Die Schweiz ist tot?: Beiträge zum Land der Unmöglichen
Von Dominik Riedo
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Über dieses E-Book
Dominik Riedo
Dominik Riedo, 1974 geboren, absolvierte das Lehrerseminar mit der Möglichkeit, alle Fächer unterrichten zu können, ab 2003 Schriftsteller, seit 2007 ausschliesslich - und also nicht mehr Teil der Ich-verdiene-viel-Geld-Gesellschaft-und-mache-damit-die-Erde-kaputt, publizierte bislang 28 Bücher. Mehr Informationen unter www.dominikriedo.ch.
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Buchvorschau
Die Schweiz ist tot? - Dominik Riedo
Inhalt
Vorwort: Was ist die Schweiz?
Der Staat voll Ignoranten
Max Frischs ‹Fiche› und was wir daraus lernen können
Ein kultureller Streifzug durch die Zentralschweiz
Diesseits vom Gotthard
Die Literatur und Luzern
Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen. Nietzsche und Luzern
Ludwig Feuerbach und die Schweiz
Eine europäische Skizze
200 Jahre Schweizer Nationalepos
Ein Pfeilschuss und die Folgen
Büchner in Zett
Aus der Höhe meiner unsäglichen Wenigkeit
Robert Walser und seine Wut von tief unten
Abtragung einer Schuld
Über Isabelle Kaiser
Schweizerdeutsch und Standardsprache
In Teufels Namen
Der Sargonaut oder Die Bob-Ferrari-Blondinen-Circus-Zigarren-Phallus-Todesnarkose
Hermann Burger nacheilend
West Side Story
Die Schweiz ist tot
Der ‹Brasilien-Effekt›
Zugabe: Die Vögel, nicht von Hitchcock
VORWORT
Was ist die Schweiz?
Das Matterhorn habe ich noch nie gesehen. Kann ich also ein echter Schweizer sein?
Die Frage muss sich meiner Meinung nach anders stellen lassen: Wie konnte das Matterhorn je derart zum Inbild der Schweiz werden? Ein Berg, der nicht einmal zur Gänze innerhalb der Landesgrenzen liegt und oft von Italien her bestiegen wird. Und dessen Spitze im und mit dem Kanton Wallis nicht früher als 1815 zur Eidgenossenschaft stieß.
Allerdings begann ebenfalls erst um diese Zeit herum der Alpen-Tourismus. Während zuvor zwar bereits Söhne des europäischen Adels auf ihrer ‹Grand Tour› durch Europa, einer Bildungsreise im klassischen Sinn, vermehrt Helvetien besuchten, kam der Bergtourismus hier erst nach den napoleonischen Kriegen richtig auf. Denn vor allem durch die Eisenbahn und den Ausbau des Straßennetzes, insbesondere auch der Pässe, wurde die Reise zu den Schweizer Alpen aus allen umliegenden Ländern damals bedeutend einfacher.
Es waren die Engländer, die fortan das Bild der Schweiz als Alpenland, wie es heute noch werbekräftig verkauft wird, prägten. Sie machten nicht nur den romantischen Blick auf die Berge en vogue – damit hatte 1732 bereits der Berner Albrecht von Haller mit seinem Langgedicht «Die Alpen» begonnen – , sondern auch das Bergsteigen selbst und den Aufenthalt in den Bergen. Mit der Lancierung von Pauschalreisen durch die Schweiz leistete Thomas Cook 1863 Pionierarbeit für den Tourismus, und die schwere Erstbesteigung des Matterhorns zwei Jahre später, die dadurch (und durch den Umstand, dass vier der Mitbesteiger bei der Rückkehr tödlich verunglückten) den Medien europaweit zum Inbegriff der Höheneroberung wurde, gelang ebenfalls einem Briten, bezeichnenderweise dem Maler und Illustrator Edward Whymper. Er kam zuerst auf der Suche nach schönen Motiven ins Matterhorngebiet und stieg im Gegensatz zu einer Konkurrenzgruppe eben nicht von Italien, sondern von Zermatt her auf. Überhaupt prägten britische Bergsteiger die sogenannten ‹goldenen Jahre des Alpinismus› zwischen 1854 bis 1865. Erst als Gegenbewegung darauf wurde der Schweizer Alpen-Club (SAC) 1863 gegründet – sieben Jahre nach Gründung des Alpine Club in London.
Auch die infolge der Alpenbegeisterung hervorgerufene Idee der ‹gesunden Schweizer Höhenluft› inmitten der robusten Schweizer Bergbauern ist eine Erfindung von Nicht-Schweizern: Der Niederländer Willem Jan Holsboer und der Deutsche Alexander Spengler gründeten 1868 in Davos die erste Klinik für Tuberkulosekranke, der hunderte ähnlicher Kureinrichtungen folgten. Erst danach verarbeitete die bis heute auflagenstärkste Autorin der Schweiz ihre Ansichten vom gesunden Bergklima: Johanna Spyris «Heidis Lehr- und Wanderjahre» (Goethes Büchern «Wilhelm Meisters Lehrjahre» und «Wilhelm Meisters Wanderjahre» nachgebildet) und «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat» erschienen 1880 beziehungsweise 1881.
Wie uns Friedrich Schiller 1804 mit dem «Wilhelm Tell» den meistzitierten Nationalmythos hierzulande gegeben hatte, schufen die Engländer und andere ‹Auswärtige› also eigentlich erst die Marke ‹Schweiz – (unberührtes) Land der Berge›. Der Schweiz und den Schweizern blieb das Geschäftemachen. Als typisch kann dabei die Toblerone-Schokolade gelten, die nach dem nun bekannten und markanten pyramidenförmigen Gipfelkopf des Matterhorns gestaltet wurde (auch wenn die Söhne von Theodor Tobler später gerne behaupteten, die Form stamme von einem Szenenbild aus der Pariser Revue Folies Bergère, wo sich die Tänzerinnen während einer Vorstellung zu einer Pyramide geformt hätten) – auf der Längsseite der Verpackung taucht denn auch das Matterhorn auf; darin versteckt ist übrigens ein Bär als Hinweis auf die Landeshauptstadt Bern.
Dass aber dieses Land heute kaum mehr den romantischen Vorstellungen von einst gerecht zu werden vermag, zeigt eine Begebenheit aus dem Jahr 2011. Damals flog auf, dass die Migros, das größte Detailhandelsunternehmen der Schweiz, ihren Werbespot für «Heidi-Milchprodukte» in Neuseeland drehen ließ – mit neuseeländischen Kühen und neuseeländischen Darstellern vor neuseeländischer Kulisse.
Kann also das längst überholte Bild jener Schweiz noch für eine Schweiz stehen, die heute definitiv kein Bauernstaat mehr ist (noch etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig) und wo die Angst um Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor in den Städten und der immer größer werdenden Agglomeration sowie um den Finanzplatz zuverlässig dazu führt, dass Umwelt- und Landschaftsschutzbedenken wie Sondermüll über Bord gekippt werden und die ebenfalls oft hochgehaltene humanitäre Tradition (Rotes Kreuz und die Genfer Konvention sind da die Stichworte, ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert) eigensüchtig verdrängt wird, sobald es etwa darum geht, der eigenen serbelnden Waffenindustrie unter die Arme zu greifen und ihr neu wieder Waffenlieferungen an Länder gestattet ist, die die Menschenrechte missachten?
Anders gefragt: Ist eine Schweiz, die sich in ihren Tourismusprospekten stilisiert, als wäre man noch im 19. Jahrhundert, auch wenn man mit dem Auto vors Berghotel fahren kann und wo inzwischen über 60 Prozent der Skigebiete künstlich beschneit werden, nicht eigentlich längst tot? Ist sie nicht erstarrt in einem Bild, das lange zurückliegt und hauptsächlich von den Touristen beziehungsweise für die Touristen geprägt wurde?
Oder noch anders gefragt: Wenn diese tote Schweiz wie eine Maske ist, die man eigentlich ablegen sollte, weil sie stinkt, was würde man darunter finden?
Meine Hoffnung wäre: Augen, die genau hinschauen, und Ohren, die sich nicht leicht zuhalten lassen, eine wache Nase und viel sensible Haut. Nicht eine einbandagierte Mumie, sondern eine sich stetig wandelnde Schweiz, die ihre eigenen Ziele immer wieder kritisch hinterfragt, hinterfragen darf und soll. Und am eingeschlagenen Weg zweifeln.
In diesem Sinne fällt mir allerdings kein bleibendes Bild ein. Denn selbst Vergleiche wandeln sich, wenn auch sehr träge. Am nächsten kommt ihm vielleicht eine Vorstellung, die ich letzte Nacht geträumt habe: eine Fahne, die ihre Farben, ihre Symbole und selbst ihre Form ständig wechselt. Eine Fahne, die nicht einfach in jedem Wind weht, sondern die auch mal schlaff herunterhängen darf bei einer steifen Brise. Oder wie wild herumflattern bei Windstille. Und sie könnte sich auch in eine Wildente verwandeln, die davonfliegt.
Ohnehin ist die Hauptkultur eines Landes, soll sie nicht erstarren, meiner Ansicht nach ein einziges immaterielles Kulturgut: die Gabe, genau zu beobachten, differenziert zu denken, zu handeln und umzusetzen, was für die ganze Bevölkerung eines Landes und der Welt, in der dieses Land ja immer auch liegt, am besten wäre. Folglich stets mit demokratischem Recht und demokratischer Pflicht verbunden, was nicht bereits durch die Gegebenheit eines durchaus auch unbesonnen und mechanisch nutzbaren allgemeinen Wahl- und Stimmrecht als erfüllt betrachten werden kann. Also kein immaterielles Kulturgut, wie es die knackledernen Rechtsaußenkreise sehen, mit den immergleichen Jodelliedern (selbst wenn es neue Kompositionen sind) und den immergleichen Schwingfesten im Folklorestil, der weder historisch korrekt noch wirklich fortschrittlich ist.
Ja, wie bei der Gründung 1848 sollte die moderne Schweiz auch heute noch eine Idee sein, die sich stetig wandeln darf, die jene Einwände und Anregungen aufgreift, die seine und die von anderswoher kommenden besten Denker bieten, die Philosophen, die Schriftsteller, die Historiker, die ein Gestern auch mit heute vergleichen können und Visionen aufzeigen.
Meine Schweiz ist also eher ein Denkraum, in dem ich zum Beispiel mit Nietzsche und anderen Menschen von überall auf der Welt werden konnte, was ich sein will, als ein Stück Scholle, auf dem ich mich geborgen fühlen soll. Sicher, das gibt es auch: Jedes Mal, wenn ich mit dem Zug in Luzern einfahre, überkommt mich ein bestimmtes Heimatgefühl, selbst wenn ich seit drei Jahren in Bern wohne. Aber das darf nicht alles sein. Dieses Luzern wäre mir eine Art Heimat, ganz egal, ob es zu einer Schweiz gehörte, die nur die heutige Innerschweiz umfasste, oder in einem Land läge, das Europa hieße.
Aber um auf die Schweiz zurückzukommen, wie es sie gibt: Was bietet sie mir? Bin ich nicht doch ein wenig beeindruckt von ihr?
Doch, ja – und zwar weil ich eine Art Alternativ-Nationalist sein kann: Die Schweiz hat in der Geschichte eine so unbedeutende Rolle gespielt, sie hat so wenig Weltbedeutung wie kaum ein anderes Land. Wäre ich Brite, fühlte ich mich wohl in Versuchung gebracht, mich stolz zu fühlen auf ein ehemaliges Reich, in dem die Sonne wirklich nie untergegangen ist. Wäre ich Chinese, wüsste ich, dass meine Landesgenossen und ich fast ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachten. Lebte ich in Libyen, spürte ich, dass mir nichts geschenkt wurde. Mit Nationalstolz und mit Religion mobilisiert man die Massen. Während ich der Religion erst mit 16 Jahren zu entsagen vermochte, geschah das mit meinem linden Nationalstolz schon früher: Es ist viel leichter, als Schweizer nicht eingebildet zu sein denn als Franzose (was aber nicht heißen soll, dass wir auf unserem Logenplatz nur zusehen sollen; auch wir können oder könnten unsern Teil immer mit beitragen). Natürlich geht diese Voraussetzung zu einer einfacheren Bescheidenheit, wie Paul Nizon schon zeigte, mit einer gewissen Enge einher. Doch die gibt es in allen Provinzen aller Länder. Aber die Schweiz, das Ländchen, ist so klein, die Menge der weltweit als historisch wichtig betrachteten Männer und Frauen so gering (was nicht heißt, dass es in diesem Land für Querdenker nicht gefährlich werden könnte; auch die Schweiz ist ein scharfes Spieglein der Weltgeschichte), da dünkte es mich schon früh derart lächerlich, darauf stolz zu sein, dass ich Nationalfeiertage häufig im Ausland verbrachte oder nicht mitfeierte.
Wem das zu radikal vorkommt, sollte vielleicht einmal einem Schweizer Lokalpolitiker bei einer Erstaugustfeier zuhören: Standarddeutsch sprechende Politiker, die feierlich werden wollen, tönen gerne lächerlich. Realsatire ist in der Schweiz unter anderem die ungeschickte Fortsetzung mundartlichen Benehmens ins ‹Hochdeutsche›; meine Weigerung war schon früh die Weigerung, jemanden so feierlich zu nehmen, wie er sich gibt, und damit über jemanden zu lachen, der einem mit falscher Feierlichkeit imponieren möchte. Das gibt es überall, aber in der Schweiz hört man es bereits nach zwei, drei Sätzen.
Im Herzen wissen das viele Schweizer, selbst wenn sie es nicht zugeben. Darum verlagern sie an 364 Tagen im Jahr ihre Admirationsgabe und ihren Stolz und werden vielleicht Brasilien-Fan beim Fußball oder träumen von den amerikanischen Südstaaten, wenn sie mit Country-Musik aus dem Radio mit den VWs (die meistverkaufte Automarke der Schweiz) oder Skodas oder Subarus abends nach Hause fahren.
Was viele hier zusammenkittet, das ist nicht eigentlich der Nationalstolz, zu stark ist da der Föderalismus