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Die Dame mit den Bernsteinaugen: Erzählungen
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Die Dame mit den Bernsteinaugen: Erzählungen

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About this ebook

Geschichten aus der Kindheit und Jugend sind, wenn sie gut erzählt werden, zauberhaft und grenzen oft ans Wunderbare. Eine polnische Weihnachtsgans, eine Tante und ihr Offizier, die erste Liebe, ein Mann namens Wien, Madame Blanche und ein echter Degas …
Die "Wurzeln und Flügel", die – so Goethe – Kinder von ihren Eltern bekommen sollten, führen Bauer, der sich gegen die Schriftstellerei und für ein Leben als Geschäftsmann entscheiden musste, in den Jahren des Wirtschaftswunders bis nach Hongkong und Moskau. Und immer noch ist er, auch dann, das Kind, das staunen kann. Und das erzählt. Seine Geschichten sind warmherzig, humorvoll und einfühlsam. Und wären sie nicht wahr, hätte man sie erfinden müsssen. Denn: "Mit einer Kindheit voll Liebe", hat schon Jean Paul notiert, "kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten."

Von Baden-Baden nach Lemberg, von Frankfurt nach Hongkong und Moskau. Bezaubernde Erzählungen eines Gentleman aus einer alten, anderen Welt.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 20, 2017
ISBN9783863371364
Die Dame mit den Bernsteinaugen: Erzählungen

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    Die Dame mit den Bernsteinaugen - Dieter Bauer

    Bernsteinaugen

    Als der Krieg an der Haustür klingelte

    Warum haben wir Kinder nie »Frieden« gespielt? Kriegsspiele und Spielzeug, das uns die Kinderwelt zur Soldatenwelt werden ließ, waren in allen Gärten und Spielzimmern zu Hause. Schlachten zu schlagen, war für die meisten Jungen wichtiger als andere Rollenspiele. Das war auch bei uns so, auch wenn mein Vater, der als junger Mann, gerade Abiturient, in den Ersten Weltkrieg gezogen war, wenig mitteilsam war, fragten wir ihn nach seinen Erlebnissen in dieser Zeit.

    »Die Hölle war es,« sagte er, wenn wir wissen wollten, wie es war.

    Nur ein Spiel war uns wichtiger, bei dem wir in die Rolle unseres Vaters als Anwalt schlüpften. An Regentagen und im Winter, wenn die »Schlachten« wegen des Wetters ausfielen, führten wir Prozesse, schrieben Schriftsätze, stritten vor Gericht, sprachen als Richter Urteile. Da alle Freunde und Nachbarskinder das Spielzimmer und unseren weitläufigen Garten mit uns teilten, waren zeitweise vier bis fünf Kanzleien tätig, bei großem Andrang mit Assessor und Kanzleileiter ausgestattet. Letzterer war der Einstieg für neu Hinzugekommene, die noch keinerlei juristische Erfahrung besaßen. Die Rolle des Richters wechselte von Zeit zu Zeit, sie war nur von wenigen begehrt, setzte sie doch ein würdevolles Verhalten voraus. Als Anwalt konnte man mehr aus sich herausgehen, scharfer Worte Klinge kreuzen und durch eigene Initiative dem Geschehen eine unvermutete Wendung geben. Denn als Tatsache galt das, was die kleinen Anwälte erfanden und als Erste in die Welt gesetzt hatten. Angeklagte, Beschuldigte, Ehebrecher, Straftäter und Zeugen existierten nur auf dem Papier, denn keiner wollte diese Rollen übernehmen. Das vereinfachte den Ablauf der Prozesse erheblich.

    Prozessbeteiligte wurden namentlich den Akten der Anwaltskanzlei meines Vaters entliehen, ebenso die Prozessgründe, wobei unsere besondere Vorliebe den Ehescheidungen galt. Einige von uns hatten sich auf Kapitalverbrechen spezialisiert, einen Fachbereich, der meine Schwester und mich weniger interessierte, seit wir eine despektierliche Bemerkung unseres Vaters über die »Herren Kollegen Strafverteidiger« gehört hatten.

    Die anwaltliche Korrespondenz und die Anklageschriften wurden auf Geschäftspapier geschrieben, das von Konkursen übrig geblieben war, die durch die Kanzlei unseres Vaters abgewickelt worden waren. Vater stellte auch Locher, Aktendeckel mit Schnurheftung, ausgediente Stempel, Büroklammern und sonstiges Büromaterial zur Verfügung. Meine Eltern genossen es, zusammen mit Freunden abends im Wohnzimmer das Ergebnis unserer juristischen Tätigkeit zu lesen, was wir natürlich wussten, dieses aber nie zu erkennen gaben. Es gab unserem Spiel eine besondere Bedeutung, die auch nicht durch gelegentliche Lachsalven beeinträchtigt wurde, die wir, noch hellwach, zur Schlafenszeit in unserem Zimmer vernahmen.

    Neben dem juristischen Schlechtwetterprogramm war der große Garten unsere kleine Welt. Wie groß er war, kann ich noch heute nachvollziehen, wenn ich an dem inzwischen stillgelegten und zum Konzertsaal erweiterten Bahnhof in Baden-Baden vorbeifahre und gleich danach auf der rechten Seite der Lange-Straße das Geschäftshaus sehe, das den größten Teil unseres ehemaligen Gartens einnimmt. In meiner Erinnerung steht dort noch immer die uralte Eiche, deren Stamm von sechs oder sieben Kindern kaum umfangen werden konnte. Der Stadt größter Magnolienbaum stand vor unserem Hauseingang. Er entfaltete im Frühjahr eine herrliche weiß-rosa Blütenpracht und stank zeitweise furchtbar. Die breitgewachsene Eibe war unser Kletterbaum, der neben dem Gartenhaus stand, das uns als Zuflucht bei schlechtem Wetter diente. Im nicht minder großen Nutzgarten standen viele Obstbäume, darunter eine Quitte, die alle anderen überragte, Holunderbüsche, deren Blüten jedes Jahr zu einem »Sekt« verarbeitet wurde und den wir Kinder trinken durften.

    Der Gemüse- und Obstgarten war so reich bemessen, dass wir, ohne zu fragen, Radieschen, Karotten, Beeren und das Obst der Bäume ernten und essen durften. Und als Krönung unserer Vesperpausen gab es ab und zu ein »Fünfereis« von Knebels Eiswagen, der am Ende des Gartens stand, auf dem Trottoir – wie ein Gehsteig im Badischen hieß –, das die Fußgänger zum Bahnhof brachte. Knebels kleiner Kiosk, der nur in der warmen Jahreszeit geöffnet war, hatte für uns Kinder eine enorme Anziehungskraft. Dort gab es neben dem in der ganzen Stadt berühmten Eis auch andere Köstlichkeiten, wie rote und grüne Zuckerstangen, violette Veilchenpastillen, schwarze Lakritzrollen, genannt »Bärendreck«, Brausepulver in knalligen Farben, das nicht etwa in einem Glas Wasser aufgelöst, sondern von der Handinnenfläche genussvoll abgeleckt wurde, knusprige Waffeln und vieles mehr.

    Da die meisten von uns kein oder kaum Taschengeld erhielten, war ein Einkauf bei Knebels nur möglich, wenn man sich durch Hilfe im Haushalt oder Garten einige Groschen verdient hatte. Mit fünf Pfennigen hatte man bereits eine große Auswahl, mit zehn Pfennigen galt man als wohlhabend und ein Fünfziger gar reichte aus, um einen halben Tag den Jahrmarkt zu besuchen.

    Meine Haupteinnahmequelle hatte den Vorteil eines regelmäßigen Geldeinganges, denn jeden Samstagnachmittag hatte ich die Aufgabe, den Hof zwischen Hauptgebäude und Nebenhaus gegen ein Honorar von zehn Pfennigen zu kehren. Unsere Nanni, heimlicher Chef der Familie, Haushälterin, Spielkameradin und Beichttante in einem, war es von ihrem kleinen Heimatdorf im Kraichgau gewohnt, dass an diesem Tag die Straßen gespritzt und gefegt wurden. Sie sah nicht ein, warum es in der berühmten Kurstadt Baden-Baden anders sein sollte.

    Um diese wunderbare Aufgabe beneideten mich alle Kinder. Da der Boden des recht großen Hofes keinen Asphaltbelag hatte, sondern einen festgestampften Schotterboden, bedeckt mit einem Gemisch aus Sand und Erde, musste zuerst ausgiebig gespritzt werden, damit die Staubwolken beim Fegen in Grenzen gehalten werden konnten. Sodann führte ich den breiten Besen so, dass die Borsten ein Schachbrett- oder ein Fischgrätmuster in den weichen, feuchten Belag zeichneten. Gelegentlich wurde meine künstlerische Tätigkeit durch die Reifenspur eines einfahrenden Autos oder des Fahrrades meines großen Bruders beeinträchtigt, was ich aber sofort unter Protestgebrüll durch entsprechende Besenführung korrigierte. Von dieser Tätigkeit war ich, nicht nur aus finanziellen Gründen, so begeistert, dass ich die unvermeidbare Frage der Erwachsenen, was ich einmal werden wolle, zum Schrecken meiner Eltern mit »Straßenfeger« beantwortete.

    Dieser Innenhof und das ihn begrenzende Rückgebäude hatten aber noch andere wichtige Funktionen in unserer Kinderwelt. Der Hof diente auch als Exerzierplatz, Fußballfeld und als Versuchsgelände, auf dem alle Kinder Rad fahren lernten. Für Letzteres stand ein altes, abgelegtes, kleines Rad meines Bruders zur Verfügung, das durch den Einbau eines festgeklemmten starken Kartons, der die Felgen des Hinterrades streifte, das alte Klappergestell zur aufheulenden Rennmaschine werden ließ.

    Vom Rückgebäude muß noch berichtet werden, spielte es doch im Jahre 1938, von dem ich erzähle, eine ganz besondere Rolle. Damals war ich sieben Jahre alt. An die Zeit davor kann ich mich heute nur einzelner Ereignisse erinnern. Das Jahr 1938, das letzte Jahr im Frieden, für viele bereits ein Jahr ohne Frieden, erlebte ich offenbar sehr bewusst, sodass die Erinnerung lebendig geblieben ist – wenn ich mich auch bisweilen frage, ob sie nach so vielen Jahres dem Geschehen nicht manches hinzufügt, was die Tatsachen zwar nicht verzerrt, aber doch nach meinen Wünschen und Träumen ausschmückt.

    Das Rückgebäude hatte den Namen »Gesindehaus«, was mich zur Frage trieb, ob es einst für Gesindel vorgesehen gewesen sei. Mir wurde versichert, dass es nicht so war. Im ersten Stock des Gesindehauses wohnten vielmehr die Hausangestellten, Diener, Kutscher, Zofen und die Köchin. Das Haupthaus sei ein »hochherrschaftliches« gewesen. Auf meine Zusatzfrage, was unter »hochherrschaftlich« zu verstehen sei, erhielt ich sehr unterschiedliche Antworten. Meine Mutter sagte, dies sei ein nicht mehr zeitgemäßer Ausdruck, unsere Nanni meinte dagegen, meine Eltern seien ihre Herrschaft, womit ich überhaupt nichts anfangen konnte, war Nanni für uns Kinder doch ein normales Mitglied der Familie.

    Im Erdgeschoss des zweiflügeligen Hofgebäudes signalisierten zwei große Holztore die Einfahrt zu den Kutschenremisen, von denen eine als Garage für den Wagen meines Vaters genutzt wurde, die andere war immer verschlossen. Sie zu betreten, war uns Kindern wegen angeblicher Baufälligkeit streng untersagt. Der Stall, in dem vier Pferde Platz hatten, wurde von Eisspezialist Knebel als Lager genutzt. Ab und zu vergaß Herr Knebel, die Stalltür zuzuschließen, was uns dazu verführte, aus einem Holzkasten ein paar Waffeln mitgehen zu lassen. Wir betrachteten diesen Mundraub als moralisch vertretbar – bis wir erwischt wurden. Vater appellierte an unser juristisches Verantwortungsgefühl und veranlasste uns, Schadensersatz aus unserem Taschengeld zu bezahlen. Dagegen war wenig zu sagen.

    Das erste Stockwerk durften wir nicht betreten, da angeblich die Decken verfault und die Balken nicht mehr tragfähig waren. Eines Tages kam der Dachdecker, um das Dach notdürftig zu reparieren, durch das es auf unser immer sehr gepflegtes Auto regnete, das unserem Vater sehr am Herzen lag. Der Hauseigentümer sprach seit Jahren davon, das ganze Hinterhaus abzureißen und zweckmäßige Garagen zu bauen. Mein Vater war von Autos, zumal den neuesten Modellen, fasziniert, was uns mindestens einmal im Jahr einen Modellwechsel bescherte. Dieser nahm nicht immer auf die von der Familie benötigte Zahl der Sitzplätze Rücksicht. Aber ein zu klein geratener Wagen, vor allem der Sportwagen des Jahres 1938, war ein willkommener Anlass, nach relativ kurzer Nutzung nach einem neuen Fahrzeug Ausschau zu halten.

    Der Dachdecker bat uns Kinder nach getaner Arbeit, den Schlüssel zur Eingangstür des Gesindehauses bei Nanni abzugeben, was wir auch taten, nicht ohne zuvor das Schloss wieder aufgeschlossen zu haben. Wir wollten zwei Tage warten, um feststellen zu können, ob die Tür zu dem geheimnisvollen ersten Stock offen bliebe.

    Für unseren ersten Besuch hatten wir eine Taschenlampe und Kerzen organisiert, denn die Fensterläden dieser Räume waren immer geschlossen. Einer stand Schmiere und sollte mit einer Trillerpfeife drohende Gefahr ankündigen. Langsam tasteten wir uns die alte Holztreppe hinauf. Sie ächzte und quietschte nicht nur, weil sie alt war. Sie hatte wohl auch lange nicht das Gewicht der Treppensteiger zu tragen gehabt und stöhnte unter der ungewohnten Last. Im Licht unserer Lampen erkannten wir tatsächlich das große Loch in der Decke über der stets verschlossenen Remise. Wenn wir in die hinteren Räume gelangen wollten, musste dieser Abgrund überwunden werden.

    Die Verschwörer zogen sich zur Beratung in das Gartenhaus zurück. Was uns fehlte, waren Bretter und Bohlen. Was uns aber vor allem fehlte, war ein Plan. Ohne den ging, so war die allgemeine Erkenntnis, gar nichts. Was Wunder, dass wir in den nächsten zwei bis drei Wochen Tag und Nacht an nichts anderes als den Plan dachten, seine Vorteile, seine Nachteile und Gefahren diskutierten, wobei sich eine unauffällige Materialbeschaffung als der schwierigste Teil der Ausführung herausstellte. Schließlich kam einer auf den grandiosen Gedanken, wir sollten unsere Eltern um Zustimmung bitten, am besten über den Weg einer Vorinformation von Nanni, für den Bau einer Gartenhütte von Onkel Arthur, dem Sägewerksbesitzer, Abfallbretter und Balken zu besorgen.

    Die Idee wurde beifällig aufgenommen, die erste Lieferung kam an und erwies sich als nicht ausreichend, da nicht nur zum Schein eine Hütte erbaut werden musste, sondern auch genügend Material übrig bleiben sollte, um eine tragfähige Konstruktion im Gesindehaus zu errichten. Als die Nachbestellung kam, gab es den ersten Streit: Wer gehörte zur offiziellen Baukolonne, wer zur geheimen. An Arbeitern gab es keinen Mangel, hatte sich doch der Plan unter den Kindern der Nachbarschaft herumgesprochen. Alle, die dabei sein wollten, mussten schwören, dicht zu halten. Nachdem die Vorarbeiter der beiden Kolonnen aufgrund von Körpergröße und Kraft bestimmt waren, einigte man sich auf ein Auslosungsverfahren, das jeden Tag neu erfolgen sollte. Die damit verbundenen Diskussionen verminderten die effektive Arbeitszeit, das Abenteuer »Gesindehaus« beschäftigte uns auf Monate.

    Die Konstruktion des Steges über das Deckenloch erwies sich schwieriger als gedacht. Einmal krachte die ganze Balkenlage herunter und machte einen solchen Lärm, dass wir dachten, unser Abenteuer fände ein vorzeitiges Ende. Fluchtartig verließen wir das Haus, stießen zur Baukolonne der Gartenhütte und rissen ohne weitere Erklärungen unter deren lautem Protest die ganze Konstruktion ein, um unangenehmen Fragen nach der Ursache des Lärms eine Erklärung geben zu können. Nachdem den Mitverschworenen die Ursache unserer Zerstörungswut klar geworden war, beschlossen wir, bei einem eventuellen weiteren Zeitverzug unseres geheimen Brückenbauwerkes die Alibihütte erneut einstürzen zu lassen.

    Endlich war es so weit: Der Steg hielt und einer nach dem anderen kroch vorsichtig ans andere Ufer. Es war kaum etwas zu sehen, denn die Petroleumlampe, die wir uns inzwischen besorgt hatten und welche die ausgebrannte Taschenlampe ersetzten musste, beleuchtete nur notdürftig das Kriechgestell. Erst als alle drüben waren und der letzte die Lampe mitgebracht hatte, betraten wir den nächsten Raum. Wir standen in einer Küche. Die Kacheln über dem Ausgussbecken waren abgefallen, in allen Ecken des Raumes hingen gewaltige, verstaubte Spinnennetze. Der große Holztisch in der Mitte des Raumes hatte nur noch drei Beine. Am meisten beeindruckte uns aber der riesige, eiserne Küchenherd mit zwei Backröhren und einem Wasserschiff. Die Feuerungstüren des Herdes standen auf, eine war halb abgerissen. Die ganze Brennkammer war angefüllt mit zerrissenen Papierstücken, die Herdringe fehlten und aus den kreisrunden Öffnungen der Herdplatte quoll die Papierflut heraus. Es sah aus, als wäre einer im letzten Moment daran gehindert worden, mit einem Streichholz das Papier anzuzünden.

    Da der Raum sonst leer war, keine Geräte oder sonst Nützliches gefunden wurde, griffen wir mit den Händen in die Papiermenge, legten sie auf den staubigen Küchentisch, um im Schein der Lampe zu sehen, um was es sich handelte. Es waren in kleine Schnitzel zerrissene Briefe von verschiedener Handschrift, Tinte und Papiersorte, Rechnungen, Zeitungsausschnitte, Tapetenreste, die uns, richtig zusammengesetzt, Wichtiges über die Bewohner des alten Hauses erzählen konnten. Ein Stück einer alten Zeitung zeigte das Datum 10. Juni 1878. Wir waren platt, denn der Tag unseres sensationellen Fundes war der 10. Juni 1938. Wenn das keine Bedeutung hatte! Sechzig Jahre waren seitdem vergangen, für uns damals eine unvorstellbar lange Zeit.

    In den folgenden Wochen waren wir mit nichts anderem beschäftigt, als zu versuchen, die unzähligen Papierschnitzel zu lesbaren Dokumenten zusammenzusetzen, was uns nur in einem Fall fast vollständig gelang. Und das war der Sensationsfund: Ein auf hellblauem Papier mit violetter Tinte geschriebener Liebesbrief aus der Feder einer offensichtlich sehr adeligen Dame, was aus der kleinen Krone am oberen Rand des Papiers zu schließen war. Was uns erstaunte, war die Anrede, mit der sie ihren Geliebten ansprach. Sie sagte nicht einmal »Du« zu ihm.

    Dieser Brief gab Anlass zu vielfältigen Spekulationen über die Bewohner des Hauses, die auch nach mehreren Wochen keinen Abschluss fanden. War die Dame etwa verheiratet, natürlich nicht mit dem Empfänger des Briefes? Oder sollte mit seiner beabsichtigten Vernichtung ein Beweisstück unterschlagen werden? Wie ging wohl die ganze Affäre aus? Wie kam das Schriftstück in die Hand von Domestiken, lag etwa ein Erpressungsversuch vor? Wir beschlossen, den ganzen Fall in den kommenden Wintermonaten der Bearbeitung unserer Anwaltskanzlei zuzuführen.

    Die ersten sechs Monate dieses Jahres 1938 waren für uns Kinder so reich an Freude, Glück, Überraschungen, dass wir gar nicht glauben wollten, ein möglicher Krieg könnte alles verändern. Die Erwachsenen aber sprachen von der Sudetenkrise und mein Vater schickte uns drei Kinder zusammen mit Nanni auf die Insel Reichenau im Bodensee, damit wir – wie er wohl dachte – bei Ausbruch eines Krieges schneller in der Schweiz, der Heimat meiner Mutter, wären. Diese wohl eher euphorische Einschätzung der Aufnahmebereitschaft unseres südlichen Nachbarn wurde nicht auf die Probe gestellt oder, besser gesagt, noch nicht auf die Probe gestellt. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass das Wort »Krieg« eine neue Bedeutung bekam. Aus »Spiel« wurde Bedrohung. Und als dann das Nachgeben westlicher Staatsmänner gegenüber dem machtbesessenen Führer die scheinbare Absicherung des Friedens brachte, atmeten alle Erwachsenen auf, und ich begriff zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes »Frieden«.

    Nun konnte unser englischer Onkel, Nowell Watson, uns – wie vorgesehen – besuchen. Als er im Herbst nach Baden-Baden kam, war auch er überzeugt, der Frieden in Europa sei für lange Zeit gesichert. »Herr Hitler wird geben in Zukunft Acht« sagte er in seinem für uns Kinder lustigen Deutsch, das wir in Satzstellung und Tonart nachmachten, wenn einer in unseren Spielen die Rolle eines reichen Engländers übernahm.

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