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Mädchen aus gutem Hause: BSB_Roman einer Jugendliebe
Mädchen aus gutem Hause: BSB_Roman einer Jugendliebe
Mädchen aus gutem Hause: BSB_Roman einer Jugendliebe
Ebook279 pages3 hours

Mädchen aus gutem Hause: BSB_Roman einer Jugendliebe

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About this ebook

Dies ist die bewegende, spannende Liebesgeschichte zweier junger Menschen. Erschütternde Begebenheiten, die dem Autor immer wieder zugetragen wurden und die keinen so glücklichen Ausgang nahmen wie in diesem Roman, hatten ihm gezeigt: Eltern sind oft nicht so liberal und tolerant, wie sie sich selbst gerne sehen?
Gibt es keine Vorurteile mehr gegenüber 'Kinderlieben', 'Schülerlieben', unehelichen Schwangerschaften?
Dass es damit vorbei sei, war und ist die Hoffnung, die diesem Roman auf den Weg gegeben wird.
Birgit und Uwe kämpfen um ihr Glück. Mit welcher Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit sie das zum guten Ende bringen, hält diesen Roman, der vor fast 50 Jahren zum ersten Mal erschien, jung.
LanguageDeutsch
Release dateMay 5, 2015
ISBN9783864661143
Mädchen aus gutem Hause: BSB_Roman einer Jugendliebe

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    Mädchen aus gutem Hause - Felix Lützkendorf

    978-3-86466-114-3

    Der Autor

    Felix Lützkendorf wurde 1906 in Leipzig geboren. Dort und später bei der Berliner Nachtausgabe war er journalistisch tätig. Als junger Lyriker und Dramatiker erregte er Aufsehen und wurde mehrfach ausgezeichnet. Er erhielt den Schiller-Preis der Stadt Leipzig 1932/33; den Biennale-Filmpreis 1937, den Dramatikerpreis der Kammerspiele München 1962. Für die großen Regisseure der Zeit – wie Gustaf Gründgens und Erich Engel – schrieb er die Drehbücher zu unvergesslichen Filmen. In seiner Romantrilogie »Jahre des Zorns«, zeichnet er die Geschichte seiner Generation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf.

    Die folgenden Romane des Autors erscheinen bis 30. Juni 2015 bei BsB_BestSelectBook_Digital Publishers und werden überall erhältlich sein, wo es E-Books gibt.

    Ich Agnes, eine freie Amerikanerin

    Milada Eine Liebe in Prag

    Kein Frühling kommt zu spät

    Mädchen aus gutem Hause

    Die schöne Gräfin Wedel

    Auf Wiedersehn Janine

    Prusso und Marion

    Die Muse von Paris

    Florentiner Spitzen

    Feuer und Asche

    Märzwind

    Franca

    Der Roman

    Dies ist die bewegende, spannende Liebesgeschichte zweier junger Menschen. Erschütternde Begebenheiten, die dem Autor immer wieder zugetragen wurden und die keinen so glücklichen Ausgang nahmen wie in diesem Roman, hatten ihm gezeigt: Eltern sind oft nicht so liberal und tolerant, wie sie sich selbst gerne sehen.

    Gibt es keine Vorurteile mehr gegenüber »Kinderlieben«, »Schülerlieben«, unehelichen Schwangerschaften?

    Dass es damit vorbei sei, war und ist die Hoffnung, die diesem Roman auf den Weg gegeben wird.

    Birgit und Uwe kämpfen um ihr Glück. Mit welcher Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit sie das zum guten Ende bringen, hält diesen Roman, der vor fast 50 Jahren zum ersten Mal erschien, jung.

    1.

    Sie werden mir mein Kind nehmen. Sie werden es versuchen. Aber sie können es nicht. Ich werde es niemals zulassen. Niemals.

    Heute ist es das dritte Mal – nun weiß ich es sicher. Es gibt keine Zweifel mehr. Und ich werde es ihnen sagen müssen:

    Meinen Eltern, die mich noch immer wie ein Kind behandeln. Meiner Mutter, die keine Ahnung hat. Meinem Vater, der es nicht glauben wird. Es wird wie eine Explosion sein, die alles zerstört – unser ganzes friedliches Leben zu Hause, wie es bisher war. Aber ich kann nicht anders. Ich werde verrückt sonst. Ich muss die Wahrheit sagen.

    Als ich es das erste Mal merkte, als ich zum ersten Mal ganz sicher war, blieb mir das Herz stehen. Ich dachte, ich müsste tot umfallen. Aber so schnell geht es nicht mit dem Umfallen. Und ich wagte mich nicht nach Hause.

    Ich lief und lief. Immer am Fluss lang. Die Blätter fielen von den Bäumen in den Novembernebel hinein. Ich dachte, wär' ich doch auch so ein Blatt, das der Wind verweht. Irgendwohin. Spurlos.

    Aber aus der Welt hinauslaufen kann man nicht. Und ich musste umkehren. Ich dachte, alle Leute auf der Straße müssten es mir ansehen. Aber niemand kümmerte sich um mich. Ich dachte, auch meine Mutter müsste es mir ansehen. Aber nichts. Sie fragte nur, wo ich so lange gewesen sei. Ich habe irgendwas gelogen, und die Sache war ausgestanden.

    Aber nur bis jetzt – nur bis heute.

    Die Zeit der Lügen ist vorbei.

    Ich muss die Wahrheit sagen. Die Wahrheit, die in mir wächst – oder ich ersticke an mir selber.

    Ob sie hier in der Klasse schon etwas wissen?

    Ob sie es mir nur nicht sagen?

    Mädchen sind grausam und schadenfroh.

    In den letzten Tagen, wenn zwei hinter mir flüsterten oder drei andere in einer Ecke irgendwo laut lachten – immer dachte ich, dass sie mich meinten, von mir flüsterten, über mich lachten.

    Aber ich glaube es nicht. Sie können nichts wissen von meiner Wahrheit. Dieser Wahrheit, dass ich kein Kind mehr bin. Sondern eine Frau. Seit drei Monaten schon. Eine Ewigkeit von Angst.

    Nur Inge Westmann vielleicht, die mich immer von der Seite ansieht, die mich kennt, wie eben eine Freundin die andre kennt. Sie ist mit allen Wassern gewaschen. Sie fühlt auch das Ungesagte voraus. Auf ihren Lippen seh' ich die Frage, die sie nie ausspricht. Ob sie es ahnt?

    Ich glaube, sie weiß es.

    In einer Stunde wird es auch meine Mutter wissen. Ich werde es ihr sagen, bevor Vater zum Essen nach Hause kommt. Ich sehe sie vor mir. Sie wird ganz blass werden. Sie wird sich am Tisch festhalten. Vielleicht wird sie sogar anfangen zu weinen. Das ist schrecklich. Ich kann ihre Tränen nicht ertragen.

    Und dann wird sie hingehen und wird es meinem Vater sagen. Denn sie ist nichts ohne ihn. Sie lebt nur für ihn und von ihm – sie ist sein Schatten.

    Dann wird sie wieder herauskommen und wird mir sagen, dass er mich sprechen will. In seinem Zimmer, das mehr eine dunkle Höhle ist. Bücherwände bis unter die Decke, und ich werde hineingehen. Wie im Gericht, wo er seine Urteile über andere Menschen spricht, die sich gegen das Gesetz vergangen haben, wird er sehr aufrecht hinter dem großen Eichentisch sitzen und mir fremd entgegensehen. So fremd und streng wie ich ihn im Gericht gesehen habe in seiner schwarzen Robe.

    Da hab ich mich manchmal gefragt, woher er den Mut nimmt, andere Menschen zu verurteilen. Fremde Menschen, die von den Wächtern vor ihn hingestellt werden. Er sagt immer, dass er das Gesetz verteidigen müsse, das Übereinkommen, nach dem die Menschen zu leben versuchen, die Ordnung, die sie sich selber gegeben haben.

    Ich aber – ich könnte niemals einen anderen verurteilen. Die Kraft hätte ich nicht. Ich könnte nur verstehen und verzeihen. Aber damit könnte man wohl kein Richter sein. So wie er: Amtsgerichtsrat Dr. Gerhard Steenberg, Strafrichter am Amtsgericht II – der mein Vater ist. Und jetzt seine Brille absetzt und mich ansieht mit nackten Augen und legt seine Hände ineinander und fragt mich nur:

    »Ist das wahr?«

    Und ich werde nicken.

    Und er wird fragen: »Wer?«

    Und ich werde nicht antworten.

    Er wird noch einmal fragen. Sehr laut. Er wird schreien. Ich höre seine Stimme, wie sie sich überschlägt:

    »Wer ist der Kerl?«

    Und ich werde es nicht sagen. Ich werde es niemals sagen – und wenn sie mich totschlagen. Niemals. Nein, ich weiß nicht, ob ich nach Hause gehen kann. Ob ich die Kraft habe, das alles durchzustehen, was kommen wird.

    »Wer ist der Kerl?«

    Nein – Nein – Nein!

    Ich weiß nichts mehr. Alles dreht sich vor meinen Augen. Alles ist schwarz.

    Ich falle, ich falle.

    Ich . . .

    Birgit Steenberg kippte in der Bank vornüber. Ihre Stirn schlug mit dumpfem Knall auf der Tischplatte auf.

    Dreißig blonde und braune Mädchenköpfe fuhren herum. Starrten mit aufgerissenen Augen die Bewusstlose an, deren blondes Haar ihr Gesicht verbarg.

    Frau Studienrat Dr. Armgard Hilthaus, fünfundvierzig, Hauptfächer Deutsch, Französisch und Geschichte, Klassenlehrerin der 10c, allein lebend mit dreihundert Schallplatten klassischer Musik, hob erschrocken ihren Vogelkopf und schaute über die Brillengläser hinweg zur Schülerin Steenberg hin: »Birgit? Mein Gott, was haben Sie denn?«

    Es dauerte einige Zeit, bis Dr. Hilthaus auf die Beine kam. Ihr Herz war unvorhergesehenen Zwischenfällen dieser Art immer weniger gewachsen. Inzwischen hatte sich Inge Westmann, die neben Birgit saß, schon über die Freundin gebeugt, hob mit beiden Händen behutsam ihren Kopf auf und strich ihr das Haar aus der heißen Stirn. Birgits Augen waren geschlossen, sie schien kaum zu atmen, die Arme hingen schlaff herunter. Einige Mädchen setzten sich auf die Tische, um besser sehen zu können. Aber keines sagte ein Wort.

    Frau Dr. Hilthaus, die inzwischen herangekommen war, legte ihre knochige Hand auf Birgits Stirn: »Sie ist ganz heiß. War sie denn krank?«

    »Nein, sie hat mir nichts gesagt.«

    Inge schob behutsam ihren Arm unter Birgits Kopf.

    »Machen Sie ihr mal den BH auf, dass sie besser atmen kann.«

    »So was trägt sie nicht«, sagte Inge verächtlich in den scharfen Atem der Lehrerin hinein. »Aber ich weiß was.«

    Sehr behutsam zog sie ihren Arm wieder zurück und nahm die kleine Krokotasche unter der Bank hervor. Harrys Geburtstagsgeschenk. Und es war ihr schnuppe, dass die Lehrerin die Cremedosen, den Parfumsprüher, den Lippenstift und die Zigaretten darin sah. Ganz offen legte sie die Tasche auf den Tisch, sprühte etwas Kölnisch Wasser auf das Spitzentaschentuch und hielt es Birgit nah unter die kleine, trotzige, ein wenig aufgeworfene Nase. Atemlose Stille.

    Alle starrten in Birgits Gesicht.

    Plötzlich zuckten ihre Hände.

    Ihre Lippen bewegten sich. Flüsterten unhörbare Worte.

    Dann schlug sie die Augen auf. Sah verwirrt in die großen Brillengläser der Lehrerin, in denen sich das Licht brach. So nah vor ihr. »Was haben Sie denn, Birgit? Sind Sie krank? Haben Sie . . .«

    Birgit schüttelte den Kopf.

    »Aber Sie haben Fieber, wie?«

    Birgit wandte sich vor dem scharfen Atem der Lehrerin ab:

    »Nein, ich weiß nicht, mir wurde plötzlich schwarz vor den Augen.«

    »Wollen Sie lieber nach Hause gehen? Dann lasse ich ein Taxi rufen.«

    »Nein«, sagte Birgit unerwartet heftig. »Nur ein paar Minuten an die Luft. Dann wird mir schon besser.«

    »Gut, dann gehen Sie«, sagte Frau Dr. Hilthaus erleichtert, dass es nichts Schlimmes zu sein schien. »Ich gehe mit«, sagte Inge Westmann und stand schon auf. Ging um die Bank herum und nahm Birgit fest unterm Arm. Die Mädchen sahen ihnen nach, wie sie hinausgingen. Auch Frau Dr. Hilthaus über die Brillenränder hinweg. Birgit fühlte die Blicke im Nacken wie Feuer. Und es war schlimmer, als wenn sie gelacht oder geflüstert hätten.

    Ihre Absätze hämmerten den langen Gang und die große Treppe hinunter.

    Inge schwieg. Aber Birgit fühlte die Fragen, die ihr auf den Lippen brannten.

    Unten stießen sie die Tür auf und traten in den Wind hinaus. Novemberwind – nass und kalt. »Wunderbar«, sagte Birgit mit einem tiefen Atemzug. Sie gingen unter den alten Platanen hin. Deren schwere nasse Blätter klatschten vor ihnen in den Schulhofsand.

    »Warum wolltest du nicht nach Haus? Hätt' ich auch gleich mit blaugemacht. Wenn's die Schildlaus dir schon anbietet.« Das war der Spitzname, den die Schülerinnen eines anderen Jahrgangs aus Hilthaus gebildet und überliefert hatten. Nicht sehr witzig, aber gut zu sprechen.

    »Dann will meine Mutter wissen, was los ist«, sagte Birgit. »Nach Hause komm ich noch früh genug.«

    »Und was ist nun wirklich los?« fragte Inge.

    Birgit sah geradeaus: »Was soll denn los sein?«

    »Das, was du fragst«, sagte Inge und hielt Birgit fester am Arm.

    Birgit machte sich los: »Du bist verrückt.«

    Inge lachte: »Na, umso besser.«

    Und sie blieb hinter der kleinen Bretterbude stehen, in der der Hausmeister im Sommer Milch ausschenkte. »Bleib hier. Da sieht niemand, wenn ich rauche.«

    Sie nahm ihr Etui aus der Krokotasche, dazu das kleine Feuerzeug mit der Uhr, das Harry ihr mitgebracht hatte.

    »Willst du auch eine?«

    »Danke«, sagte Birgit.

    Inge nahm ein paar gierige Züge und sagte dann mit ehrlicher Freude: »Mensch, mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich dachte schon, es hätte geklingelt.«

    »Du bist verrückt«, sagte Birgit.

    »Vielleicht«, lachte Inge. »Aber damals warst du verrückt. Damals bei dem Sommerfest im LSC. Wie du getanzt hast mit dem großen Schwarzen da. Ihr seid ja richtig ineinander reingekrochen. Da hab ich dich zum ersten Mal verknallt gesehen. Und wie! Hieß der nicht Uwe?«

    Sein Name aus Inges Mund drang wie eine Flut von Glück und Wärme in Birgit ein. Ihre Knie zitterten. Sie fühlte ihr Herz bis in die Fingerspitzen. Ja, dieser Abend im August, als Uwe auf sie zukam, als er sie einfach an der Hand nahm und zu der Tanzfläche unter den Lampions führte. Als er seinen Arm um sie legte und sie zu tanzen begannen.

    Damals begann auch ihr Leben. Mit ein paar Stolperschritten. Er hielt sie fester, und seine Augen lachten über ihr. Diese wunderbaren Augen. Dunkelblau unter dem schwarzen Haar. Seine Zähne. Dieser Mund. Dieses Lachen. Mit einem Mal war sie ganz sicher. Und sie tanzten, als seien sie aus einem Stück.

    »Siehst du den eigentlich noch? Oder ist das aus?«

    »Ein paar Mal haben wir uns getroffen und dann -« sagte Birgit und schwieg. Niemand brauchte zu wissen und niemand wusste es, dass sie sich fast täglich mit Uwe getroffen hatte. Sie waren auf den Rädern Hand in Hand am Fluss entlanggefahren. Hatten in den Wiesen gelegen. Ihr Kopf in seinem Arm. Hatten in die Wolken geschaut. Gesprochen, geschwiegen und nur gewusst, dass sie sich liebten. Ohne Grenze, ohne Widerstand. So, wie es auch heute noch war. Aber vom ersten Tage an hatte Birgit das Gefühl gehabt, die große Wahrheit dieser Liebe verhüllen zu müssen, verbergen zu müssen. Aus Angst vor der Feindschaft der Welt. Und sie hatte ein Raffinement beim Verbergen dieses Geheimnisses entwickelt, dass sie manchmal selber staunte.

    »Er sieht ja gut aus, dieser Uwe. Aber wenn du es recht bedenkst – so 'ne Schülerliebe ist doch kalter Kaffee. Geld haben die nicht und auch sonst nichts. Reden vom lieben Gott, oder von Büchern, vom Sport oder von Autos, die sie nie haben werden. Und immer musst du Angst haben, weil die Burschen so blöd sind. Damals hatte ich wirklich Angst, du kämst von dem nicht mehr los.«

    »Ach«, sagte Birgit. »Das fängt an und hört auf – du weißt doch, wie das ist.« Aber sie wusste, dass es niemals aufhören durfte, oder das Ende ihrer Liebe würde das Ende ihres Lebens sein. Und abermals fühlte sie dieses Ziehen im Leib. Aber es war kein Schmerz wie vorhin in der Klasse. Es war ein zärtliches Strömen, das bis zum Herzen aufstieg. Sie musste sich mit beiden Händen an der Bretterwand festhalten, um es ertragen zu können. Auch Glück wirft einen um.

    »Mit solchen Jungs gibt's immer Komplikationen«, sagte Inge in das Anzünden der zweiten Zigarette hinein. »Bei meinem Bruder war damals einer in der Klasse. Ich glaube, der war sogar Primus. Der hatte was mit 'nem Mädchen aus der Nebenklasse. Die waren noch gemischt damals. Da kriegten sie raus, dass die ein Kind kriegte von dem. Ich sage dir, diese Jungs sind wie Kinder. Die wissen einfach nichts. Da haben sie ihn von der Schule gefeuert. Der durfte sein Abitur nicht mehr machen. Aber das war so ein Ehrgeiziger, weißt du. Hat sich das Leben genommen. Na, wenn ich denke, mir passiert so was. Ich würde ja die Wand hochgehen.«

    Birgit schloss die Augen. Auch Uwe war voller Ehrgeiz. Er stand kurz vor dem Abitur. Wartete ungeduldig auf die Universität. Er wollte Arzt werden. Ein großer Arzt. Darüber konnte er stundenlang sprechen. Ob er sich auch das Leben nähme, wenn sie ihn von der Schule weisen würden? Es wäre ihm zuzutrauen. Und ihr Vater würde wohl dafür sorgen, dass es zu dieser Schulverweisung kommen würde, wenn er von Uwe wüsste. Aber er wird es niemals wissen. Niemals. Seit sie das Kind in sich fühlte, war sie Uwe überlegen. Daran gab es keinen Zweifel. Er kam ihr manchmal vor wie ein Kind, das sie schützen musste. Am meisten vor sich selber. Nur darum allein hatte sie ihm wohl niemals etwas davon gesagt, wie es wirklich um sie stand. Er konnte ihr nicht helfen. Sie musste mit ihrer Wahrheit allein fertig werden. Und das wollte sie auch. Obwohl sie den Weg dahin nicht sah – der lag im Dunkel vor ihr.

    »Da ist Harry nun mal besser«, sagte Inge. Er hat Geld. Er schenkt einem, was man braucht. Und vor allem braucht man bei ihm keine Angst zu haben. Du weißt schon. Da ist er prima. Du solltest wirklich mal mitkommen zu ihm. Er fragt schon immer nach dir. Für einen Freund. Klaus Reimers, der hat noch mehr Geld als Harry. Da wären wir zu viert. Wär' doch Klasse – aber du hast was gegen Harry, wie?«

    »Er ist mir zu blöd«, sagte Birgit.

    Sie kannte diesen Harry, wie ihn alle Mädchen in der Schule kannten. Er war etwa dreißig Jahre alt, trug die elegantesten Anzüge, fuhr die schnellsten Wagen und war in allen möglichen Klubs zu Hause. Er war der Sohn eines reichen Maschinenfabrikanten und hatte selber noch nie gearbeitet in seinem Leben. Sein Hobby waren sechzehnjährige Mädchen. Darum stand sein Wagen seit Jahren schon immer hinter der Schule. Aus jedem Mädchenjahrgang, der mannbar wurde, suchte er sich eine neue Favoritin aus. Aber bei Inge schien es diesmal länger zu dauern. Die hatte ihn ziemlich fest an der Krawatte.

    »Na ja, blöd ist er«, sagte sie lässig. »Manchmal könnt' ich mich totlachen über ihn. Oder ihm eine knallen. Aber er tut, was ich will. Das ist ja die Hauptsache. Du solltest dir das wirklich mal überlegen. Sein Freund, dieser Klaus -«

    »Da ist nichts zu überlegen«, sagte Birgit. »Lass mich in Ruhe mit diesen alten Knackern.«

    »Na hör mal – so alt sind die nicht. Dreißig. Das ist unser Jahrgang, find ich. Kann ich noch eine rauchen oder . . .?«

    »Lass uns wieder reingehen«, sagte Birgit. Sie konnte Inges Gequassel nicht mehr ertragen.

    »Geht's dir wirklich besser? Du siehst immer noch aus wie Milchreis mit Himbeersaft. Guck mal in den Spiegel hier. Gesicht ganz weiß, und die Nase rot wie -«

    »Ich fühl mich ganz wohl«, sagte Birgit, stieß sich von der Bretterwand ab und ging zum Hoftor hin. Der Wind hob sie auf und trug sie fast über den Hof. Inge blieb hinter ihr zurück. Und Birgit war das recht so. Auch diese Freundschaft mit Inge war vorüber. Für immer. Sie wusste es in diesem Augenblick.

    Als sie in die Klasse kamen, waren aller Augen auf Birgit gerichtet. Es schien, als ob sie alle etwas an ihr zu entdecken suchten, was nicht zu entdecken war. Die Gedanken brodelten hinter den Mädchenstirnen. Birgit ging durch das Schweigen hin zu ihrer Bank.

    »Geht es besser?« fragte die Lehrerin über die Brille hinweg.

    »Ja, danke«, sagte Birgit und setzte sich. Fast gleichzeitig mit Inge, die von der anderen Seite kam. Im Augenblick, als sie in die Bank hineinrutschte, fühlte sie abermals diesen Schmerz. Als ginge ein Riss durch sie hin. Am liebsten hätte sie die Fäuste auf ihren Leib gepresst. Die Luft in der Klasse war wie dicke Watte. Kaum zu atmen.

    Sie fühlte die Dunkelheit schon wieder auf sich zukommen. Aber sie musste durchhalten diesmal. Sie zwang sich zum Lächeln, als die Brillengläser der Schildlaus groß auf sie zukamen.

    »Ich erkläre der Klasse gerade die Situation, die allgemeine Lage beim Jahreswechsel zum Jahr 1000. Ganz Europa, die ganze Christenheit glaubte damals fest an den Untergang der Welt.«

    Birgit nickte und hielt mit Mühe ihre Augen auf. Die Lehrerin strich ihr freundlich über die Stirn und ging dozierend zum Pult zurück:

    »Denn man glaubte wörtlich an die Voraussage der Bibel. Gegen Ende des Jahres 999 verließen die Menschen ihre Häuser, Dörfer und Städte und zogen singend in die großen Kirchen, um das Weltende zu erwarten. Der junge Kaiser Otto legte die Krone ab und zog als Pilger nach Aachen. Von diesem Zug wird eine Episode berichtet, die mich immer wieder ergreift. Eine junge Frau mit langen blonden Zöpfen stand an der Straße des Kaisers vor ihrem Haus und schaute ganz ruhig auf die Pilgerzüge hinunter. Der Kaiser ließ halten und schickte einen Diener mit der Frage zu ihr, ob sie sich denn nicht auch auf den Untergang der Welt vorbereiten wollte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und sagte: ‚ Die Welt geht nicht unter. Ich bekomme ein Kind. Gott kann uns doch die Erde nicht nehmen.‘ Der junge Kaiser zog weiter nach Aachen und erwartete dort in der letzten Nacht das Weltende. Auf den Knien wie alle Menschen mit ihm. Aber die Nacht ging vorüber. Der Morgen kam. Die Welt stand unterm Himmel wie sie immer gestanden hatte. Da ließ der Kaiser seinen Zug auf dem Rückweg abermals an dem kleinen Bauernhof halten und schickte der Frau, die in der Nacht des

    Untergangs ihr erstes Kind geboren hatte, einen goldenen Armreifen:

    Sie war die einzige von uns allen, die wirklich glaubte, sagte er.«

    Da kam das Klingelzeichen zum Ende der Stunde. Während alle schon aufgesprungen waren und ihre Taschen

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