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Giovanni Trapattoni: Ich habe noch nicht fertig
Giovanni Trapattoni: Ich habe noch nicht fertig
Giovanni Trapattoni: Ich habe noch nicht fertig
Ebook335 pages4 hours

Giovanni Trapattoni: Ich habe noch nicht fertig

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Biografie eines Kulttrainers und Rekordsammlers
Giovanni Trapattoni ist ein Charakter, wie man ihn nur noch selten im aktuellen Fußballbetrieb findet. In Deutschland bleibt seine "Wutrede", entstanden 1998 nach einer 0:1-Niederlage seines FC Bayern gegen Schalke 04, unvergessen. Zahlreiche dabei verwendeten Formulierungen ("Was erlauben Strunz?", "... ware schwach wie eine Flasche leer", "Ich habe fertig", ...) fanden Eingang in den deutschen Sprachgebrauch.
In dieser Biografie, die Giovanni Trapattoni gemeinsam mit dem Journalisten Bruno Longhi vorlegt, lässt der Italiener nun seine einzigartige Karriere Revue passieren. Die Biografie beinhaltet:
• einen umfassenden Rückblick auf das Leben eines der erfolgreichsten Trainer aller Zeiten und zugleich eine Chronologie von fünf Jahrzehnten europäischem Spitzenfußballs
• viele bislang unbekannte und private Einblicke in das Leben von "Trap"
• alle Karrierestationen Giovanni Trapattonis, angefangen bei seiner Zeit als aktiver Fußballer beim AC Mailand bis zum Trainer der Fußballauswahl der Vatikanstadt
Fußballtrainer Giovanni Trapattoni coachte unter anderem den AC Mailand, den FC Bayern, Juventus Turin, den VfB Stuttgart und die italienische und irische Nationalmannschaft. Er feierte – neben vielen weiteren Erfolgen – sieben italienische Meisterschaften, eine deutsche Meisterschaft, eine österreichische Meisterschaft, einen Weltpokalsieg und sechs Europapokalsiege. Er ist derzeit der einzige Vereinstrainer, der neben José Mourinho einen Meisterschaftstitel in vier verschiedenen Ländern holen konnte – und als Typ ist er (nicht nur in Deutschland) einfach Kult!
Ausgezeichnet mit dem renommierten italienischen Literaturpreis "Premio Bancarello 2016"
LanguageDeutsch
Release dateSep 14, 2016
ISBN9783667108197
Giovanni Trapattoni: Ich habe noch nicht fertig

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    Giovanni Trapattoni - Giovanni Trapattoni

    1 Der Junge von der Bernasciola

    »K omm hier!«

    Was wollte dieser Unbekannte in einer Uniform, die mir Angst machte, der eine andere Sprache sprach?

    »Komm hier, Kind!«

    Er blieb beharrlich. Ich tat so, als würde ich woanders hingucken und betrachtete ihn gleichzeitig aus dem Augenwinkel, um herauszufinden, was er wollte. Mit der Hand machte er mir ein Zeichen, ich sollte wohl näherkommen. Mama und Papa sagten mir immer, ich solle den beiden Flugabwehrkanonen nicht zu nahe kommen, die direkt vor unserem Hof standen – aber wie sollte das gehen? Auf der einen Seite erschreckten sie mich, aber zugleich zogen sie mich magisch an. Und dann ermahnten sie mich auch immer, ich solle nicht mit den deutschen Soldaten sprechen. Sie schienen mir ein bisschen eigenartig zu sein, aber nicht böse. Und dann war da dieser eine, der immer ganz breit lächelte, wenn er mich sah und mich ansprach.

    »Wie heißt du? Ich heiße Rudy!« Er schlug sich mit einer Hand auf die Brust. Vielleicht wollte er mir einfach nur sagen, dass er Rudy ist.

    »Wie heißt du?« Er deutete auf mich. Wollte er wissen, wer ich bin? Sollte ich es ihm verraten? Sollte ich lieber abhauen? Ich sagte es ihm schließlich: »Gianni«. Dabei streckte ich ihm vier Finger entgegen. Jedes Mal, wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, wollte er doch auch wissen, wie alt ich bin. Erwachsene sind irgendwie alle gleich und stellen immer die gleichen Fragen.

    Rudy ging in die Hocke, und für einen Moment waren wir gleich groß. »Gut, Gianni!« Er steckte eine Hand in die Innentasche seiner Jacke und holte etwas heraus. Was war das? Alles, was ich hatte, alles, was ich kannte, war Neugier. Die Welt außerhalb des Hauses – die so groß wirkte, dass sie hinter den Feldern und der Landstraße vermutlich noch ein gutes Stück weiterging – jagte mir ein bisschen Angst ein, aber vor allem erweckte sie in mir das Verlangen, sie zu erkunden, zu verstehen. Und ich wollte unbedingt sehen, was mir Rudy mit einem Lächeln überreichen wollte. Ich streckte die Hand aus und erkannte, worum es sich handelte: Schokolade, eine ganze Tafel. Und ich hatte weglaufen wollen! Dass Schokolade existierte, hatte ich zuvor nur gehört, bei uns zu Hause hatte ich nie eine gesehen. Sie schmeckte gut. Also war auch Rudy gut.

    Die Flugzeuge kamen, schwer und mit Bomben beladen – das hörte man an dem Lärm, den sie verursachten: ein tiefes, dunkles Donnern. Wenn sie leer waren, hörte sich das Brummen anders an, fast wie eine Schmeißfliege, und sie flitzten mühelos dahin. Aber nun hörte man, dass sie herbeiflogen, es waren viele, und sie kamen, um zu bombardieren. Mein Vater kam nach Hause gerannt und schrie Mama etwas zu. Mein Bruder Antonio holte mich, als ich gerade bei unseren Nachbarn – bei denen mit den Kühen – frisch gemolkene Milch trank. Ohne ein Wort schnappte er mich, hob mich hoch, als würde ich nichts wiegen, und nahm mich auf den Rücken. Inzwischen hatten die Explosionen eingesetzt. Im nächsten Augenblick befanden wir uns mitten auf den Feldern, meine Mutter betete laut und unablässig, sagte ein Ave Maria nach dem anderen auf und schrie: »Oh mein Gott, der Fliegerhorst brennt!« Und ich, auf dem Rücken meines Bruders, der keuchend rannte, hatte beinahe Spaß, weil ich noch nie zuvor meine Schwestern Maria und Elisabetta so schnell hatte laufen sehen. Irgendwann verschwand Mama auf einmal, als sei sie von einem Teufel entführt worden, dann tauchten auch wir ab und verkrochen uns in einem Loch mitten im Feld. Alle außer mir keuchten heftig. Ich sah mich um und bekam Angst, vor allem, weil ich erkannte, dass auch mein Vater völlig verschreckt war – er, der niemals und vor nichts Angst hatte. Das Krachen der Bomben ging weiter, und aus dem, was Mama, Papa, Maria, Elisabetta und Antonio sagten, verstand ich, dass die Amerikaner den Fliegerhorst von Bresso bombardierten. Angela, meine andere Schwester, und ich schauten von einem zum anderen, um mehr zu erfahren, aber wir waren von ihrer Unterhaltung ausgeschlossen. Wir waren die Kleinen in der Familie, und wenn es um Angelegenheiten der Großen ging, war es manchmal so, als existierten wir nicht. Dann kehrte wieder Ruhe ein, alle starrten ins Leere, als würde dadurch die Zeit schneller vergehen. Mama war wieder da und drückte mich an sich. Ich mochte das. Ja, wenn ich recht darüber nachdachte, hätte ich hier sogar für immer bleiben können. Alle zusammen in irgendeinem Loch in irgendeinem Feld – fünf Kinder, Mama und Papa. Wie beim Versteckspiel.

    Der Krieg endete einen Monat nach meinem sechsten Geburtstag. Mama und Papa nahmen mich mit zur Autobahn Mailand–Bergamo, um die Amerikaner zu sehen. Sie fuhren auf Panzern vorbei und warfen alles Mögliche in die Menge: Stangen von Zigaretten, Schokolade, allerlei Zeug, und meine Kameraden und ich wetteiferten darum, wer am meisten einsammeln konnte.

    Nur an zwei Dinge aus den Kriegsjahren erinnere ich mich: an den deutschen Leutnant Rudy, der mir die Schokolade schenkte. Und an die Bombardierung am 30. April 1944. Der Rest ist für mich, als wäre es nie geschehen – Gott sei Dank: Glücklich sind die Kinder, die den Krieg durchgestanden haben, ohne es zu wissen.

    Im Jahr 1945 kam ich in die Grundschule in der Via Edera in Milanino, und mir wurde etwas klar, was ich zuvor bereits intuitiv wusste, ohne dass es mir jemand erklärt hatte. Wenn meine Eltern sich unterhielten, achteten sie immer darauf, zwischen Cusano (wo wir wohnten) und Milanino – dem Teil des Dorfes auf der anderen Seite der Landstraße – zu unterscheiden. Und in der Schule … selbstverständlich konnte man den Unterschied zwischen mir, meinen Freunden, meinen Nachbarn und denen aus Milanino sehen! Die Kleidung der anderen war elegant, ihre Schuhe robust, und sogar ihr Umgangston war eher herrschaftlich. Es war ein nur kleiner, aber dafür feiner Unterschied, ob man aus Cusano oder Milanino kam. Ein Kind prägen solche Erfahrungen, sie bleiben ein ganzes Leben lang an deinem Leib kleben.

    In Cusano bewohnte meine Familie einen Teil eines großen Gehöfts. Es gehörte uns keineswegs ganz, noch weitere elf Familien lebten dort. Es nannte sich »La Bernasciola«, und man erreichte es durch ein schmales Gässchen, das alle unter dem Namen »La Streccia« kannten. Am Ende des Innenhofs lagen die Kuhställe. Unser Teil des Hofes hatte die Küche im Erdgeschoss, darüber befand sich das Schlafzimmer. Es war eine Casa di ringhiera¹, alle Schlafzimmer der Wohnungen lagen im ersten Stock, eines neben dem anderen. Abends stieg man mit den anderen Familien die Treppe hinauf, und die einen gingen nach rechts, die anderen nach links, wir sagten uns »Gute Nacht«, und jeder verschwand in seinem Zimmer. Meine Eltern schliefen im Ehebett, und hinter einem Raumteiler schliefen wir Kinder. Mein Bruder Antonio und ich hatten ein etwas breiteres Einzelbett, unsere drei Schwestern teilten sich ein Doppelbett.

    Mein Vater Francesco arbeitete bei Gerli, einem Unternehmen in Cusano, das Kunstseide produzierte. Nach acht Stunden in der Fabrik ging er nicht nach Hause, sondern Gras mähen und Heu machen für die Bauern, die Hilfe brauchten – und am Ende des Tages hatte er seine zwölf, 13 Stunden Arbeit auf dem Buckel.

    Wenn er dann nach Hause kam, rief er mich oft mit einem Pfiff. Mit diesem Pfiff signalisierte er mir das Ende meiner Spielereien im Hof, und ich musste mich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass er es war; mit diesem Pfiff rief er mich zur Ordnung oder zu Tisch, wenn das Essen fertig war. Es war so etwas wie sein Markenzeichen, und manchmal versuchte ich, ihn nachzumachen.

    »Komm, Papa, lass mich das auch probieren!«

    Ich steckte die Finger in den Mund, holte so tief Luft, wie ich konnte – und heraus kamen nur bescheuerte, unbeholfene, schrille Töne.

    Meine Mutter war schön und groß, sie hieß Romilde und arbeitete halbtags in den Gemüsegärten und half den Bauern von Cusano beim Kartoffeln-, Karotten- und Salatpflanzen. Die andere Hälfte des Tages verbrachte sie mit uns zu Hause. Sonntags arbeiteten meine Eltern nicht, und morgens nahmen sie uns mit zur Messe. Nicht eine einzige verpassten wir.

    »Bete, Gianni, bete«, sagte Papa. »Bete zu Gott, dass er dir dabei hilft zu lernen, einen Abschluss zu machen und dass er dich von dieser Fabrikhölle befreit, zu der Cusano wird, und von den Feldern, die einen so sehr zum Schwitzen, aber keinen Ertrag bringen.«

    Lernen und einen Abschluss machen, das war sein Plan. Ich dagegen betete dafür, entweder Fußball-Champion zu werden oder in der Dorfkapelle so gut Posaune spielen zu lernen, dass ich die ganze Welt bereisen und die Musik überall hinbringen konnte. Einstweilen half ich zu Hause, so gut ich konnte: In den Sommerferien polierte ich Möbel, baute Bügeleisen zusammen, und für alle war ich »der kleine Botenjunge«. Geld gab es dafür wenig, ich musste mich mit kleinen Trinkgeldern und manchmal sogar mit Naturalien zufriedengeben, einmal kehrte ich gar mit einem Kätzchen nach Hause zurück.

    Wenn unsere Nachbarn ein Schwein schlachteten, schnappten wir Kinder uns die Blase des armen Tieres, leerten sie aus und füllten sie mit Lumpen – da hatten wir unseren Ball. Ein improvisierter Ball, aber dieser improvisierte Ball war für mich der Schlüssel zu einer Traumwelt. Wenn ich auf dem Hof hin und her rannte und die Schweinsblase verfolgte, fühlte ich mich am richtigen Platz. Manchmal tat es auch eine Dose Simmenthal², die ich auf dem gesamten Weg von zu Hause bis zur Schule auf der Straße vor mir her kickte. Sobald ich dort angekommen war, versteckte ich sie in einem Busch, und wenn ich die Schule wieder verließ, holte ich sie wieder heraus.

    Wir Jungs waren große Fans von Fußballfigürchen und -sammelbildchen, und in Cusano teilten wir uns in Milan-, Inter- und Juventus-Fans. Die Meisterschaft der Saison 1949/50, die Juventus gewann, hatte mich zum Juve-Fan werden lassen. Meine Idole hießen Giampiero Boniperti, Karl Aage Præst und John Hansen. Es waren unerreichbare Idole, denen ich nur mithilfe des Radios näherkommen konnte, ich hatte bloß Vorstellungen von ihnen; sie spielten im fernen Turin – und der Gedanke daran, einmal dorthin zu fahren und sie im Stadion zu sehen, war unvorstellbar.

    Meinen Papa interessierte Fußball nicht. Er war kein Fan und sprach in der Bar nie über Milan oder Inter. Ach, vielmehr – um ehrlich zu sein: Fußball nervte ihn. Er versuchte, mir und meinem Bruder das Spielen zu verleiden, ja sogar zu verbieten. Auch wegen des Problems mit den Schuhen: Wir hatten nur ein Paar, und beim Spielen ruinierten wir sie. Vor allem aber wegen seiner Angst vor Krankheiten.

    »Da schwitzt du und bekommst Tuberkulose«, sagte er immer. Tuberkulose war eines der großen Schreckensbilder dieser Jahre. Keine Erkältung, kein Hustenanfall, kein Niesen ohne die besorgten Blicke der Eltern. Und Schwitzen wurde für schädlicher gehalten, als heimlich eine Zigarette zu rauchen. Schon mein Bruder Antonio, der sieben Jahre älter war als ich, hatte dem Fußball entsagen müssen.

    »Wenn er es dir verbietet, tue einfach so, als würdest du gehorchen. Aber dann geh und spiel – Hauptsache, er sieht dich nicht. Das funktioniert immer«, riet mir Antonio.

    »Ja, aber wenn er es merkt, gibt er mir eine Ohrfeige.«

    »Mach dir keine Sorgen, ich bin da.«

    Antonio. Mein Held! Einen derart älteren großen Bruder zu haben bedeutete automatisch, ihn zu lieben und zu vergöttern. Und Antonio bedeutete mir alles. Er verteidigte mich immer. Er ermutigte mich und zeigte mir auf jede erdenkliche Art und Weise, dass er auf meiner Seite stand. »Spiel, wenn es dir gefällt. Ich muss schon arbeiten, ich denke nicht einmal mehr daran. Aber ich möchte nicht, dass es dir genauso geht. Ich möchte, dass du spielen kannst, soviel du möchtest. Du bist ein Kind – und wie kann man denn einem Kind verbieten, Ball zu spielen?«

    Einen Ball aus Leder bekam ich zum ersten Mal in Cusano zu Gesicht, im Jugendtreff der Pfarrgemeinde von San Martino. Es war einer dieser Bälle, die mit einem Schnürsenkel zugenäht waren. Jedes Mal, wenn du einen Kopfball spieltest, musstest du aufpassen, dass du ihn nicht ausgerechnet an der Naht getroffen hast, sonst machte er dir eine schöne Beule. In diesem Jugendtreff spielten wir vier gegen vier oder fünf gegen fünf. Mehr ging nicht. Ich war in der Mannschaft mit den anderen aus meinem Viertel, also mit den Kindern vom Gutshof der Bernasciola, vom Haus Masera, von der Streccia – kurz, vom östlichen Ortsteil: Peppinel, Ciudin und Sgarella, der im Tor stand. Und je mehr Mädchen zuschauten, desto eifriger stürzten wir uns ins Gewühl. Die Gegner waren die wahren und echten Cusaner, die, die nahe am Rathaus wohnten. Der Fußballplatz der Jugendfreizeitstätte schien riesengroß zu sein – auch wenn er nicht einmal 30 Meter lang war –, von Tor zu Tor zu rennen war eine Reise. Die Spiele dauerten Stunden – nicht zuletzt wegen der langen Zwangspausen, um den Ball wiederzuholen, wenn er im Fluss Seveso gelandet war, der direkt hinter einem der beiden Tore vorbeifloss.

    »Du hast geschossen, jetzt musst du ihn holen.«

    »Aber ich bin vorhin schon gegangen.«

    »Weil du vorhin auch geschossen hast.«

    »Ja klar. Wenn ich nicht schieße, schießt ja keiner!«

    »Hansen hat’s doch schon gesagt! Jetzt komm, beeilst du dich mal, oder was ist los? Willst du zu Fuß bis Niguarda³ gehen?«

    Wenn der Ball über die Mauer flog und im Wasser landete, war der Zeitfaktor essenziell. Wenn wir lange darüber diskutierten, wer ihn holen musste, bestand die Gefahr, dass die Strömung ihn zu weit vom Jugendtreff davontrug, in Richtung Mailand. Dann war es die doppelte Mühe, denn es reichte nicht, mithilfe des Seils auf die Mauer zu klettern, durch ein Fensterchen zu kriechen, auf der anderen Seite auf den Uferdamm hinunterzuspringen und in den Seveso zu steigen (der furchtbar verschmutzt, aber zum Glück nicht tief ist – er reichte uns Kindern gerade bis zur Hüfte); dann musste man zwei Kilometer rund um die Streccia waten und hoffen, den Ball in diesem Abschnitt des Flusses zu finden.

    Die Spiele auf diesem Platz aus gestampfter Erde dauerten auch deshalb unendlich lange, weil es Lichter gab, ein echtes Wunder! So spielten wir bis Mitternacht, manchmal auch länger. Dann kam ich patschnass nach Hause, weil es weder Umkleiden noch Duschen gab. Sobald uns die Priester den Strom abschalteten, rasten wir Jungs auf und davon, ab nach Hause.

    Eines Tages kam ich nach einem Spiel im Jugendtreff, bei dem der Ball mindestens viermal im Seveso gelandet war (zweimal davon war es meine Schuld), völlig verschwitzt nach Hause. Ich fand meine Mutter weinend vor, und meine Schwester Maria, die Älteste, versuchte sie zu trösten. Ich ging zu ihnen, um zu kapieren, was da los war, wurde aber weggescheucht. Auch Maria hatte Tränen in den Augen. Also verzog ich mich in den Hof und spielte allein, ohne mir allzu viele Gedanken zu machen. Die Welt der Großen war mir meistens unverständlich, aber das war in Ordnung. Erst gegen Abend, als mein Vater nach Hause kam, verstand ich das Ganze. Ihm fiel die Aufgabe zu, mir – in seiner einmaligen Bergamasker Art – zu erklären, dass Gott Maria zu sich gerufen hatte. Gott hatte sie zu sich gerufen? Für einen Moment wurde mir schwindelig: Sagte man nicht so, wenn jemand stirbt? Aber ich hatte Maria doch zuvor noch gesehen, gesund und munter. Also musste es etwas anderes bedeuten. Mir stand ein großes Fragezeichen im Gesicht, also sagte es Papa endlich klar und deutlich: »Maria geht ins Kloster.«

    Aber das war doch eine wunderbare Nachricht, was sollten all die Tränen? Er versuchte zu lächeln, ihm gelang aber nur eine Art Grimasse. Warum? Ganz ehrlich, eine Schwester als Nonne schien mir das Größte, was man sich wünschen konnte. Manche meiner Freunde hatten einen Onkel, der Priester war. All die Sonntagmorgen in der Kirche hatten endlich Früchte getragen. Nicht einmal für einen Moment gelang es mir, die kindliche Freude über diese aufregende Neuigkeit zu vergessen und mir die praktischen Konsequenzen vorzustellen: Maria, die mir so vertraut war wie eine zweite Mama, würde nicht mehr da sein. Und ihren Platz würde eine andere einnehmen: meine Mutter Romilde.

    »Was hast du an den Händen«, fragte meine besorgte Mutter.

    »Der Inder hat mir mit der Gerte eins draufgegeben.«

    »Der Inder?«

    »Der Lehrer, der in Indien war.«

    »Und warum?«

    »Einfach so, ohne Grund.«

    »Das glaube ich nicht.«

    »Also gut, mein Banknachbar und ich haben gelacht.«

    »Siehst du also ein, dass er es zu Recht getan hat?«

    »Ich will nicht mehr in die Schule gehen.«

    »Ach nein? Willst du lieber mit Papa bei Gerli schuften?«

    »Ja.«

    »Und wenn dir dann ein Rohr direkt vor dem Gesicht platzt, so wie es Papa passiert ist?«

    »Immer noch besser als der Inder.«

    »Pass auf, ich nehm dich beim Wort!«

    Der Krieg war nur noch eine Erinnerung, und immer mehr Kinder blieben nach der Grundschule in der Via Edera, um auf die Berufsschule zu gehen. Am ersten Schultag lernten wir einen etwas sonderbaren Lehrer kennen, er war ein ehemaliger Offizier der Kavallerie, der aus Indien zurückgekehrt war. Er machte einem schon Angst, wenn man ihn nur ansah. Wir waren die Lehrerin aus der Grundschule gewohnt, mütterlich und behütend, und dieser neue Lehrer gab uns sofort zu verstehen, dass wir eine neue Lebensphase erreicht hatten. Aber wenn er von Indien erzählte, träumte die ganze Klasse mit offenen Augen von Tigern und Männern mit Turbanen, von Sandokan und Yanez, von Elefanten und wunderschönen Frauen. Das Problem war nur, dass dieser Lehrer aus Indien nicht nur Erinnerungen mitgebracht hatte, sondern vor allem auch eine lederne Reitgerte. Und, wenn das Ding nun schon mal da war, warum sollte er es nicht gebrauchen, um die Disziplin zu wahren? Es genügte schon eine Winzigkeit, und er wurde zur Furie. Ein kleines Lachen, ein Wort, das man mit dem Banknachbarn wechselte, ein Moment der Unaufmerksamkeit.

    »Hände her!«, war seine Floskel. Und zack! Die ersten Male war ich auch noch so blöd und hielt sie still, aber dann wurde ich ziemlich gut darin, sie genau im richtigen Moment wegzuziehen – bis auch er dazulernte und mich austrickste. Er tat so, als ob er zuschlagen würde, ich zog die Hände zurück und er: zack! Und er lachte herzhaft. Was hatte er bloß in Indien erlebt, um so grausam zu werden? Oder war es einfach nur sein militärisches Wesen, das sich da durchsetzte? Meine Mitschüler und ich ertrugen es stillschweigend, wir hatten von den Schlägen mit der Reitgerte wunde Hände – aber es wäre ohnehin sinnlos gewesen, uns beim Rektor zu beschweren.

    Die Schule stahl mir Zeit, die ich nicht mehr dem Fußball widmen konnte, und zu Hause konnte ich nicht laut sagen, dass ich unter meinen Gleichaltrigen der Beste war und es Zeit wäre, eine ordentliche Mannschaft für mich zu finden; mit regelmäßigem Training und Spielen elf gegen elf, Schiedsrichter und allem anderen. Wenn ich meine Mama darauf ansprach, machte sie mir ein Zeichen, still zu sein, das Thema fallen zu lassen und es zu vergessen.

    »Wenn du wirklich nicht mehr lernen magst, okay. Nach den drei Jahren finde ich eine Arbeit irgendwo in der Fabrik für dich. Aber sag nie wieder, dass der Fußball eine Arbeit werden kann. Wenn Papa dich hört, stecke ich in der Klemme, und dann passiert dasselbe wie mit Antonio.«

    Bei Antonio war nämlich Folgendes passiert: Papa hatte aus Wut auf den Fußball seinen Koffer kaputt gemacht – den Koffer, in dem mein Bruder Schuhe, Trikot und Hosen zum Spielen aufbewahrt hatte. Ich nahm mir fest vor, alles zu tun, um es meinem Papa recht zu machen, aber ohne den Fußball aufzugeben. Ich wollte weiter lernen, die Stelle für nachmittags in der Papierfabrik Riboldi annehmen, aber ich wollte auch das Angebot von denen aus Frassati annehmen und versuchen, mit ihnen zu trainieren. Mit guter Organisation konnte ich es schaffen.

    ¹ Casa di ringhiera ist eine für den Mailänder Raum typische Mietkaserne der Arbeiterschaft aus dem angehenden 20. Jahrhundert. Die Eingänge zu den einzelnen Wohneinheiten liegen auf einem gemeinsamen, umlaufend an der Fassade des Innenhofs angebrachten Balkon.

    ² Simmenthal ist Rindfleisch in Aspik in der Dose.

    ³ Niguarda ist ein Ortsteil von Mailand.

    2 Rocco und seine Jungs

    Frassati ist ein Sportverein in Mailand, im Viertel Niguarda, nicht weit von Cusano. Ich fuhr mit dem Rad zum Trainingsplatz, er lag gleich hinter Bresso. Hellblaues Trikot mit der Nummer 4. Hier spielte man ernsthaft, man trainierte. Ich schloss Freundschaft mit einem Schreiner, der eine üble Visage hatte – dunkel, finster –, und seine Haare waren so schwarz, dass sie fast blau aussahen. Wir waren gleich alt, und mit dem Ball konnte er ungefähr genauso gut umgehen wie ich. Er hieß Sandro. Sandro Salvadore. Er war es, der mir einen Floh ins Ohr setzte: Wir sollten im Training so viel wie möglich auf uns aufmerksam machen, uns anstrengen, immer mit maximalem Einsatz spielen, damit wir möglichst schnell in die Jugendmannschaften von Inter oder Milan kamen. »Du und ich, wir können es schaffen«, sagte er zu mir, nachdem er gesehen hatte, wie ich im Mittelfeld agierte – agil und präzise, meine Spezialität.

    Die Arbeit in der Papierfabrik nahm mir den ganzen Nachmittag, ich radelte fünf Kilometer hin und fünf Kilometer zurück. Während der Arbeit dachte ich ständig an die verlorene Zeit. Die Zeit, die mir zum Training fehlte.

    Ich schaffte es, mein Doppelleben unter dem kritischen Auge von Papa zu organisieren. Er wusste, dass ich trainierte. Er wusste, dass ich bei Riboldi ohne wirkliche Begeisterung arbeitete. Er wusste auch: Hätte er mich vor die Wahl gestellt, Vollzeit in der Papierfabrik zu arbeiten oder mich ganz dem Fußball zu widmen, ich hätte mich ohne jeden Zweifel für den Fußball entschieden. Das war ihm völlig klar, und er war davon alles andere als begeistert. Aber er konnte mir auch keine Vorwürfe machen, denn immerhin lernte und arbeitete ich. Ich fehlte bei keiner der Verpflichtungen, die ich mit ihm vereinbart hatte. Es herrschte eine Art Waffenstillstand, eine Feuerpause. Antonio ermutigte mich weiterhin: Wie Sandro glaubte auch er daran, dass ich eine große Mannschaft verdient hatte. Aber statt der großen Mannschaft musste ich mich, zumindest zu Beginn, mit dem neuen Verein von Cusano Milanino zufriedengeben, der dank des wirtschaftlichen und organisatorischen Engagements der Brüder Crippa (Mario, Antonio und Francesco) entstanden war, denen es Spaß machte, neue Talente zu entdecken.

    »Und du! Du kommst doch aus Cusano – warum spielst du nicht in der Mannschaft deines Dorfes?«, fragten sie mich.

    Also gab ich den Großmütigen und kehrte zurück nach Cusano, verabschiedete mich von Sandro Salvadore, versprach ihm aber, wir würden uns in ein paar Monaten wiedersehen: »Du und ich, wir können es schaffen.«

    Die Mannschaft von Cusano nahm an der Jugendmeisterschaft des Centro Sportivo Italiano, eines christlich orientierten Breitensportverbands, teil. Mit meinen stählernen Lungen wurde ich sofort ein wichtiger Teil der Mannschaft. Noch ein weiterer Spieler machte auf sich aufmerksam. Er spielte gut, wirklich gut: Gilberto Noletti, auch einer aus Cusano, ein bisschen jünger als ich. Wir schnupperten die Luft der echten Spiele – aber vor allem wurden wir regelmäßig von den Inter- und Milan-Scouts beobachtet. Irgendwann wurde ein Spiel zwischen den Jungs von Cusano und den Gleichaltrigen der Rossoneri (die Schwarzroten von Milan) organisiert. Dieses Spiel entschied darüber, ob ich eine Laufbahn als Profi würde einschlagen können. Würde ich ausgewählt werden, müsste ich ein weiteres Probespiel in Mailand absolvieren – und mal weitersehen.

    »Trapattoni und Noletti, in die Krankenstube.«

    Ich schaute Gilberto mit fragendem Blick an.

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