Die falsche Herzogin: BsB_Historischer Liebesroman
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Marie Cordonnier
Schreiben und Reisen sind Marie Cordonniers Leidenschaft. Immer wenn sie unterwegs ist, bekommt ihre Phantasie Flügel. In den Ruinen einer mittelalterlichen Burg hört sie das Knistern der Gewänder, riecht Pechfackeln und hört längst verstummte Lautenklänge. Was haben die Menschen dort gefühlt, was erlitten? Zu Hause am Schreibtisch lässt sie ihrer Phantasie freien Lauf. Der Name Marie Cordonnier steht für romantische Liebesromane mit historischem Flair. Marie Cordonniers bürgerlicher Name ist Gaby Schuster. Sie schreibt auch unter den Pseudonymen Valerie Lord und Marie Cristen. Mehr über sie gibt es auf www.marie-cordonnier.de zu lesen.
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Book preview
Die falsche Herzogin - Marie Cordonnier
Avranches
1. Kapitel – Rambouillet 1666
»Dieses Geschaukel ist unerträglich. Könnt Ihr mir sagen, wie lange es noch dauert, bis wir Pontchartrain erreicht haben?«
»Woher soll ich das wissen, meine Verehrteste? Der Kutscher meinte gegen Abend!«
»Aber es dämmert bereits, und draußen sieht man nichts als Bäume! Bäume! Bäume! Ich kann keine Bäume mehr sehen, Hercule! Unternehmt etwas! Sagt dem Kutscher, er soll schneller fahren!«
Violaine de Saint Hédé biss sich auf die Unterlippe und betrachtete angelegentlich einen winzigen Riss in der Polsterung der altertümlichen Kutsche, die jenes Geschaukel hervorrief, welches Madame de Ramortin seit geraumer Zeit auf die empfindsamen Nerven ging. Madame, die ehrenwerte, grämliche Gattin von Monsieur Hercule de Ramortin, seines Zeichens Steuereintreiber Seiner Majestät, des allergnädigsten König Ludwig von Frankreich, empfand diese Reise als Zumutung. Zu Hause in Avranches hatten sie die Wunder der Hauptstadt gelockt, der Hof des Königs, Paris. Doch die Tage der Reise, die schlechten Herbergen und die noch miserableren Straßen hatten die Dame missgestimmt und dem Unternehmen den Glanz genommen.
Violaine, die ihr in einer Mischung aus Zofe, Gesellschafterin und unbezahlter Sklavin zur Hand ging, war Zeugin ihres fortwährenden Missfallens und Opfer ihrer ständig schlechter werdenden Laune geworden. Dabei besaß Madame einen Umfang, der ihre Gestalt mit einer so mollig voluminösen Speckschicht polsterte, dass sie garantiert nicht so unter den Stößen der schlechten Straße litt wie das schmale, kindlich-zierliche junge Mädchen in dem einfachen, vielfach geflickten Wollgewand.
»Mein Riechsalz, Mademoiselle!«, forderte sie nun, und Violaine reichte ihr stumm und gehorsam den bemalten Glasflakon aus einem Korb, der in ihrer Reichweite stand. Ein betäubender Duft nach Kampfer, Minze und anderen aromatisch-scharfen Ingredienzen breitete sich aus, als die Dame das Fläschchen öffnete und unter ihrer breiten Nase hin und herbewegte.
»Diese Reise ist ein Albtraum«, jammerte sie dazu. »Könnt Ihr mir sagen, weshalb Euch Monsieur Colbert unbedingt persönlich sprechen will? Hätte es nicht genügt, einen Boten zu schicken?«
Hercule de Ramortin, den die hereinbrechende Dämmerung nicht weniger beunruhigte als seine Gattin, hatte das Gejammer der Dame mindestens so satt wie diese die Reise. Er war ein gedrungener, stämmiger Mann, dessen hochrote Gesichtsfarbe von einer gefährlichen Höhe des Blutdrucks kündete und dessen verkniffene, schmale Lippen sich nie zu einem Lächeln verzogen. Wenn Violaine ihn verstohlen ansah, musste sie daran denken, dass man ihn in Avranches und Umgebung hinter seinem Rücken einen Betrüger und Blutsauger nannte.
Es hieß, dass ein Gutteil seines Reichtums auf dunklen Wegen in seine Taschen gelangt war. Auch die letzten wenigen Sous des verstorbenen Hugo de Saint Hédé hatten dort eine neue Heimat gefunden, und Violaine erfreute sich an dem Gedanken, dass Monsieur Colbert, der kluge Handels- und Finanzminister Seiner Majestät, von diesen Machenschaften gehört haben könnte und den Verursacher deshalb zum Rapport bestellt hatte.
Violaine zählte die Stunden, die sie in Gesellschaft dieses, nur nach außen hin ehrenwerten Paares verbringen musste. Aber es war nun einmal ihre einzige Möglichkeit gewesen, Paris zu erreichen. Der Tod ihres Vaters hatte sie ohne das geringste Vermögen, ohne Hilfe und Unterstützung von Verwandten oder Bekannten, in einem baufälligen, kahlen Schloss zurückgelassen. Vor der Wahl stehend, ihren beiden Schwestern ins Kloster zu folgen oder Zuflucht bei Hélène, ihrer ältesten Schwester, zu suchen, hatte sich Violaines Waage zugunsten der weniger frommen Alternative geneigt.
Hélène de Saint Hédé hatte als Einzige der fünf Töchter des ehrbaren Grafen eine annehmbare Partie gemacht. Sie lebte mit ihrem wohlhabenden Gatten in Paris, und die wenigen Briefe, die ihre Familie manchmal erreichten, erzählten von einem Leben in Luxus und Sorglosigkeit. Sicher würde sie es sich angelegen sein lassen, ihre jüngste Schwester, die den Vater bis zu dessen Tod gepflegt hatte, bei sich aufzunehmen.
»Ihr könnt Euch ja bei Monsieur Colbert beschweren, sobald wir angekommen sind, meine Beste«, brummte in diesem Moment der Steuereintreiber. Wohl wissend, dass seine Angetraute in eitel Wohlgefallen und Komplimente zerfließen würde, wenn sie überhaupt je Gelegenheit erhielt, einen so wichtigen Mann wie den Generalintendant der Finanzen und des Königlichen Wirtschaftswesens zu begrüßen.
Auch Violaine hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass Madame den höher Gestellten mit kriecherischer Ergebenheit und den armen Seelen mit gnadenloser Härte begegnete. Sobald sie entdeckt hatte, dass die junge Comtesse de Saint Hédé außer ihrem alten und edlen Namen nicht einmal mehr einen ungeflickten, dritten Unterrock besaß, hatte sich ihr Ton dem Mädchen gegenüber gründlich geändert. Violaine hoffte nur, dass diese Fahrt endlich zu einem Ende kommen und sie die tyrannische Hexe endlich mit den Namen belegen konnte, die ihr angemessen waren.
Sie beschäftigte sich in Gedanken damit, eine entsprechende Liste solcher Bezeichnungen aufzustellen, und im ersten Moment hielt sie das laute, peitschende Geräusch, das diese
angenehme Beschäftigung unterbrach, für eine gebrochene Achse. Im selben Augenblick begann jedoch die Kutsche zu wanken und blieb mit einem Ruck stehen. Ihre Passagiere sahen sich noch fragend an, als sich die Ereignisse in so schneller Folge überstürzten, dass die junge Frau nicht mehr rekonstruieren konnte, was zuerst und was zuletzt passierte.
Das raue Gebrüll heiserer Stimmen bewies ihr indes, dass es sich um einen Hinterhalt handeln musste. Weitere Schüsse folgten, dann der schreckliche Aufschrei eines tödlich getroffenen Mannes. Eine abstoßende Erscheinung riss die Tür der Karosse auf und streckte als Erstes eine bedrohlich aussehende Pistole herein, die sich auf die drei bleichen Reisenden richtete.
»Raus mit euch!« Eine eindeutige Bewegung des matt schimmernden schwarzen Laufes unterstrich die Aufforderung. Hercule Ramortin kam so schnell auf die Füße, dass er seiner Gattin auf die raschelnden Taftröcke trat und Violaine zur Seite stieß. Schneller als die beiden Frauen hatte er begriffen, dass diese Galgenvögel keine Scherze machten. Ein grober Stoß beförderte ihn draußen in den Staub und befriedigte Violaines Sinn für Gerechtigkeit, der sich über seine rücksichtslose Feigheit empört hatte.
»Vorwärts, du auch Alte, und deine Magd! Oder müssen wir euch erst Beine machen?«
»Heilige Mutter Gottes, ein Überfall!« Madame de Ramortin fand endlich ihre Sprache wieder, und ihre Stimme wurde zunehmend schriller. »Ich wusste ja, dass wir besser nicht durch diesen Wald gefahren wären. Ich falle in Ohnmacht! Oooh, so helft mir doch!«
Madame hatte beträchtliche Mühe, sich selbst und ihre gewaltigen Röcke durch den engen Eingang der Kutsche zu zwängen, und Violaine verschwand schier hinter ihr, als sie ebenfalls nach draußen kletterte. Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihr das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Kutsche mit dem
Gepäck und den beiden Dienern lagen halb im Straßengraben. Der Kutscher hing mit einer bösen Wunde mitten in der Brust halb auf dem Bock und halb auf der Erde. Was mit dem zweiten Kutscher auf ihrem eigenen Gefährt passiert war, wollte sie lieber gar nicht wissen.
Vier zerlumpte Halunken waren bereits dabei, die Koffer und Kisten der Ramortins zu öffnen und nach brauchbarer Beute zu durchsuchen. Zwei andere nahmen sich den Steuereintreiber und seine Gattin vor. Ein gefährlich aussehender Dolch überzeugte die zeternde Dame, sich von der Perlenschnur zu trennen, die sie über ihrem violetten Samtgewand trug. Das passende Ohrgehänge legte sie nicht schnell genug ab, und der Gauner griff selbst zu.
Madame Ramortin schrie gellend auf, als er ihr den Schmuck abriss. Aber nur Violaine sah, gelähmt vor kaltem Entsetzen, auch das Messer durch die Luft zischen. Der Schrei brach mit einem hässlichen Gurgeln ab. Die Dame sank in einem Knäuel aus Samt und Blut zur Erde, während ihr Mörder nicht versäumte, auch die protzigen Ringe von den dicken Fingern zu ziehen.
Violaine schlug die Hände vor den Mund, aber schon ihr erstickter Aufschrei hatte genügt, die Aufmerksamkeit des Räubers auf sie zu lenken. Er ließ von seinem Opfer ab und trat näher. Der blutverschmierte Dolch blitzte vor ihren Augen, aber er stach nicht zu, sondern drückte lediglich mit der Spitze ihre Hände nach unten. Völlig unter Schock starrte das junge Mädchen in ein wüstes, vernarbtes Gesicht, dessen kleine, funkelnde Augen sie an eine bösartige Ratte erinnerten.
»Sieht so aus, als gäbe es bei diesem Vögelchen hier wenig zu ernten«, sagte er über die Schulter zu seinem Kameraden, der eben Monsieur Ramortin mit der gleichen fachlich-brutalen Zielsicherheit ermordet hatte wie jener es zuvor mit dessen Gemahlin getan hatte. »Aber immerhin können wir uns ein wenig mit der Kleinen amüsieren. Ein bisschen mager ist sie, aber sicher noch nicht oft gebraucht. Ein Jüngferchen, das sicher eine weiche Haut und sanfte Brüste hat. Packt das Zeug zusammen, schirrt die Pferde ab, und dann lasst uns mit ihr verschwinden.«
Violaine war unfähig, sich gegen den groben Griff zu wehren, der sie am Arm packte und davonschleifte. Sie konnte nicht einmal richtig gehen, ihre Füße verhedderten sich in den Röcken, und sie stürzte halb auf die Knie. Sie versuchte sich mit den Händen abzustützen. Die Brombeerranken, in die sie dabei fasste, brachten sie endlich zur Besinnung.
Von einem Herzschlag zum anderen wurde aus dem wehrlosen, zitternden Mädchen eine rasende Furie, die sich mit Händen und Füßen gegen den Mann wehrte, in dessen Gewalt es sich befand. Violaine hatte den Vorteil der Überraschung, so dass es ihr tatsächlich gelang, das scharfe Messer an sich zu bringen, das der Bandit wieder in seinen Gürtel gesteckt hatte.
Violaine stach blindlings zu. Wüstes Gebrüll verriet, dass sie getroffen hatte, und plötzlich war sie frei. Aber in dem Moment, als sie erneut die Waffe hob, peitschte ein Schuss und der Kopf ihres Widersachers verwandelte sich in eine schaurige Maske aus Blut und Tod.
Der Reiter, der in der Dämmerung des frühen Sommerabends mit zwei Pistolen plötzlich zwischen den Bäumen aufgetaucht war, fuhr wie ein Blitz unter die völlig überraschten Ganoven. Ein weiterer Schuss, und auch der Mörder von Madame Ramortin stürzte zu Boden. Der Rest der Bande ließ von seiner Beute ab und zückte die Messer und die Degen. Der Fremde warf die leeren Schusswaffen zu Boden, sprang mit einem mächtigen Satz aus dem Sattel und stellte sich der Übermacht.
Sogar Violaine konnte erkennen, dass sie es mit einem Manne zu tun bekamen, der den Kampf beherrschte. Innerhalb kürzester Zeit lagen zwei weitere Männer am Boden, und die übrig gebliebenen beiden flohen Hals über Kopf in den Wald hinein. Das junge Mädchen fand sich plötzlich allein mit einem Fremden und so vielen Toten, wie es sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Die plötzliche Stille des Waldes nach dem Klirren der Degen, dem Gebrüll und den Schmerzensschreien, dröhnte in Violaines Ohren. Sie starrte das blutige Messer in ihrer Hand an, und die Bäume begannen sich plötzlich vor ihren Augen zu drehen.
»Oh, nein! Ihr wart so tapfer, Ihr werdet diesen ersten Eindruck von Eurer Stärke nicht zerstören, indem Ihr jetzt in Ohnmacht fallt! Reißt Euch gefälligst zusammen, Jungfer!«
Violaine hörte die Worte wie durch einen Schleier. Ärgerliche Worte, die sie erbosten, die nahtlos zu den Ermahnungen ihres Vaters passten, der nie eine Beschwerde über das karge Leben zugelassen hatte, das er mit seinem letzten Kind in einer halbverfallenen Burg führte.
»Kein dummes Getue, Mädchen! Auf wen soll ich mich denn sonst verlassen, wenn nicht auf dich? Du bist eine Saint Hédé, vergiss das nicht!«
Es verwunderte sie nicht im Geringsten, dass man ihr nicht einmal erlaubte, in Ohnmacht zu fallen, wenn sie mit Mord und Totschlag konfrontiert wurde. Sie unterdrückte auch den ärgerlichen Ausruf, nach dem ihr zumute war. Stattdessen ließ sie den Dolch fallen und betrachtete ihre Hände, die, von den Dornenhecken zerkratzt und verletzt, so blutig und schmutzig waren, dass sie sich nicht einmal damit die schmerzenden Schläfen massieren konnte.
»So ist es gut«, lobte der Fremde, als sei sie eine preisgekrönte Jagdhündin, die soeben ein besonders schweres Kunststück vollbracht hatte. »Und nun sagt mir, wer diese armen Teufel sind?«
»Monsieur Ramortin und seine Gattin, Steuereintreiber Seiner Majestät des Königs in Avranches. Er war auf dem Weg zu
Monsieur Colbert. Heiliger Sankt Michael, sind sie alle tot? Die Diener und Kutscher auch?«
»Ja, die Kerle haben ganze Arbeit geleistet. Wartet hier, ich werde die Toten in die Kutsche legen. Es geht nicht an, dass sie liegen bleiben, bis die Gendarmen sich um den Überfall kümmern.«
Violaine säuberte sich mechanisch ihre geschundenen Hände mit einem kleinen Leinentuch, das sie in dem Täschchen an ihrem Gürtel trug. Jetzt endlich fand sie die Zeit, ihren Retter ins Auge zu fassen, der sie vor dem Tod und vor Schlimmerem bewahrt hatte. Sie wagte nicht daran zu denken, welch grauenvolles Schicksal sie in den Händen dieser Bande erlitten hätte.
Sie sah einen großen, braunhäutigen jungen Mann, der, in schwarzes Leder gekleidet, den Eindruck sehniger Kraft und Geschicklichkeit vermittelte. Er hatte beim Kampf seinen Hut verloren. Deshalb bemerkte sie, dass er das dichte, schwarze Haar ungewöhnlich kurz trug. Eben zerrte er die bedauernswerte Madame de Ramortin in die Kutsche, und Violaine erinnerte sich mit Schrecken, dass sie sich im Augenblick des Überfalles gewünscht hatte, die Reise möge zu Ende gehen und sie diese Dame nie Wiedersehen. Francine hätte sie für ihre unchristlichen Wünsche gescholten. Sie predigte stets Demut und Gehorsam. Beides fiel Violaine gleich schwer, aber jetzt bekreuzigte sie sich und murmelte ein Ave-Maria. Sie hatte einem kurzfristigen Verdruss nachgegeben, aber sie hatte der Unglücklichen beileibe nicht den Tod gewünscht.
»Ist Euer Gepäck dort dabei?«
Statt zu antworten fasste Violaine nach einer schäbigen, dünnen Stofftasche, die so ärmlich aussah, dass sie noch nicht einmal das Begehr der Räuber geweckt hatte. Sie enthielt alles, was sie besaß. Der Fremde runzelte die Stirn und kam mit merkwürdig schwerfälligen Schritten näher. Erst jetzt fiel Violaine auf, dass er ein Bein nachzog. Ebenfalls registrierte sie die Geste, mit der er an seinen rechten Oberschenkel fasste und kaum merklich zusammenzuckte.
»Ihr seid verletzt! Die Kerle haben Euch verwundet!«, rief Violaine.
»Nein, eine alte, nicht verheilte Wunde, die keine Kämpfe mag! Nun kommt, meine Kleine. Ich werde versuchen, die Kutsche nach Pontchartrain zu schaffen, ehe es Nacht wird. Ich nehme an, Ihr nehmt lieber bei mir auf dem Bock Platz, als bei Monsieur und Madame. Sie sind zwar sehr friedlich, aber es ist nicht jedermanns Sache, mit einem halben Dutzend Leichen zu reisen.«
Er hatte eine befremdliche Art die Dinge auszudrücken. Doch Violaine war viel zu erschüttert von den Ereignissen, dass sie dagegen zu protestieren wagte. Lediglich seine formlose Anrede weckte ihren Widerspruchsgeist.
»Mein Name ist Violaine de Saint Hédé, Monsieur!«
Sie erhielt ein so flüchtiges Lächeln, dass sie es sich vermutlich nur eingebildet hatte, aber die Antwort bewies, dass er ihren Einspruch glatt überhört hatte.
»Hinauf mit Euch, Kleine! Ich möchte nicht das Risiko ein gehen, dass unsere flüchtigen Freunde Verstärkung herbeiholen.«
Sie wurde ausnehmend unhöflich um die Taille gepackt und auf den Kutschbock verfrachtet. Es gelang ihr gerade noch, ihre Tasche festzuhalten, damit sie nicht zurückblieb. Dann saß ihr Retter bereits neben ihr, sortierte die Zügel und trieb die Pferde an. Seinen schwarzen Hengst hatte er am Wagen festgebunden, und das offensichtlich hervorragend geschulte Tier folgte dem Gefährt gehorsam.
Der Fremde hatte seinen Hut wieder tief in die Stirn gedrückt und wandte Violaine ein scharfes Raubvogelprofil zu. Tief eingegrabene Falten in seinem Mundwinkel verstärkten den Eindruck von Härte und Konzentration. Er wirkte älter als er vermutlich war. Hatte er Schmerzen? Violaine konnte sich des
Eindrucks nicht erwehren. Weshalb sonst sollte er die Lippen so aufeinander pressen?
»Lasst mich Eure Wunde versorgen«, bot sie an. »Ich verstehe etwas davon. Ich habe meinen Vater bis zu seinem Tod gepflegt, und er hat mir eine leichte Hand im Umgang mit Verletzungen nachgesagt.«
»Ihr könnt Eure Samariterdienste tun, wenn wir in Sicherheit sind, Kleine!«, bekam sie zur Antwort. »Der Wald von Rambouillet ist keine Gegend, in der man sich nach dem Einbruch der Dunkelheit länger aufhalten sollte. Seit der König mit einer ausgebildeten Polizeitruppe gegen das Gesindel in Paris vorgeht, haben sich viele Banden wieder auf die Räuberei der Landstraßen verlegt. Es ist gefährlich, ohne Eskorte unterwegs zu sein. Wie es aussieht, hat Euer Freund der Steuereintreiber am falschen Ende gespart.«
»Ich muss Euch danken«, besann sich Violaine endlich auf ihre Erziehung, die anfangs von Francine von übergroßer Frömmigkeit geprägt und später von ihrem Vater größtenteils vernachlässigt worden war. »Ihr habt mir das Leben gerettet!«
»Endgültig wohl erst, wenn wir Pontchartrain mit heiler Haut erreichen«, warnte er sie vor übereilter Erleichterung, und Violaine verstummte bestürzt.
Sie umklammerte ihren Sitz mit beiden Händen und suchte bang den Waldrand zu beiden Seiten ab. Jeder Schatten, jeder Umriss verbarg plötzlich Gefahr. Erst als sich nach geraumer Zeit die Bäume lichteten und sie das freie Feld erreichten, wagte sie sich zu entspannen. Besonders erlöst fühlte sie sich allerdings dennoch nicht. Die schrecklichen Szenen des Überfalls standen vor ihren Augen, und sie presste im Schutz der dunklen Wollröcke ihre zitternden Knie aneinander.
Sie hatte in den vergangenen 19 Jahren ein sehr bescheidenes und ärmliches, aber dennoch behütetes Leben geführt. Niemals war sie mit nackter Gewalt oder gar mit sterbenden und kämpfenden Menschen konfrontiert worden. Mit Ausnahme ihrer Schwestern, ihres Vaters und der wenigen Bauern, die das karge Land bewirtschafteten, hatte sie kaum Menschen gesehen. Sein Stolz hatte es dem Marquis verboten, die Freundschaften und Kontakte zu pflegen, die seiner Stellung angemessen gewesen wären. Dass ihm zudem auch die Mittel dafür fehlten, ging niemand etwas an.
Sein Tod hatte Violaine zwar die Freiheit geschenkt, aber nicht die Mittel, dieses Geschenk zu genießen. Sie hatte geahnt, dass es nicht einfach sein würde, wenn sie ihre Heimat und ihre Sicherheit aufgab. Aber dass dieser Entschluss ihr Leben bedrohen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Alles schien mit einem Schlag so verworren und gefährlich geworden zu sein. Sie wusste nicht einmal den Namen des Mannes, der sie durch die sinkende Dämmerung fuhr.
»Ihr habt Euch noch nicht vorgestellt«, platzte sie denn auch so mahnend heraus, als befänden sie sich bei einem Empfang bei Hofe und nicht auf einer Kutsche, die man mit Fug und Recht als Leichenwagen hätte bezeichnen können.
»Verzeiht meine Unhöflichkeit!« Unter dem Schatten der schwarzen Hutkrempe blitzten weiße Zähne, und dieses Mal war das Lächeln unverkennbar. »Mein Name ist Raimond de Marivaux, Vicomte de la Chaise. Zu Euren Diensten, Mademoiselle. Ihr werdet mich nicht so geschliffen wie die Kavaliere des Hofes finden. Ich bin Soldat, kein Chevalier.«
»Soldat? Wir führen doch keinen Krieg?«, wunderte sich Violaine.
»Über dem Meer schon«, entgegnete der Vicomte ernst. »Ich habe die letzten Monate in Algerien beim Kampf gegen die Heiden verbracht. Das hat sich ein wenig negativ auf meine höfischen Umgangsformen ausgewirkt. Aber wenn Ihr ehrlich seid, meine Kleine, dann habt Ihr vorhin auch keinen Höfling, sondern einen Krieger gebraucht.«
»Ihr macht Euch lustig über mich«, murmelte Violaine gekränkt.
Sie besaß nicht mehr als diesen sehr empfindlichen Stolz, und der hatte die kaum verhüllte Verachtung des Steuereintreiberpaares schon schwer ertragen. Doch die Lässigkeit dieses Mannes erboste sie erst recht. Etwas in ihr verlangte merkwürdigerweise danach, von ihm bewundert und respektiert zu werden. Welch unsinnige Idee, rief sie sich selbst zur Ordnung und straffte die schmalen Schultern unter ihrem Kleid so sehr, dass die mürben Nähte bedenklich knirschten.
»Ist Euch schon einmal aufgefallen, dass Zorn einen Menschen länger aufrecht erhält als Trost?«, fragte er, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Trost schwächt, aber Zorn gibt Kraft und verleiht die Energie, auch ausweglose Situationen zu meistern.«
»Wollt Ihr mir ein Leben im Zorn empfehlen?« Violaine fand diesen Mann äußerst merkwürdig. »Die Kirche lehrt uns christliche Demut und Bescheidenheit!« Zumindest hatte Francine das behauptet, ehe sie den Schleier nahm.
»Und heiligen Zorn!«, fügte er hinzu und ließ die Peitsche über den Pferderücken knallen. Es lag etwas in seiner Stimme, das Violaine schweigen ließ. Was für ein seltsamer, eigenartiger Mann!
2. Kapitel
Das Aufsehen, das Monsieur Ramortin und seine Gattin in der Herberge zum >Goldenen Kreuz< in Pontchartrain als Tote erregten, hätte beiden im Leben höchst geschmeichelt. Der Wirt, Maître Thibaud, schickte sogleich einen Knecht nach dem Gendarmerie-Posten und einen zweiten zum Pfarrer, damit die Totengebete gesprochen wurden. Die junge Dame, die das Gemetzel dank der Hilfe des Vicomte überlebt hatte/bekam das beste Zimmer im ersten Stock des Hauses und wurde von der Wirtin persönlich versorgt.
Obwohl keine besondere Freundin von Wasser, sah die Dame Emilie ein, weshalb Mademoiselle de Saint Hédé geradezu versessen auf einem Bad bestand. Sie wollte sich den Schmutz der Ereignisse abwaschen. Wer konnte schon sagen, was dem armen Ding zugestoßen war, so zerzaust und bleich wie es aussah.
Violaine bedankte sich bei der Wirtin für die Fürsorge, schickte die Frau aber letztendlich so energisch aus dem Zimmer, dass diese in der Küche