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Die Wohlwollenden: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 6
Die Wohlwollenden: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 6
Die Wohlwollenden: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 6
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Die Wohlwollenden: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 6

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Der zwölfbändige Zyklus »Ein Tanz zur Musik der Zeit« —­ aufgrund­ seiner inhaltlichen­ wie formalen Gestaltung immer wieder mit Mar­cel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« verglichen —­ gilt­ als­ das­ Hauptwerk des­ britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von ­dem ­gleichnamigen Bild des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich­-Erzählers Jenkins — der durch so­ manche­ biografische­ Parallele­ wie­ Powells­ Alter ­Ego­ anmutet — bietet der »Tanz« eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und auf­schlussreichen Einblick geben in die Gedanken­welt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten.
Im sechsten Band bildet der Vorabend des Zweiten Weltkriegs den historischen Hintergrund, die Zeit also zwischen Münchner Abkommen und Hitler-Stalin-Pakt.
LanguageDeutsch
Release dateNov 14, 2016
ISBN9783941184817
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    Die Wohlwollenden - Anthony Powell

    (Druckausgabe)

    1

    Albert – feist, bleich, mit bläulichem Kinn, schwer atmend, ein wenig schwitzend – schob eine ­Eisenstange in die Halterungen an den beiden Seiten der Holzläden, die er gerade vor dem letzten Fenster des Stallgebäudes geschlossen hatte. Aufgerollte Hemdsärmel und eine grüne Friesschürze ver­liehen ihm das irreführende Aussehen eines kleinen Geschäftsinhabers, das jedoch sogleich durch die unsagbare Schä­big­keit der Hauspantoffeln, die seine großen, chronisch kränkelnden Füße umschlossen, konterkariert wurde. Jede Art von Arbeit außer Kochen verabscheuend, verrichtete er die notwendigen Handgriffe mit einer Aura der Lustlosigkeit, ja fast der Verzweiflung. Er muss damals Mitte bis Ende dreißig gewesen sein. Wir kamen gut miteinander aus, obwohl er Kinder eigentlich nicht besonders mochte. Jetzt wollte ich ihm dabei helfen, die Nebengebäude für die Nacht zu verschließen – eine Aufgabe, die aus einem unbekannten Grund fast immer schon am späten Nachmittag erledigt wurde. Bis zu diesem Augenblick hatte ich jedoch nichts anderes getan, als mir ein farbiges Bild anzusehen, das mit vier rostenden Heftzwecken an der Wand befestigt war. Es zeigte eine stilisierte Darstellung des Schatzkanzlers Lloyd George, wie er gerade eine enorme, scharlachrote Zunge herausstreckt, auf deren nass glänzender Oberfläche ein Dienstmädchen in Häub­chen und Schürze herzlich lachend, so als ob ihr dieser Kontakt riesigen Spaß bereite, mit kräftigen Bewegungen die Gummierung einer Klebemarke der gesetzlichen Kranken­versicherung anfeuchtet. Ich war noch in dieses lebhafte Bild staatlich unterstützter sozialer Fürsorge vertieft – das in gewisser Weise auf ein ungehöriges, ja ganz und gar unzulässiges Betragen hinzudeuten schien –, als die Nacht, so als ob sie zu dieser viel zu frühen Stunde durch Alberts lethargische Verrichtungen willkürlich eingeleitet sei, abrupt in den nun durch die Läden geschlossenen Raum fiel und plötzlich die Umrisse der politischen Allegorie des an­ony­men Künstlers verwischte. Albert verließ umständlich die uns nun umgebende Dunkelheit, und ich folgte ihm in das helle Tageslicht des Hofes, wo hohe Pinien mit ihrem harzigen, ir­gendwie fremdartigen Duft die Sommerluft erfüllten – ein sanftes Desinfiziens, wie in den Gärten eines Sanatoriums außerhalb Englands.

    »Wir wollen doch nicht, dass eine von diesen Jungfrau Marias herkommt und uns abbrennt«, sagte Albert.

    Mich überkam ein leichter Schreckensschauer angesichts einer so monströsen, rätselhaften und in dem ketzerischen Ge­brauch des Plurals sicher sündigen Eventualität. Ich bat um eine Erklärung.

    »Suffragetten.«

    »Aber sie kommen doch nicht hierher?«

    »Man kann nie wissen.«

    »Glaubst du doch?«

    »Man kann überhaupt nicht sagen, was diese Flittchen nicht noch alles anstellen.«

    Ich fühlte eine tiefe Übereinstimmung mit Albert darin, dass die Unsicherheiten des Lebens grenzenlos seien. Ich dachte über seinen ersten Satz nach. Er war beunruhigend. Warum hatte er die Suffragetten ›Jungfrau Marias‹ genannt? Dann erinnerte ich mich an etwas, das vielleicht Licht in diese Dunkelheit bringen konnte. Im Schulunterricht an jenem Morgen – das Thema war klassische Mythologie gewesen – hatte Miss Orchard davon gesprochen, dass die Griechen, weil sie eine so große Furcht vor den Furien gehabt hätten, diese ›Eumeniden‹ – Wohlwollende – nannten, um mit jener schmeichelnden Bezeichnung ihren schrecklichen Zorn zu besänftigen. Alberts Redewendung in Bezug auf die Suffragetten war zweifellos mit ähnlicher Absicht gebraucht. Er war von Na­tur aus ein ängstlicher Mann, sprach auch gerne in Rätseln. Ich erinnerte mich an Miss Orchards Bericht über die Furien. Sie vollstrecken die Rache der Götter und bringen in ihrem Gefolge Krieg, Pestilenz und Zwietracht auf die Erde; und auch Gewissensqualen. Allein diese letzte Eigenschaft, das verstand ich sehr wohl, machte sie zu äußerst unwillkommenen Gästen. Sie waren so sehr gefürchtet, hatte Miss Orchard gemeint, dass kein Mensch je ihren Namen erwähnte oder seine Blicke auf ihre Schläfen richtete. Wenigstens in dieser Hin­sicht unterschieden sich die Furien von den Suf­fragetten, deren Niedertracht ein dauernder Gesprächsgegenstand von Personen wie Edith und Mrs. Gullick war, zumal die Erstere der beiden sogar Suffragetten während ihrer Umzüge mit ihren mauve-grünen Transparenten gesehen hatte. Andererseits ließ sich die Aggressivität der Suffragetten insofern sehr wohl mit der der Furien – auch femininen Geschlechts, soweit man das sagen konnte – vergleichen, als jene ebenfalls als Vorboten von Feuer und Zerstörung auftraten. Die Gedanken an sie brachten mich dann auf andere, nicht weniger Furcht einflößende, in gewisser Weise sogar faszinierendere Schrecken örtlicher Natur, gegen die es sich vielleicht während der Stunden der Nacht zu behaupten galt.

    »Hat Billson den Geist wieder gesehen?«

    Albert schüttelte den Kopf und gab mir zu verstehen, dass er das Thema Gespenster weit weniger interessant finde als ich. Er bewohnte eines der zwei oder drei kleinen Zimmer jenseits der Pferdeboxen, wo er weit weg von dem übrigen Haus­­halt schlief. Die gelegentliche Belegung eines anderen dieser Zimmer im Pferdestallgebäude durch Bracey bot nur geringe Unterstützung, wenn es um Geister ging. Bracey wohnte nur in unregelmäßigen Abständen dort, und das Kameradschaftsgefühl zwischen den beiden war sowieso nicht ausreichend genug entwickelt, um einen soliden Widerstand gegen derartige Visitationen bilden zu können. Es war deshalb ganz vernünftig von Albert, dass er, da er ein so einsames Quartier bewohnte, es vorzog, dass nicht dauernd von der Möglichkeit übernatürlicher Erscheinungen die Rede war, auch wenn sich diese vielleicht nur im Wohnhaus selbst ereignet hatten. Um die Wahrheit zu sagen, auch während des Tages lag immer etwas leicht Furchterregendes über dem Stallgebäude. In meiner Fantasie hatte ich die hölzerne Nacktheit seines Inneren lustvoll in eine Holzhütte oder Palisade mit Schießscharten und Einschusslöchern umgestaltet, die gegen Zulus oder Indianer verteidigt werden musste. An solch einem Ort mochte selbst der Tapferste einer namenlosen Furcht vor der okkulten Welt nachgeben – einer Welt, die gewiss mehr zu fürchten war als eine krude physische Attacke seitens der Suffragetten, deren äußerst weit hergeholte Manifestationen von Bosheit und Unvernunft sich wohl kaum zu Brandanschlägen auf die Stallgebäude von Stonehurst ausweiten würden.

    Andererseits waren die ›Geister‹ von Stonehurst ein anerkanntes Merkmal, in meinen Augen nahezu ein fester Bestandteil, des Hauses, etwas weit Realeres als die Suffragetten. Billson, das Stubenmädchen, war nur ein oder zwei Wochen zuvor früh morgens aufgewacht und hatte eine weiße Gestalt von immen­ser Größe vor ihrem Bett stehen sehen, die dann sogleich wieder verschwand, ehe Billson voll zu sich gekommen war. Für sich allein genommen hätte das als bloße Einbildung abgetan werden können, als etwas, das eher Anlass zu Neckereien gibt, als dass es Sympathie oder Interesse weckt. Billson aber gestand, dass sie schon bei einer früheren Gelegenheit dieser oder einer sehr ähnlichen anderen Erscheinung begegnet sei, einem Gespenst, von dem unglücklicherweise von Billsons unmittelbarer Vorgängerin in fast den gleichen Worten berichtet worden war. Kurz gesagt, es sah ganz danach aus, dass unser Haus eines war, in dem es eindeutig spukte. Dienstmädchen, die auch bereit waren, in dem Haus zu wohnen, waren in einem so abgelegenen Ort wie Stonehurst ohnehin sehr schwer zu bekommen. Geister bildeten da keine besondere Empfehlung. Vielleicht war es ein Zufall, dass zwei außergewöhnlich leicht erregbare Personen unmittelbar nacheinander dasselbe Dienstmädchenzimmer bewohnt hatten. Weder Albert selbst noch Mercy, das Hausmädchen, waren allerdings je einem solchen Martyrium ausgesetzt gewesen. Andererseits hatte mein Kindermädchen Edith (vor meiner Geburt selbst ein Hausmädchen) von Zeit zu Zeit ein rätselhaftes Klopfen im Kinderschlafzimmer gehört, Geräusche, die nicht – wie zunächst angenommen wurde – mir selbst zugeschrieben werden konnten. Außerdem bekannte sich meine Mutter zu der manchmal auch während des Tages wiederkehrenden unbehaglichen Empfindung, dass noch jemand in ihrem Schlafzimmer anwesend sei. In der Nacht sei sie dort einige Male von einem unerklärlichen Gefühl des Unheils und Schreckens überwältigt aufgewacht. Ich berichte diese Dinge nur als eine damals bei uns durchaus akzeptierte Situation. Sol­che Gegebenheiten wären vielleicht in einer rationaler aus­gerichteten Familie völlig ignoriert worden; in einer, die me­ta­physisch weniger flexibel war, hätten sie möglicherweise starke Erregungen ausgelöst; in meiner eigenen wurden sie ohne Skepsis, aber gleichzeitig auch ohne unangemessene Beklommenheit einfach hingenommen. Alle Diskussionen über dieses Thema fanden gewöhnlich hinter verschlossenen Türen statt, und zwar aus dem simplen Grund zu vermeiden, dass das Haus einen Ruf erlangte, der die Quellen, aus denen Dienstpersonal geschöpft werden konnte, vielleicht völlig austrocknen würde. Es wurde nichts unternommen, um solche Gespräche von meinen Ohren fernzuhalten. Meine Mutter hatte – als sie und ihre Schwestern noch unverheiratet waren – zusammen mit diesen stets einer Neigung nachgegeben, die ›Unsichtbare Welt‹ zu erforschen – einer Neigung, die auch die drohenden Unannehmlichkeiten der ›Stonehurst-Geister‹ nicht gänzlich zu unterdrücken vermochten. Mein Vater, nicht in gleichem Maße vertraut mit den verborgenen Kräften, war deshalb aber nicht weniger erfüllt von dem Glauben an sie. Kurz gesagt, die ›Geister‹ waren ein integraler, ein essentieller Teil des Hauses, ja sein herausragendes Merkmal.

    Dennoch, Geistererscheinungen waren kaum zu erwarten in diesem ziegelroten Bungalow, der aufgrund seiner extremen, unnatürlichen Ausdehnung fast geräumig war, oder jedenfalls schien es mir damals so. Er war erst dreizehn oder vierzehn Jahre zuvor – um 1900, genauer gesagt – von einem pensio­nier­ten Soldaten gebaut worden, der in seiner endgültigen Zu­rückgezogenheit Wert darauf legte, sich eine anschauliche Erinnerung an seinen Dienst in Indien zu erhalten, gleichzeitig aber von der Architektur erwartete, dass sie alles vermied, was beunruhigend auf den exotischen Glanz östlicher Fabelwelt hin­deuten könnte. Es stimmte, das Äußere Stonehursts mochte einen leicht bedrohlichen, sogar einen unheilvollen Eindruck hinterlassen, aber ganz gewiss keinen exotischen. Seine Struktur erinnerte an eine lange, niedrige Arche Noah, die unsicher auf einem mit Heidekraut und Koniferen bewachsenen Ausläufer des Berges Ararat zur Ruhe gekommen war, an eine Arche Noah, die, wenn man ihren Deckel hätte abheben können, mich selbst, meine Eltern, Edith, Albert, Billson, Mercy, eine Reihe von Hunden und Katzen und, zu gewissen Zeiten, Bracey und Mrs. Gullick zum Vorschein gebracht hätte.

    »Sag ihr, sie soll damit aufhören«, sagte Albert, auf das Thema Billson und ihren ›Geist‹ zurückkommend. »Zu viel kaltes Schweinefleisch und Pickles. Das ist alles. Hat’s sich mit den Verdauungskollegen verdorben oder ist übergeschnappt. Eins von beiden. Die kommt noch in die Klapsmühle, wenn sie so weitermacht.«

    »Billson sagt, sie kündigt, wenn es noch mal passiert.«

    »Kündigen? Glaub ich nicht.«

    »Meinst du nicht?«

    »Solange ich hier bin, kündigt die nicht. Das glaub man nicht.«

    Albert schüttelte einen seiner uralten Hauspantoffeln vom Fuß und zog die dicke schwarze Wollsocke an deren Spitze zurecht, wo der nicht allzu saubere Nagel des großen Zehs aus einem Loch hervorlugte. Albert war ein seltsamer Kauz, ein außergewöhnliches Mitglied des Haushalts, nicht nur was ihn selbst und seine Aufgaben betraf, sondern auch in Beziehung zu dem Gesamtcharakter des kleinen Reichs meiner Eltern. Er hatte sein Leben als Page in dem Haus der Eltern meiner Mutter begonnen und war später dort zum Diener aufgestiegen. Nach dem Tod meiner Großmutter – dem Untergang einer Epoche, wie sich deren Ableben in Alberts Erinnerung immer ausnahm – war er, meistens unglücklich, von einer An­stellung zur nächsten gedriftet. Manchmal hatte er Streit mit dem Butler gehabt; manchmal waren ihm die Arbeitszeiten zu lang gewesen; manchmal, und das war das Schlimmste, hatte sich die Köchin oder eins der Dienstmädchen in ihn ver­liebt. Liebe bedeutete natürlich in solchen Fällen Heirat. Albert war, glaube ich, überhaupt nicht an einer irregulären Art von Liebesaffären interessiert, verspürte jedoch auch nicht im Geringsten den Wunsch, sich eine Frau zu nehmen. In dieser Hinsicht fühlte er sich chronisch von Frauen verfolgt, speziell von einer besonders entschlossenen unter seinen Peinigerinnen, die ihm lange, drohende Briefe zu schreiben pflegte und die er immer ›die Frau aus Bristol‹ nannte. Wahrscheinlich war seine ständige Furcht vor den Belästigungen durch das andere Geschlecht an diesem Abend die Erklärung für seine Angst vor einer Attacke der Suffragetten.

    Albert hatte, nachdem er von London in die Provinz, von der Provinz wieder zurück nach London, dann hinauf nach Cumberland und hinunter nach Cardigan gezogen war, schließlich an meine Mutter, die in regelmäßigem Kontakt mit fast jedem stand, der je für sie gearbeitet hatte, geschrieben und vorgeschlagen, dass er, da sie bald eine Köchin verlieren würde, in diesen Beruf wechseln möchte, der ihn schon immer angezogen habe, denn die Kochkunst liege ihm, von beiden Elternteilen her, im Blut. Er war, selbst während seiner Zeit als Diener, in der Tat für sein hervorragendes Kochen bekannt, das er fast mit der Muttermilch eingesogen zu haben schien. Sein Angebot wurde deshalb trotz einiger, in kleinem Kreis geäußerter, Bedenken, er könne sich möglicherweise zu einem ›Problem‹ entwickeln, sofort angenommen. In gewisser Weise war er wirklich ein ›Problem‹, obwohl sein Kochen, wie sich bald herausstellte, keineswegs enttäuschte. Die Frage, warum er es vorzog, für eine Familie zu arbeiten, die auf einem gesellschaftlich so einfachen Niveau lebte, wo es ihm doch sicher ein Leichtes gewesen wäre, eine Anstellung mit mehr Geld und größerem Prestige in vornehmeren Kreisen zu finden, war nicht leicht zu beantworten. Mangel an Unternehmungsgeist; körperliche Trägheit; die Vorliebe für die Routine einer kleinen häuslichen Gemeinschaft – alles das spielte ohne Zweifel eine Rolle. Aber vielleicht war es auch das Überbleibsel aus einer lange vergessenen Vergangenheit, ein in seinen Knochen schlummerndes, nie völlig abgestorbenes Sekret feudaler Treue, das ihn zu einer Familie zog, mit der er in der Frühzeit seines Dienerdaseins verbunden gewesen war. Das war durchaus möglich. Gleichwohl waren solche Gefühle, wenn sie denn existierten, bei ihm keineswegs in einer romantisch besonders ausgeprägten Form vorhanden. Albert hatte, wenn überhaupt, nur wenige Illusionen. Zum Beispiel war er von Stonehurst als Wohnsitz überhaupt nicht begeistert. Das Haus entsprach gar nicht seinem Geschmack, und er sagte das auch häufig. Mit dieser Auffassung traf er allerdings kaum auf heftigen Widerspruch von anderer Seite. Ja, alle Beteiligten stimmten darin überein, es sei eigentlich ganz gut, dass wir nicht für immer in Stonehurst würden leben müssen, denn der Bungalow war ›möbliert‹ nur für die Zeit gemietet, während der das Bataillon meines Vaters im Kommandobereich Aldershot stationiert war.

    Die Immobilie stand in einer Landschaft, die sich in ihrem allgemeinen Charakter nicht von der Umgebung jener einzigartig abscheulichen Stadt unterschied, nur wilder, verlassener war als deren unmittelbare Randgebiete. Man konnte das auf dem Gipfel eines steilen Hügels gebaute Haus über eine steinige Straße – deren unebene, tückische Oberfläche aus Kieselsteinen möglicherweise den Namen ›Stonehurst‹ erklärte – erreichen, die auf halbem Weg den Abhang hinauf einen rechten Winkel vollzog und durch ein Ödland aus Stechginster und Farn verlief, aus dem gelegentlich eine efeugewürgte Ilex oder eine verdorrte Kiefer hervorragte – ein Gebiet scheinbar absicht­licher Vernachlässigung und bewussten Verzichts auf jedwede landschaftliche Gestaltung. Im Winter schoss das Wasser in Sturz­bächen über die Steine und durch die Rillen in dieser rut­schigen Piste nach unten und machte sie zu einer Gefahr für alle, die wie General Conyers den Versuch unternahmen, sie in den Autos jener Zeit zu befahren. Auf dem Gipfel des Hügels zog sie sich, das Tor zu Stonehurst passierend, für etwa zwei- oder dreihundert Yards dahin, ehe sie sich gabelte und in der einen Richtung auf ein paar kaum sichtbare Dächer, die sich am fernen Horizont aneinanderkauerten, und in der anderen auf eine kleine Pinienplantage zulief, wo Gullick, der Gärtner von Stonehurst (den Edith einmal in meiner unbeobachteten Gegenwart faszinierenderweise als »außerhalb des Ehestandes geboren« bezeichnet hatte) zusammen mit Mrs. Gul­lick in einem kleinen Häuschen wohnte. Hier verengte sie sich zu einem Weg und ging dann schließlich in einen schma­len Pfad über, der durch ein riesiges Heidegebiet führte, dessen gräuliche und rötliche Töne das ganze Jahr über von den hellgelben Flecken des Ginsters durchsetzt waren: ein Terrain, das in heißen Sommern leicht Feuer fing.

    Die äußerste Begrenzung des Stonehurst-Anwesens wurde von einem ausgedehnten, eingezäunten Stück Brachland gebildet, das ganz den Verheerungen durch eine gewaltige Schar von Hühnern der verschiedensten Rassen überlassen war. Jenseits von ihm erstreckte sich das Heidegebiet (dessen Kraut kleine Wellen wie ein großer, schilfbedeckter See schlug) bis in eine verschwommene Ferne. Hühner und Haus waren durch eine Fläche von etwa fünfzehn Morgen, die aus dem Garten, Blumenbeeten, einem Stück Wald und zwei Tennisplätzen bestand, voneinander getrennt. Der Bungalow selbst lag, zurückgesetzt von der Straße, zwischen hohen Pinien. Hinter ihm, unterhalb einer mit Lorbeerbäumen und irischen Eiben bepflanzten Böschung, ging es entlang der an Spalieren gezogenen Rosen hinunter zu einem Küchengarten, in dem sich Gullick, als grü­­bele er düster über das Missgeschick seiner Geburt nach, gewöhnlich zwischen dem Gemüse zu schaffen machte und eine schlechte Saison für die Sorte vorhersagte, mit der er jeweils gerade beschäftigt war. Jenseits der weißen Johannisbeersträucher begann wieder das wilde Land, das von der Stonehurst-Zivilisation nur durch eine tiefe, mit Rasen bedeckte Böschung getrennt war. Diese bildete die Grenze zu einem Gebiet, das ich, da es wie das Stallgebäude Abenteuer verhieß, äußerst faszinierend fand. Dunkel brütende Baumgruppen; steile, sandige Abhänge; weiche, samtige Flächen von grünem Moos, über denen Kaninchen und Wiesel unaufhörlich ihren dringenden Geschäften nachjagten: ein Terrain wie geschaffen für die ewigen Kampagnen kriegführender Armeen, deren unablässige Ope­rationen die Stilisierung von Alberts Schlafquartier zu den Außenbefestigungen einer Verteidigungsanlage oder Palisade rechtfertigten, die in permanenter Kampfbereitschaft gehalten werden musste. Hier, in diesen Wäldchen und auf diesen Lichtungen, vermittelten Sand und Farn, die Stille und der Geruch der Pinien mir eine Art Öffnung des Herzens; und auch ein tiefes Verlangen nach etwas – nach etwas, das mehr war als Schlachten, vielleicht nichts mit Schlachten zu tun hatte; etwas, das mir selbst damals als nebulös, beseligend, fast unerreichbar bewusst war: ein Gefühl tiefer, beklemmender Unruhe, seltsam beglückend manchmal, aber manchmal auch so schmerzlich, dass ich es kaum zu ertragen vermochte.

    »General Conyers und seine Frau kommen nächste Woche«, sagte ich.

    »Das hab ich dir doch erzählt«, sagte Albert.

    »Wirst du was Besonderes für sie kochen?«

    »Worauf du dich verlassen kannst.«

    »Etwas ganz Besonderes?«

    »Eine Mousse, glaub ich.«

    »Werden sie die mögen?«

    »Sicher werden sie das.«

    »Was hat Mrs. Conyers’ Vater mit dir gemacht?«

    »Hab ich dir doch schon erzählt.«

    »Erzähl’s mir noch mal.«

    »Ist Jahre her. Als ich bei den Alfords angestellt war.«

    »Als du ihm in seinen Mantel halfst …«

    »Hatte ’ne Maus in dem Ärmel versteckt.«

    »Eine richtige?«

    »Natürlich nicht – eine aufziehbare.«

    »Was hast du gemacht?«

    »Laut aufgeschrien.«

    »Haben sie alle gelacht?«

    »Und wie.«

    »Warum hat er das gemacht?«

    »Er sagte immer so zum Scherz: ›Ich bin sauer auf dich, Albert. Du verhältst dich mir gegenüber nicht korrekt. Du sagst mir immer, ihre Ladyschaft sei nicht zu Hause, wenn ich sie ganz dringend sehen will. Ich werde es dir heimzahlen.‹ Und das hat er dann ja eines Tages auch gemacht.«

    »Vielleicht spielt General Conyers ja Bracey einen Streich.«

    »Nicht der.«

    »Warum nicht?«

    »Es war nicht General Conyers, der die Maus in den Ärmel gesteckt hat. Das war Lord Vowchurch. Niemand macht so etwas mit Bracey – und schon gar nicht General Conyers.«

    »Wann kommt Bracey aus dem Urlaub zurück?«

    »Übermorgen.«

    »Wo war er?«

    »Luton.«

    »Was hat er denn da gemacht?«

    »Hat seine Schwägerin besucht.«

    »Nach seinem letzten Urlaub sagte Bracey, er sei froh, dass er wieder zurück sei.«

    »Diesmal wird er es nicht sein, wenn er hört, was der Captain dazu zu sagen hat, dass er die Tunika der zweitbesten Gala­uniform falsch verpackt hat.«

    Bracey war der Bursche meines Vaters, ein Mann, der immer wie aus dem Ei gepellt daherkam. Seine äußere Erscheinung erinnerte an einen Foxterrier, einen aufziehbaren Foxterrier viel­leicht (wie Lord Vowchurchs aufziehbare Maus), denn er hatte etwas von einem Automaten an sich, besonders wenn er auf seinem Fahrrad ankam. Manchmal war er, wie ich schon sagte, bei Albert in dem Stallgebäude untergebracht. Bracey und Albert kamen, wie zu erwarten war, nicht besonders gut miteinander aus. Ja, es war ein »Wunder« – so hatte ich einmal meine Eltern übereinstimmend sagen hören –, dass die beiden überhaupt, so gut es ging, zusammenarbeiteten, »was allerdings nicht viel heißen wollte«. Feindseligkeiten zwischen dem Offiziersburschen und den anderen männlichen Mitgliedern des Haushalts waren natürlich Tradition. Was noch schlimmer war: Es konnte zu amourösen Verbindungen zu dem weiblichen Personal kommen. In der Tat war dies auch in gewissem Maße in Stonehurst der Fall, wo die einer einsamen Lage innewohnenden Schwierigkeiten durch die Beschwernisse, die Braceys Naturell – launisch wie das Alberts, doch auf eine völlig andere Art – verursachte, noch vergrößert wurden.

    Rückblickend meine ich, dass Bracey jünger als Albert gewesen sei, obwohl ihn sein in Stonehurst getragener großer Schnurrbart und sein vom heftigen Scheuern und Rasieren glän­zendes Gesicht als stärker von der Zeit gezeichnet erscheinen ließen. Er war unverheiratet und einer jener Berufssoldaten alter Schule ohne oder mit nur geringer Schulbildung – kaum fähig zu lesen oder zu schreiben und deshalb von allen Beförderungen ausgeschlossen –, dessen über Jahre hin makelloses Äußeres und absolute Zuverlässigkeit in weniger bedeutenden Angelegenheiten ihm einen gewissen Status und große Nachsicht im Hinblick auf seine eigenen Idiosynkrasien eingebracht hatten. Diese Idiosynkrasien konnten manchmal ziemlich beschwerlich sein. Bracey war ein Opfer der Melancholie. Niemand schien die genaue Ursache dieses Leidens zu kennen: ir­gendein frühes emotionales Unglück; Vererbung; außer Kontrolle geratene Eigenliebe – alles das mochte diesen Zustand herbeigeführt haben. Er kam aus einer großen, weitverstreuten Familie, von der die meisten Mitglieder auf respektable Weise ihren Lebensunterhalt verdienten, obwohl ich einmal Edith und Billson miteinander flüstern hörte, dass eine Schwester er­trunken im Themsedelta aufgefunden worden sei. Ein Bruder war Maurer in Cardiff, ein anderer Droschkenkutscher in Liverpool. Bracey mochte keinen der beiden. Er hat mir das selbst gesagt. Er zog ihnen seine Schwägerin in Luton vor, die, glaube ich, Witwe war. Das war der Grund, warum er dort seinen Urlaub verbrachte.

    Braceys periodisch wiederkehrende Zustände tiefer Bedrücktheit wurden von uns seine ›komischen Tage‹ genannt. Manchmal bekam er einen von ihnen, wenn er Dienst in unserem Haus tat. Dann waren alle immer ganz entsetzt. In der Kaserne, also in einer weniger intimen, geräumigeren Unterkunft, konnte ein ›komischer Tag‹, wie anstrengend er auch für seine Kameraden sein mochte, sicher nicht ebenso provozierend gewirkt haben. Vielleicht hatte Bracey beschlossen, Offi­ziersbursche zu werden, damit seine ›komischen Tage‹ ihre ganze Kraft entfalten konnten. Wenn er in Stonehurst einen dieser Anfälle bekam, saß er gewöhnlich auf einem der Stühle in der Küche, starrte die Wand an, sprach mit niemandem und war bewegungslos wie jemand, der in einen Zustand der Katalepsie verfallen ist. Dies geschah natürlich immer nur, wenn er die ihm aufgetragene Arbeit erledigt hatte, denn er war von Natur aus bedingungslos pflichtbewusst. Die Last seiner Melancholie machte vor allem seinen Kollegen, weniger meinen Eltern zu schaffen. Diese hatten nur die allgemeine Atmosphäre unheilbaren Trübsinns auszuhalten, die sich über das ganze Haus verbreitete und sich erst auf sie konzentrierte, wenn sie sich an Bracey selbst wandten. Mein Vater pflegte manchmal gegen diese aggressive, ja ansteckende Depression – die ihm selbst nicht fremd war – aufzubegehren, und dann kam es gewöhnlich zu einem heftigen Streit. Das geschah jedoch selten. In der Küche dagegen gab es vor Bracey kein Entrinnen. Bei solchen Gelegenheiten wurde er, wenn gerade eine Mahlzeit anstand, gewöhnlich von Billson gefragt, ob er etwas zu essen wünsche. Schweigen war immer die Antwort. Bracey pflegte nicht einmal seinen Kopf zu wenden.

    »Albert hat ein Irish Stew gemacht«, sagte – wie mir Edith berichtete – Billson dann etwa. »Es ist ein gutes Stew. Wollen Sie es nicht mal probieren, Schütze Bracey?«

    Bracey pflegte zunächst nicht zu antworten. Billson wiederholte dann vielleicht die Frage und erweiterte sie durch die Erkundigung, ob er denn etwas von dem Stew, oder um welches Gericht auch immer es gerade ging, essen würde, wenn sie es ihm selbst auflege. Dieses Ritual konnte sich dann einige Minuten lang hinziehen, wobei Billson allerdings mit wach­sender Nervosität kicherte, denn ein Element in Braceys Traurigkeit hatte mit ihr persönlich zu tun. Dieses bestand in der Tatsache, dass er, wie jeder wusste, in Billson ›verknallt‹ war, sie aber sein Werben zurückgewiesen hatte. Einerseits ge­schmeichelt durch Braceys Interesse war sie wahrscheinlich gleich­zeitig durch seine melancholischen Anfälle beunruhigt, besonders da sie selbst von nervöser Natur war. Jedenfalls war sie immer äußerst unsicher, was ›Männer‹ anging.

    »Ich werde es essen, wenn es mein Recht ist«, pflegte Bracey schließlich mit einer Stimme zu antworten, die kaum mehr als ein Flüstern war.

    »Soll ich Ihnen dann einen Teller reichen, Schütze Bracey?«

    »Wenn es mein Recht ist, werde ich einen Teller nehmen.«

    »Dann gebe ich Ihnen also etwas von dem Stew?«

    »Wenn es mein Recht ist.«

    »Soll ich?«

    »Nur wenn es mein Recht ist.«

    Solange der ›komische Tag‹ anhielt, pflegte sich Bracey zu keiner anderen Freundlichkeitsbekundung als zu diesen Worten, die er sprach, als rezitiere er einen Zauberspruch oder eine magische Formel, verpflichtet zu fühlen. Kein Wunder, dass die Küche verunsichert war. Dieses Verhalten war so ganz anders als Alberts sardonische, weltliche Unzufriedenheit mit dem Leben, so anders als Alberts chronische Beschwerden darüber, von Frauen verfolgt zu werden.

    »Ich habe schon lange nicht mehr einen meiner komischen Tage gehabt«, sagte Bracey manchmal, über seine eigene Lage nachdenkend.

    Gewöhnlich folgte, nachdem ihm die Selbsterforschung die­se Tatsache bewusst gemacht hatte, dann auch sehr bald ein weiterer ›komischer Tag‹. Ja, man konnte diese Bemerkung als eine positive Warnung davor ansehen, dass in Kürze ein ›ko­mischer

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