die neue, alle Sinne aufwühlende Musik eines jungen Genies, das den Namen Richard Wagner trug.

    Allein Sophie Godebska, die mädchenhaft zarte Tochter des Hauses, die damals, im Winter 1872, mit Misia im neunten Monat schwanger war, ging durch den festlichen Übermut dieser Tage wie eine lächelnde Fremde. In der Musik um sie her wuchs die Sehnsucht nach ihrem Mann, der acht Monate zuvor nach Petersburg gereist war, ins beinahe Unerträgliche. Die Prinzessin Jussupoff hatte den begabten jungen Maler und Bildhauer verpflichtet, die Wände im Zarenschloss Zarskoje Selo auszuschmücken. Eine Arbeit, die Sommer und Herbst hindurch und nun schon in den Winter hinein kein Ende zu nehmen schien.

    Sophie hatte ihren Mann von der bevorstehenden Niederkunft unterrichtet und erwartete von Tag zu Tag ungeduldiger einen Brief von ihm, der ihr seine baldige Rückkehr ankündigen würde.

    Und endlich lag der Brief in ihrer Hand. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein, um Wort für Wort der geliebten Handschrift ungestört zu genießen.

    Doch was sie sah, das war nicht die geniale, großzügige Handschrift ihres Mannes. Das war eine hastig auf das Papier gekleckste anonyme Denunziation, die ihr in russischer Sprache mitteilte, ihr Mann lebe schon seit seiner Ankunft in Petersburg mit einer Tante seiner Frau, der jüngsten Schwester seiner Schwiegermutter, in wilder Ehe zusammen. In einer Ehe, die bald schon mit einem Kinde »gesegnet« sein würde.

    Sophie Godebska lehnte sich an die Wand, um nicht zu Boden zu stürzen, die Buchstaben verschwanden vor ihren Augen, sie glaubte zu ersticken.

    Nein, es konnte nicht wahr sein, was sie da las.

    Sie dachte an die Zärtlichkeit, an die Liebesworte, an das Lächeln ihres Mannes. Solchen Verrats war er nicht fähig. Sie zerriss den Brief, diese Lügen einer anonymen Neiderin, und warf die Fetzen in den Papierkorb.

    Um sie im nächsten Augenblick schon wieder hervorzuholen und Stück für Stück auf dem Tisch zusammenzulegen.

    Und las das Unglaubliche Wort für Wort noch einmal. Zweifel fuhr ihr ins Herz. Waren nicht die Briefe aus Petersburg wirklich immer seltener geworden? Immer kühler und flüchtiger, und in den Gründen, die das lange Ausbleiben entschuldigen sollten, immer fadenscheiniger?

    Sophie Godebska sprang auf. Entschlossen, die Wahrheit mit eigenen Augen zu sehen, auch wenn sie daran zugrunde gehen sollte.

    Madame Servais versuchte alles, ihre hochschwangere Tochter von diesem verhängnisvollen Entschluss abzubringen.

    Aber für Sophie gab es kein Zurück mehr. Ernest und François, ihre erstgeborenen Söhne, überließ sie der Fürsorge ihrer Mutter und trat von einer Stunde zur anderen die Reise an, die ein Sprung in den Abgrund werden sollte. Dreitausend Kilometer im ratternden Zug dem im Winterschnee versunkenen Petersburg entgegen. Und im neunten Monat schwanger.

    Durch das grauverhangene Deutschland zunächst, das kein Ende nehmen wollte. Aachen, Köln, Berlin, Posen. Die fremden Namen kamen ihr kaum zum Bewusstsein. Erst in Warschau horchte sie auf, denn das war fast schon Russland. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Petersburg kam immer näher und unausweichlich auch die Wahrheit, der sie entgegenfuhr und die sie zu fürchten begann.

    Misia hatte zeitlebens den Eindruck, sie hätte diese Reise nicht nur unter dem Herzen ihrer Mutter, sondern Hand in Hand mit ihr, als deren vertraute Freundin, mitgemacht. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, um die unvergessene Stimme wieder zu hören, die flehende Gebete in sich hineinflüsterte. Oder die Seufzer der Verzweiflung, das Wüten der Eifersucht, die Geduld der Liebe, die zum Verzicht bereit war, um im nächsten Augenblick schon dem Entschluss zum Selbstmord zu weichen.

    Als Sophie Godebska im verschneiten Petersburg unter dem Schellengeläut der Schlittenpferde zum Haus ihres Mannes fuhr, waren alle Tränen geweint, alle Schmerzen überwunden, war ihr Entschluss gefasst. Ohne ihren Mann anzusehen, ohne auch nur ein Wort zu sagen zu ihm, würde sie auf ihre Rivalin zugehen, ihr die Hände um den Hals pressen, sie kaltblütig erwürgen. Was auch geschehen mochte – sie fühlte die Kraft dazu in sich es zu tun.

    Indes war der Schlitten vor dem erleuchteten Haus angekommen. Sophie schlüpfte unter der schweren Pelzdecke hervor, zahlte den Kutscher mit einem viel zu großen Rubelschein und ging auf das Haus zu.

    Als der bärtige alte Mann ihre schwankenden Schritte sah, sprang er vom Kutschbock, fasste sie unterm Arm und führte sie die Stufen der Vortreppe hinauf.

    Vor der Tür blieb sie tief atmend stehen, streckte die Hand nach der Hausglocke aus – und hörte im gleichen Augenblick seine Stimme, ihres Mannes geliebtes, übermütiges Lachen.

    Ihre Hand fiel herab, sie sah den Alten neben sich an und bat: »Bitte bringen Sie mich in das nächste Hotel, bitte.«

    »Wäre ein Arzt oder eine Hebamme jetzt nicht wichtiger für Sie, Madame?« fragte er zögernd.

    Sie schüttelte den Kopf.

    »Ich bin so müde.«

    Er sah die Tränen in ihren Augen, trug sie zum Schlitten zurück und brachte sie in das beste Hotel, das er kannte, in ein Haus. Geleitete sie auch dort bis in die Halle.

    Noch ehe sie den polizeilichen Meldezettel ausfüllte, den ihr der Portier zuschob, bat sie ihn um einen Hotelbriefbogen und schrieb: »Ich bin in Petersburg. Sophie.« Nichts weiter.

    Nein, sie wollte ihn nicht aufsuchen in diesem Haus, in dem er mit der anderen Frau lebte.

    Er sollte zu ihr kommen.

    Sie faltete den Brief zusammen und gab ihn dem Kutscher, der immer noch neben ihr stand.

    »Bitte, bringen Sie den Brief dorthin, wo wir eben waren.«

    Er steckte den Brief langsam ein.

    »Jawohl, Madame.«

    »Es ist das Haus meines Mannes«, setzte sie hinzu.

    »Gott schütze Sie, Madame«, sagte der alte Mann. Er schien alles zu wissen.

    Der Portier nahm ihre Reisetasche und führte Sophie zum ersten Stock empor. Sie kam kaum die Stufen hinauf. Er musste sie stützen.

    »Wünschen Madame zu speisen?« fragte er, während er das Zimmer aufschloss und das Gaslicht anzündete. Sie schüttelte den Kopf.

    »Ich will nur noch schlafen. Ich bin müde, sterbensmüde.«

    Sie schloss hinter dem Portier die Tür ab, riss sich die beengenden Kleider vom Leib und warf sich auf das Bett, um sofort einzuschlafen.

    Als ihr Mann am nächsten Morgen erschien, musste er die noch verschlossene Tür gewaltsam öffnen lassen.

    Er stürzte ins Zimmer.

    »Sophie! Sophie!«

    Aber ihre Ohren hörten ihn nicht mehr, ihre gebrochenen Augen sahen ihn nicht mehr. Das kleine Mädchen, das sie in der Nacht ihres Todes geboren hatte, fand er schlafend.

    Monsieur Godebska vereinte in sich die Empfindsamkeit eines Künstlers mit dem praktischen Sinn eines Weltmannes. Den Tod seiner Frau beklagend, die ihm in ihrer Sterbensblässe noch schöner erschien, als sie in seiner Erinnerung lebte, nahm er das Kind, das sie ihm zurückgelassen hatte, um es an die Brust seiner Geliebten zu legen, die wenige Tage vor Sophies Ankunft in Petersburg ebenfalls mit einer Tochter niedergekommen war. Einige Monate später – Sophie war feierlich beerdigt, ihr Grab mit Blumen überhäuft, die Arbeit in Zarskoje Selo beendigt und die Geliebte reichlich mit Geld beruhigt worden – verließ der zweifache Vater Petersburg, um sich in Paris neuen künstlerischen Aufgaben zu widmen. Misia, die er mit sich nahm, gab er im Vorbeifahren bis auf weiteres im Haus seiner Schwiegermutter ab.

    Was aber war das für ein Haus, das der Geiger Servais der Witwe hinterlassen hatte! Wenn Misia später daran zurückdachte, schien es ihr, als seien sie und ihre Brüder mitten im Paradies aufgewachsen, in einem Zauberschloss im italienischen Stil, in dem nur freundliche Leute wohnten, in dem die Türen sich in immer verwunschenere Zimmer öffneten, die alle von Musik erfüllt waren. Die Sonne dieser Märchenwelt war Misias Großmutter, die dem russischen Hochadel entstammte.  Eine kleine, zartgliederige, anmutige Frau, von starkem Parfum umwölkt, schmuckbeladen und immer heiteren Sinns. Großvater Servais hatte sie ihrer Familie entführen dürfen, nachdem er nicht nur seine Liebe zu ihr, sondern auch das große Vermögen in die Waagschale werfen konnte, das ihm sein schmelzendes Geigenspiel in aller Welt eingebracht hatte. Ein Vermögen, das ihm ein verschwenderisches Leben erlaubte, worin er mit den Neigungen seiner jungen Frau übereinstimmte. »Nicht nur die Liebe, auch die Freundschaft geht durch den Magen«, war der nicht bestreitbare Glaubenssatz, mit dem er die Üppigkeit, die Erlesenheit, den Glanz seiner Gastmahle begründete. Sie waren das Gesprächsthema im künstlerischen Europa jener Tage, denn neben den sechzig Gedecken aus Sèvres oder Meißen und den schweren Silberbestecken lag immer auch ein erlesenes Gastgeschenk, das auszusuchen oder anfertigen zu lassen die besondere Aufgabe und Freude seiner Frau war.

    Zur Ehre der Gastgeber sei aber gesagt, dass den exquisiten Speisen und Getränken immer auch das geistige Niveau der Unterhaltungen entsprach. Denn es fehlte unter den Gästen kaum jemand, der im kulturellen Europa jener Zeit von Gewicht war. Wobei Madame Servais immer darauf achtete, dass zugleich mit den schon Anerkannten auch die ruhmgierigen jungen Dichter, Maler und Musiker eingeladen wurden, deren große Zukunft sie vorausahnte. Ein Beispiel, das Misia später, als sie wie von selbst zur Muse von Paris geworden war, mit der gleichen verschwenderischen Freude nachahmen sollte.

    Vorerst war sie indes noch»la petite« im großen Haus der Großmama, ein kleines Mädchen im Spitzenkleid, mit Knopfstiefeln und bunter Haarschleife, das mit großen Augen die verwirrende Welt der Erwachsenen bestaunte und lachend zwischen den Beinen der Gäste wie ein kleiner Kobold herumpurzelte. Denn sie war, trotz ihrer Todesgeburt, von Beginn ihres Lebens an heiteren Gemüts. Sie genoss eine unbeschwerte Jugend auch insofern, als die Großmama auf tote Schulweisheit durchaus keinen Wert legte, sondern allein dem Vorbild vertraute, das man einem Kind für das Leben mitgab. So lernte Misia im Spiel alles, was zu lernen war, und, wie in diesem von Musik erfüllten Haus fast selbstverständlich, Noten noch vor den Buchstaben zu lesen. Was ihr Freude machte, flog ihr einfach zu.

    Und sie begriff damals schon, dass die Erwachsenen wunderliche Leute waren, die man nicht gar zu ernst nehmen durfte. Jedenfalls nicht so ernst, wie man Kinder nehmen musste. Das galt besonders für ihren Onkel, einen Bruder ihrer Mutter, der die Stradivari seines Vaters geerbt hatte und sie als einen kostbaren Schatz hütete. Misia folgte ihm Abend für Abend auf Zehenspitzen, wenn er sich in sein Zimmer zurückzog; dort wurde sie Zuschauerin einer Szene, die ihr jedes Mal große Angst einjagte. Sie sah, wie der Onkel sein Ohr auf den Geigenkasten legte und mit verzücktem Gesicht einer Musik lauschte, von der sie selbst keinen Ton vernahm. In seiner Entrücktheit merkte er weder, wie sie ihm folgte, noch, wie sie auf Zehenspitzen sein Zimmer wieder verließ.

    Dann geschah es, dass Misia von einem seltsamen Gast mit hüstelnder Stimme darum gebeten wurde, ihn in den Salon zu führen, zu dem Flügel, der dort stand. Des Mannes hageres, blasses Gesicht war von dunklem langem Haar umrahmt, er trug ein weites weißes Seidenhemd mit roter Krawatte, dazu eine schwarze Samtweste und einen ebensolchen Rock. Im Salon setzte er sich aufatmend vor den Flügel und spielte im Mondlicht, das durch die hohen Fenster schien, den Trauermarsch von Chopin mit einer Tiefe des Ausdrucks, wie ihn Misia ihr Leben lang nicht wieder hören sollte. Mit dem letzten Ton tat der Mann einen tiefen Atemzug, stürzte nach vorn auf den Flügel und rührte sich nicht mehr.

    »Monsieur?« sagte Misia zaghaft, »Monsieur?«, da fiel er schon seitwärts vom Stuhl. Ratlos starrte sie ihn an, die offenen Augen, den stumm schreienden Mund – es war der erste Tote, den sie sah in ihrem Leben. Verängstigt floh sie aus dem Zimmer, um ihre Großmutter von dem Ereignis zu unterrichten. Kehrte aber an deren Hand in zitternder Neugier sogleich wieder in den Salon zurück, um mitanzusehen, wie Pan Zarembsky von einigen beherzten Gästen aufgehoben und auf das Sofa gelegt wurde, wo sie versuchten, sein Herz mit eifriger Massage wiederzubeleben. Aber der große Pianist, der sich selber den Trauermarsch gespielt hatte, war für immer dahingegangen. Die Großmutter beklagte ihn laut, nahm indes solche Schicksalsschläge – wie auch den Tod ihrer Tochter Sophie oder den frühen Hingang ihres Gatten – mit der Gelassenheit eines frommen Herzens hin, das überall Gottes Willen am Werk sieht. Beim täglichen Kirchgang betete sie nicht nur für alle Mitglieder ihrer weitverzweigten Familie, sondern auch für die verschiedenen Gäste ihres Hauses, die sie dem lieben Gott in der Reihenfolge ihrer Gnadenwürdigkeit mit Namen benannte. In offener Naivität und mangels nennenswerter eigener Sünden vertraute sie ihrem Beichtvater ersatzweise die Fehltritte anderer Leute an, gelegentlich auch die der eigenen Familienmitglieder. So zum Beispiel das geheime Liebesieben jenes dreißigjährigen Onkels von Misia, der so hingerissen der Sphärenmusik seines Geigenkastens zu lauschen vermochte. Schon seit seinem achtzehnten Lebensjahr war er der Geliebte der Gattin des Konservatoriumsdirektors, die – mit ihren fünfzig Jahren – in der Gesellschaft das Ansehen einer ehrwürdigen Matrone genoss. Der Beichtvater legte Misias Großmutter als Buße die Verpflichtung auf, den gehörnten Ehemann von der angeschlagenen Tugend seiner Gattin geziemend zu unterrichten, was in der kleinen Stadt Hall eine Wirkung wie von einem mittleren Erdbeben nach sich zog. Der Direktor verließ über Nacht mit Weib und Kind den liebenswürdigen Lebenskreis, in dem er gehofft hatte, sein Alter genießen zu können, worauf sich Misias Onkel am nächsten Tag in das Jagdhaus eines Freundes zurückzog. Dort gelang es ihm gegen Abend beim Gewehrreinigen, sich eigenhändig in jene Sphären zu befördern, deren Zaubertöne ihn so lange schon angelockt hatten.

    Die kleine Misia genoss solche Tragödien wie Zarembskys musikalisches Ende oder des Onkels dramatischen Tod mit großer Anteilnahme und folgte dem Vater nur widerwillig, als er sie und ihre beiden Brüder eines Tages aus der vertrauten Umgebung herausriss und im Vorüberfahren mit nach Paris nahm, wo er nicht nur in der Rue Vaugirard ein Haus mit Atelier erworben, sondern auch seine zweite Frau geheiratet hatte. Madame Natanson, eine reiche Witwe aus Warschau, brachte mit ihrem Vermögen allerdings auch zwei Kinder mit in die Ehe ein, einen epileptischen Sohn von achtzehn und eine schwindsüchtige Tochter von zwanzig Jahren, die beide auf Misia wie müde Greise wirkten. Misia konnte weder zu ihrer Stiefmutter noch zu deren uralten Sprösslingen ein auch nur erträgliches Verhältnis finden und weinte sich Nacht für Nacht in wachsender Sehnsucht nach ihrem Kinderparadies, dem Zauberhaus in Hall, die Augen aus.

    Trostsuchend und hungrig nach Liebe schmiegte Misia sich an den üppigen Busen der dicken Köchin oder versteckte sich mit ihrem jüngeren Bruder Ernest, der nicht weniger liebebedürftig war, in irgendeinem Winkel, wo sie ungestört die Mädchenbilder ihrer leiblichen Mutter betrachten konnten, die Ernest aus Hall mitgenommen hatte. In ihm lebte sie noch, er hatte ihre Stimme, ihr Lachen noch im Ohr und konnte stundenlang von ihrer Sanftmut, Schönheit und Zärtlichkeit erzählen. Stunden, in denen die verlassenen Kinder sich unter den Flügeln eines Engels geborgen fühlten, der unbemerkt hinter sie getreten war.

    Umso unglücklicher fühlte sich Misia, als Ernest eines Tages von der Stiefmutter aus nichtigem Anlass im Zimmer von deren schwindsüchtiger Tochter Claire eingeschlossen wurde. Während sie sich in der Küche bei der Köchin abgegriffene Bilder ihrer schönen Mama ansah, dachte sie angestrengt darüber nach, wie sie den Bruder aus seinem Gefängnis befreien könnte. Aber dahin führte kein Weg. Die Stiefmutter hatte den Zimmerschlüssel in die Rocktasche gesteckt, und Misia konnte dem Bruder ihre Anteilnahme nur hin und wieder durch verstohlene Klopfzeichen ausdrücken.

    Doch die wahre Katastrophe kam erst am nächsten Tag, als Ernest mit den üblichen Verwarnungen wieder in Freiheit gesetzt worden war. Die Stiefschwester Claire stellte nämlich fest, dass ihre kleine goldene Uhr verschwunden war, und beschuldigte Ernest laut schreiend des Diebstahls. Er leugnete alles, obwohl er Misia schon anvertraut hatte, er habe diese Uhr in der Langeweile seiner Gefangenschaft auseinandergenommen, die einzelnen Teile dann aber, da er sie nicht wieder zusammenfügen konnte, kurzerhand in den Ausguss geworfen.

    Die Stiefmutter berief einen Familienrat ein, vor dem der Junge niederknien und auf das Kruzifix und ein Bild seiner Mutter seine Unschuld beschwören musste. Nach langem, verstocktem Schweigen warf er das Kruzifix weg, küsste inbrünstig das Bildnis seiner Mutter und verfiel unter den eindringlichen Fragen der Stiefmutter in einen schrecklichen Weinkrampf. Misia, die das Martyrium ihres Bruders nicht mehr mit ansehen konnte, sprang vom Stuhl, lief aus dem Zimmer, aus dem Haus und immer die Straße entlang, in der Hoffnung, an deren Ende von den schützenden Armen der Großmutter umfangen zu werden. Indes, ihre Kinderbeine waren nicht schnell genug und die belgische Grenze viel zu weit von Paris entfernt. Bald schon von ihren Verfolgern wieder eingefangen, wurde sie der erbosten Stiefmutter vorgeführt, die ihr eine Art verschärfter Strafhaft auferlegte. Nach einer Tracht Prügel, die sie noch gemeinsam erlitten, wurden die Kinder voneinander getrennt. Ernest, der die Bilder seiner Mutter abliefern musste, kam in eines der strengsten Knabeninternate, die es in Paris gab, während die siebenjährigen Misia den knochigen Zugriff von Mademoiselle Maurice erdulden musste, einer boshaften alten Jungfer, über deren Mädchenpensionat in der Avenue Niel man sich die furchtbarsten Dinge erzählte. Schauergeschichten, die sich schnell bewahrheiten sollten. Misia wurde gleich nach Einlieferung in dieses Privatzuchthaus in ein dunkles kleines Zimmer eingeschlossen, das sie in den nächsten sechs Monaten nicht verlassen durfte. Ihr einziger Trost war es, aus dem schmalen Fenster in den schmutzigen Hinterhof hinauszuschauen und der Sonne nachzusehen, die fern über die Dächer wanderte. Dabei dachte sie an ihren Bruder Ernest, ob es ihm wohl auch so traurig erginge wie ihr, und an die Großmutter und deren Zauberschloss in Hall und ob es nicht am besten sei, aus dem Fenster zu springen. Dann wäre alles vorbei. Doch jedes Mal, wenn sie schon auf das Fensterbrett steigen wollte, kam in den Hof unten ein kleiner Mann, der mit der rechten Hand eine große Drehorgel hinter sich herzog und an der linken Hand einen schwarzen Pudel führte. Das große Hofkonzert begann jeweils mit einer schönen Pantomime, deren einzige Zuschauerin Misia war. Der kleine Mann umrundete feierlich seine Orgel, wobei der Pudel auf den Hinterbeinen hinter ihm her hüpfte. Dann gab es eine feierliche Verbeugung des Maestros, die der Pudel mit einigen Salti rückwärts begleitete. Diesem Vorspiel folgte das Konzert, eine Kaskade herrlicher Melodien, die Misia schon von der Köchin in Hall gehört hatte und darum begeistert mitsang. Am Schlussschwenkte der kleine Mann mit tiefer Verbeugung seinen großen Schlapphut, der Pudel machte Männchen, und Misia klatschte so lange in die Hände, bis die Künstler den Hof wieder verlassen hatten. Sie litt sehr darunter, dass sie sich nicht mit einem Geldgeschenk bedanken konnte, aber sie besaß keinen Pfennig. Und Pfennige wären für eine solche Darbietung ja auch nicht angemessen gewesen. Hier musste mit größerem Einsatz gedankt werden. Und so warf eines Tages Misia nach langem innerem Kampf das einzige Wertstück, das sie besaß, ein kleines Glücksschwein aus massivem Gold, in den Hof hinunter. Der Maestro bedankte sich nach einer Pause der Verblüffung mit einer noch tieferen Verbeugung, der Pudel setzte seine Salti noch höher an als sonst, Misia klatschte sich die Hände heiß, weinte auch ein bisschen, weil das goldene Schweinchen das einzige Andenken an ihre Mutter gewesen war, das sie besessen hatte, und war trotz allem so glücklich wie nie zuvor. Leider kamen die Künstler von diesem Tag an nie wieder. Misia starrte vergeblich in den Hof hinunter, der dem Winter zu immer dunkler wurde. Verklungen die Lieder, die Welt verstummt. Und Misia spielte abermals mit dem Gedanken, mit einem Sprung in die Tiefe diese armselige Welt für immer zu verlassen.

    Da kam in letzter Minute die Rettung von einer Seite her, von der sie nicht zu erwarten gewesen war. Bei aller Strenge gegen die Kinder war der Stiefmutter doch Misias musikalische Begabung aufgefallen. Zur Unterrichtung Misias verpflichtete sie daher zwei der bekanntesten Klavierlehrer, die sich keine eifrigere Schülerin denken konnten. Für Misia begann der Tag, wenn sie am Morgen den Klavierdeckel öffnete, und endete erst, wenn sie ihn am Abend wieder schließen musste. In kurzer Zeit schon, noch ehe sie lesen und schreiben gelernt hatte, spielte sie auswendig die zwei- und dreistimmigen Fugen von Bach fehlerlos und mit großem Verständnis.

    Wie im Fluge verging darüber der Winter, und Misia konnte es kaum fassen, dass ihr der Frühling zugleich mit der Freiheit die Rückkehr zur Großmutter brachte, bei der sie mit ihren Brüdern zusammen den ganzen Sommer verbringen sollte.

    Unbeschreiblicher Augenblick, da die Sehnsucht sich erfüllte, da Misia endlich wieder das geliebte Haus der ersten Kinderjahre betrat und Hand in Hand mit Ernest die große Treppe hinauflief, um sich in die Arme der Großmutter zu stürzen, die noch immer vom gleichen Parfum umwölkt war.

    Nichts hatte sich geändert: Musik aus allen Zimmern, Gelächter und Übermut der sonderbarsten Gäste, die sich wie eh und je nach drei dumpfen Gongschlägen im Speisesaal zu endlosen Gastmählern versammelten. Diners von einer Üppigkeit, wie sie der verstorbene Hausherr eingeführt und wie sie die Großmutter in jeder Einzelheit beibehalten hatte, obwohl ihre finanziellen Möglichkeiten dieser kulinarischen Verschwendung schon lange nicht mehr standhalten konnten. Noch immer hingen an den Fleischhaken im Keller Rinder-, Schweine- und Hammelhälften in langen Reihen, noch immer sprudelte der Burgunder aus großen Fässern in die Karaffen, stapelten sich die Champagnerflaschen in den Weinregalen.

    Und noch immer gehörte es zum Ritual des Hauses, dass die Großmutter die Nachmittagsstunden im intimen Gespräch mit ihrer besten Freundin, der Königin von Belgien, zubrachte. Die beiden alten Damen zogen sich in den Alkoven des Salons zurück, rührten viel Zucker in den Milchkaffee und erzählten sich kichernd wie kleine Mädchen den neuesten Gesellschaftsklatsch aus Brüssel und Paris. Leute, die draußen vorübergingen, beschworen dann, sie hätten durch das Fenster Papst Leo. als Dame verkleidet im Gespräch mit der Königin gesehen. So wie andererseits Rompilger behaupteten, jener Leo XIII., der im Petersdom vor ihren Augen die Messe zelebriert habe, sei in Wahrheit die als Papst verkleidete Madame Servais gewesen.

    Misia liebte es, sich, bevor die Königin kam, hinter der großen Portiere zu verstecken, von wo aus sie das Gespräch der beiden alten Damen belauschen konnte. Schaurig-schöne Liebesgeschichten gab es da zu hören. So zum Beispiel die Wahrheit über den tragischen Untergang der jungen Schauspielerin Julie Féguine, einer russischen Verwandten der Großmutter, deren überirdische Schönheit Misia von Anfang an mit stummem Staunen betrachtet hatte. Darum erschien es ihr auch selbstverständlich, dass sich Alexandre Dumas bei einem Besuch im Haus Servais in Julie verliebte, sie mit nach Paris nahm und in der Comédie Française in »Les Caprices de Marianne« die Hauptrolle spielen ließ. Das brachte der noch nicht Zwanzigjährigen ihres russischen Akzents wegen zwar keinen schauspielerischen, aber einen umso größeren Schönheitserfolg. Sie wurde die Geliebte des Prinzen von Sagan und war überzeugt davon, bald schon auch dessen Frau zu werden. In dieser Gewissheit konnte und wollte sie nicht glauben, was ganz Paris schon wusste, dass der Prinz sich entschlossen hatte, Fräulein Guzman-Blanco, eine reiche Erbin, zu heiraten. Als er am nächsten Tag zu ihr kam, saß Julie noch in der Badewanne. Ohne seinen Gruß zu erwidern, fragte sie ihn nach der Wahrheit des ihr zugetragenen Gerüchts von seiner baldigen Heirat, verlangte nichts weiter als ein kurzes Ja oder Nein. Er zuckte stumm die Achseln. Da nahm sie den schon bereitliegenden Revolver von ihrem Toilettentisch, setzte ihn an die Schläfe und drückte ab. Der Prinz sah eine Weile zu, wie sich das Badewasser rot zu färben begann, wie Julies aschblondes Haar immer dunkler wurde, und verließ schulterzuckend das Zimmer.

    Die hinter der Portiere lauschende Misia war einer wollüstigen Ohnmacht nahe, als sie sich vorstellte, wie die schöne Julie in ihrem eigenen Blut ertrinken musste. Noch ergreifender fand sie die von der Großmutter gern erzählte Geschichte vom Tod jener Tante, die als junge Schönheit den millionenschweren Kaufmann Coster in Gent geheiratet hatte, obwohl er um viele Jahre älter war als sie selber. »Nicht aus Liebe«, hörte sie die Großmutter sagen, »sondern aus Gründen der Versorgung.«

    »Sehr vernünftig«, meinte die Königin von Belgien. »Der alte Herr hatte nur einen Fehler«, fuhr die Großmutter fort, »er war – Majestät verzeihen mir meine Offenheit – tatsächlich impotent und interessierte sich mehr für seine Zigarren als für seine schöne junge Frau.«

    »Igitt«, sagte die Königin von Belgien. »Und sie hat sich einen jungen Freund genommen, nicht wahr?«

    » Hätte sie nur«, sagte die Großmutter, » aber dazu war sie nicht mutig genug. Sie wurde außerdem von einer anderen, sehr sonderbaren Leidenschaft ergriffen.«

    »Sonderbare Leidenschaft?« wiederholte die Königin von Belgien. »Erzählen Sie, meine Liebe.«

    »Wirklich sonderbar«, flüsterte die Großmutter und Misia musste sich anstrengen, um hinter dem Vorhang jedes Wort zu verstehen. »Meine Tochter sah sich eines Tages gezwungen, mit der Straßenbahn in die Stadt zu fahren, weil ihr Kutscher so betrunken war, dass er die Pferde nicht mehr einspannen konnte. Und ausgerechnet dort in der Bahn begegnete ihr die Liebe ihres Lebens. Ein Mann...«

    »Weiter, weiter, meine Liebe«, drängte die Königin von Belgien, »was für ein Mann?«

    »Der Straßenbahnschaffner«, fuhr

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