Gefangen: Ein Leben mit Parkinson
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About this ebook
Die Erzählung basiert auf einer wahren Lebensgeschichte und erlaubt einen tiefen, berührenden Blick in das tragische Leben eines Mannes, der früh an Parkinson erkrankt ist, noch heute darunter leidet und dennoch in vielerlei Hinsicht geheilt ist. Die Geschichte informiert damit über die Parkinson-Krankheit und weckt tieferes Verständnis für das Leben in dieser Welt.
Joëlle Wenger
Joëlle Wenger, geboren 1998, Gymnasiastin, hat die vorliegende Erzählung als Matura-Arbeit geschrieben und widmet sie ihrem früh an Parkinson erkrankten Onkel.
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Book preview
Gefangen - Joëlle Wenger
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Schock
Veränderung
Abbau
Hannah
Unendlichkeiten
Nächte
Unten
Warum
Inseln
Talfahrt
England
Entscheidung
Operation
Erwachen
Epilog
Vorwort der Autorin
Liebe Leserin, lieber Leser,
die vorliegende Erzählung berichtet von einem Menschen, der vom Leben gezeichnet ist. Sie erzählt die Geschichte eines Mannes, der weiss, was es bedeuten kann, zu leiden, weil er es am eigenen Leib erlebt (hat). Er ist fast daran zerbrochen, hat aber offensichtlich etwas gefunden, das ihn am Leben erhält – denn er lebt! Er ist geheilt worden, nicht körperlich, aber doch geheilt. Oder vielmehr: Er hat sich heilen lassen.
Die vorliegende Geschichte basiert auf den Lebenserfahrungen meines Onkels Patrick Wenger und meiner eigenen Familie. Ich habe mir allerdings die Freiheit genommen, Einzelheiten zu verändern und die Geschichte da und dort frei zu gestalten. Dennoch entspricht das vorliegende Buch in gewisser Weise der ‚Wahrheit’, weil es eine tragische und gleichzeitig wunderschöne Geschichte schildert, die sich ungefähr so abgespielt hat. Das Buch erzählt eine Lebensgeschichte, die es wert ist, geschildert zu werden.
Ich darf Danke sagen! Ich danke meinem Onkel, der an Parkinson erkrankt ist und mit mir seine ganze Geschichte geteilt hat. Er hat unzählige mühselige Fragen von mir über sich ergehen lassen und sie mit viel Geduld beantwortet. Auch sonst hat er mich in diesem Projekt unterstützt; ohne ihn wäre dieses Buch niemals geschrieben worden. Vielen, vielen Dank!
Ich bedanke mich bei meinen Eltern: Mein Vater hat meine Erzählung in vielen anstrengenden Stunden Korrektur gelesen und mich beim Schreiben ermutigt. Auch meiner Mutter will ich danken, weil sie sich mein nie endendes Gerede über die vorliegende Geschichte immer und immer wieder angehört und mich doch stets weiter unterstützt hat. Ich danke auch meinem älteren Bruder Yanick, der ein wunderschönes Cover-Bild für mich gestaltet hat.
Schliesslich danke ich dem Betreuer meiner Maturarbeit, Herrn Tobias Lerch, der mich in diesem Projekt unterstützt und begleitet hat.
Damit wünsche ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, viel Freude und hoffentlich auch einige besinnliche Momente bei der Lektüre. Ich hoffe, dass Sie durch die Geschichte meines Onkels berührt werden, genau wie das bei mir der Fall gewesen ist und wohl auch bleiben wird.
Januar 2017, Thierachern
Joëlle Wenger
I Prolog
Gefangen.
Er ist gefangen.
************
Verändert. Sein ganzes Leben hat sich verändert. Es verändert sich immer und immer wieder. Alles hat mit einer Veränderung begonnen und alles würde mit einer Veränderung enden, zumindest hofft er das. Sein ganzer Körper verändert sich jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag, ja jede Stunde und jede Minute. Sein Körper, seine Persönlichkeit, sein Charakter, alles hat sich verändert.
Und er verändert sich noch.
Wie er da so liegt, so entspannt und doch so verkrampft, so voller Energie und doch so endlos müde, so ruhig und friedlich und doch so unglaublich verbraucht.
Sein ganzer Körper ruht und zittert.
Und er, so voller Hoffnung und doch so voller Angst.
So voller Glaube und doch so gefüllt mit Zweifeln.
Voller Zuversicht und doch bebend vor Nervosität.
Mit der Gewissheit, dass er in fähigen Händen liegen und sich endlich alles verändern würde.
Zum Guten.
Hoffentlich.
Doch zuerst muss er durch die Hölle gehen.
II Schock
Vor 12 Jahren.
Er konnte es nicht fassen. Er war sich nicht sicher, ob er gerade realisierte, was er gehört hatte, oder ob das Gesagte noch nicht wirklich zu ihm vorgedrungen war. Was genau hatte ihm der Arzt gesagt? Er, noch so jung, soll Parkinson haben? Das kann doch wohl nicht sein, Parkinson ist doch eine Krankheit, an der ältere Menschen leiden, aber doch nicht er – nicht er.
„Herr Tanner, haben Sie mir zugehört? Sie haben Parkinson. Es ist bei ihnen sehr früh ausgebrochen, die Medizin spricht in ihrem Alter von ‚Young Onset Patienten’."
Der Arzt fuhr mit seiner Hand durch die blonden, grau durchzogenen Haare. Raphael Tanner sog mit seinen Augen jede Bewegung des Mediziners auf und konnte die Augen nicht von dem Menschen abwenden, der im soeben sein Leben zerstört hatte.
„Es tut mir leid!", sagte der Arzt nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens. Doch diese gut gemeinten tröstenden Worte halfen Raphael Tanner auch nicht weiter. Er sass immer noch in diesem unbequemen schwarzen Stuhl, vor dem viel zu grossen, einschüchternden Schreibtisch des Arztes. Seine Gedanken gehorchten ihm nicht, er wollte sich auf das Hier und Jetzt, auf das Gespräch mit dem Arzt konzentrieren. Stattdessen wanderten seine Gedanken zu längst vergessenen Erinnerungen, zu Träumen und Zukunftsplänen, die jetzt, nach diesem Tag, nach dieser Offenbarung des Arztes wahrscheinlich nie mehr Realität werden würden. Langsam grub sich das Gesagte in sein Hirn hinein, langsam realisierte er, dass er jetzt etwas sagen sollte, langsam gewann er die Kontrolle über sich selbst zurück und fand damit auch seine Sprache wieder.
„Ich habe also Parkinson. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, eine Tatsache, die er lernen musste zu akzeptieren. „Und was genau bedeutet das jetzt für mich?
, fragte er hoffnungsvoll. Vielleicht würde diese Krankheit ja gar nicht so schlimm sein, wie alle immer sagten; vielleicht gibt es ja Hoffnung und er konnte sein Leben wie bisher weiterführen. Genau genommen wusste er eigentlich gar nicht viel über Parkinson, eigentlich wusste er viel zu wenig, um sich ein Bild darüber machen zu können. Vielleicht war diese Krankheit gar nicht so sehr der Tod, wie er glaubte, dass sie es sei; vielleicht war doch nicht alles zerstört. Vielleicht stand er noch nicht mit einem Fuss im Grab. Vielleicht.
„So genau wissen wir das nicht." Der Arzt holte ihn mit diesen ernüchternden Worten wieder in die Realität zurück. (Herr Tanner war schon wieder abgeschweift, eigentlich völlig atypisch für ihn, er war kein Träumer!)
Zurück in eine bittere Realität.
„Was genau soll denn das bitte heissen?", erwiderte Herr Tanner nun doch langsam etwas verzweifelt.
„Sie haben Parkinson, sie werden Medikamente einnehmen müssen, doch wie lange das gut gehen wird, kann ich ihnen leider nicht sagen; die Wissenschaft weiss selbst noch längst nicht alles über diese Krankheit. Und Sie sind ein Patient, der ziemlich früh an dieser Krankheit leidet. Zu früh! Wir wissen nur, dass Parkinson eine Krankheit ist, die schon acht bis zehn Jahre bevor man sie entdeckt ausbricht und sehr schleichend beginnt. Zumindest ist das in den meisten Fällen so. Parkinson führt dazu, dass im Gehirn Zellen absterben, unter anderem Zellen in der sogenannten Schwarzen Substanz. Diese Zellen sind für die Produktion von Dopamin, einem Neurotransmitter, also einem Botenstoff verantwortlich. Das Dopamin dient vor allem der Kommunikation im Gehirn selbst, also der Verbreitung von Informationen. Natürlich gibt es noch andere solche Botenstoffe, wie zum Beispiel Serotonin und Noradrenalin. Leider gibt es aber Teile im Gehirn, in denen das Dopamin fast alleine herrscht und die Informationen nur mit Hilfe dieses Botenstoffes weitergegeben werden können. Dieser Mangel an Dopamin führt dann zu den typischen Parkinsonmerkmalen, wie dem Tremor, also dem Zittern, dem Rigor, was für Muskelverkrampfung steht, die Bradykinese, die allgemeine Verlangsamung und Haltungsinstabilität. Der Tremor ist bei ihnen offensichtlich schon ausgebrochen, da sie sich über unkontrolliertes Zittern in ihrem linken Knie beschwert haben, das auf das mangelnde Dopamin in ihrem Gehirn zurückzuführen ist.
Es ist noch unklar, warum genau diese Zellen in der Schwarzen Substanz absterben. Ebenso kann ich ihnen nicht sagen, wie schnell die Krankheit fortschreiten wird oder mit welchen Symptomen sie zu kämpfen haben werden."
Der Arzt schloss mit diesen Worten und sah Raphael Tanner mitfühlend an, so als wüsste er genau, was auf diesen Mann zukommen würde. Denn die Ungewissheiten seiner Diagnose und die Unklarheiten waren meist schlimmer, als genau zu wissen, dass man noch etwa zwei Jahre unbeschwert würde leben können.
Die Ungewissheit konnte einen in den Wahnsinn treiben. Die Unklarheiten konnten einen Menschen mehr belasten und entmutigen als das Wissen um das, was geschehen könnte.
„Sie können ihr Leben ganz normal weiterleben, müssen allerdings verschiedene Tabletten einnehmen. Diese sollten das Zittern eindämmen, das sie behindert. Also eigentlich sollte es den Mangel an Dopamin aufheben, die noch vorhandenen Botenstoffe erhalten und auch das Zittern im Knie dämmen. Ich werde ihnen später die genauen Eigenschaften der Medikamente erklären. Sie werden regelmässig zur Kontrolle kommen müssen, damit wir Änderungen und das Fortschreiten der Krankheit frühzeitig erkennen und sie entsprechend behandeln können."
Raphael Tanner, der 32-jährige, doch eigentlich noch junge Mann mit braunen, fast schwarzen Haaren und blauen Augen, die einen schönen Kontrast zu seinem sonst eher dunklen Teint malen, konnte dem Arzt nicht mehr zuhören. Es ging hier um sein Leben und der Arzt redet von ihm so, als ob er ein Wissenschaftsprojekt sei. In seinem weissen langen Arztkittel sah der Doktor eher wie ein angsteinflössender Dämon aus, der sein Leben zerstören wollte. Alles Menschliche war aus dem Gesicht des Arztes gewichen, er war wieder mit Leib und Seele der Wissenschaftler und verhielt sich so, als müsste er nicht einem Menschen verkünden, dass sein Körper zerbrechen wird – und damit schlussendlich seine Seele, seinen Charakter und seine ganze Persönlichkeit. Er verhielt sich so, als würde er ein wissenschaftliches Experiment erläutern.
Raphael Tanner wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er wusste nicht, was der Arzt für eine Antwort erwarten würde. Er wusste nicht, wie man sich als Kranker einem Arzt gegenüber verhielt. Und er wollte es eigentlich auch gar nicht wissen.
************
Jessica spürte eine plötzliche Unruhe, eine Angst, die langsam aus ihrem Innern an die Oberfläche kroch. Sie wurde unruhig, nervös und fing an, mit dem Kugelschreiber auf ihren Schreibtisch zu hämmern. Sie war sonst nicht so. Im Gegenteil: Sie war eine ruhige, überlegte Persönlichkeit und verströmte auch in schwierigen Zeiten meist eine tiefe Gelassenheit.