In der Bar zum Krokodil: Lieder und Songs als Gedichte
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Dirk von Petersdorff liest Lieder und Songs als Gedichte. Sie sind »leicht« und »einfach«, wie schon Herder feststellte, gehen aus der »reichen und für alle fühlbaren Natur hervor« und verbinden Sprache und Musik. Lieder und Songs sind in Lebensvollzüge eingebunden, und gerade in ihrer Einfachheit können sie komplizierte Gefühlszustände ausdrücken.
Dirk von Petersdorff untersucht drei Phasen der Geschichte des Lieds: Die Romantik von Clemens Brentanos Erfindungen alter Lieder bis zu Heinrich Heines Selbstparodien; die 1920er Jahre mit dem Witz der Comedian Harmonists, den Liebesexperimenten Marlene Dietrichs und den vielen Stimmen der Dreigroschenoper; die Gegenwart seit den 1970er Jahren von Udo Lindenbergs Wiedereinsatz, über die skeptischen Songs von Tocotronic bis zu den Erkundungen eines ungesicherten Ich bei Sven Regener, Judith Holofernes oder im Rap. Immer geht es um die Form von Liedern, also um ihre Rhythmik oder den Einsatz von Reimen, aber ebenso um den historischen Zusammenhang, in dem sie entstehen. Der Lyriker und Literaturwissenschaftler zeigt, dass die Songwriter selbst ein Bewusstsein von der Geschichte des Lieds besitzen, dass sie um ihre Vorläufer wissen und deren Lieder weitersingen.
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In der Bar zum Krokodil - Dirk von Petersdorff
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Was ist ein Lied?
Auch wenn sich leicht Phänomene benennen lassen, die als ›Lied‹ oder ›Song‹ gelten: Die Bestimmung dieser Begriffe fällt nicht ganz leicht. In einem Artikel aus dem Handbuch der literarischen Gattungen werden drei Typen unterschieden:[10] 1. Das Lied »im engeren Sinne also als Zusammenspiel von Text und Musik«. Ein Beispiel dafür wäre der genannte Dylan-Song, in dem beides untrennbar zusammengehört. Denn die Texte bilden in diesem Fall die eine Hälfte eines Produkts, das sich durch seine »Medienüberschreitung« auszeichnet, wie es der Handbuchartikel nennt. 2. Das Kunstlied »als vertonter lyrischer Text, also als Lied, dem die Musik nur zum Zwecke einer nachträglichen Vertonung hinzugefügt wurde«. Ein solcher nachträglich vertonter Text ist Der Lindenbaum. Er ist Teil des Gedichtzyklus Die Winterreise, dessen Texte von Wilhelm Müller 1823 und 1824 veröffentlicht wurden. Schubert entdeckte und vertonte sie 1827, ohne dass es zu einem nachweisbaren Kontakt von Dichter und Komponist gekommen wäre. 3. Das Lied »als eigene literarische Gattung, die sich zwar formal in die Tradition des Strophenliedes stellt, jedoch weder auf Musik oder Gesang bezogen noch auf sie angewiesen ist«. Als Lied kann also auch ein ausschließlich sprachlich-literarisches Phänomen gelten. Das Lied in diesem Sinn stellt eine Untergattung der Lyrik dar, befindet sich also auf einer Ebene mit dem Sonett oder der Ode. Für manche Autoren war das Lied die wichtigste lyrische Gattung. Heinrich Heines Werk zum Beispiel besteht hauptsächlich aus Liedern, von denen viele nachträglich vertont wurden, andere aber nicht, und ganz unabhängig davon bezeichnet man seine Gedichte, wenn man sie literaturwissenschaftlich betrachtet, als Lieder.
Damit stellt sich die Frage, welche Kennzeichen ein solches Lied-Gedicht besitzt und wie man es von anderen lyrischen Formen unterscheiden kann. Vorschläge dazu findet man bei einem Autor, Sammler und Theoretiker des Lieds, bei Johann Gottfried Herder. Seine Beschäftigung mit dem Lied findet in den 1770er-Jahren statt, also in der Phase des ›Sturm und Drang‹. 1778 und 1779 erscheint in zwei Teilen die europäisch angelegte Sammlung Volkslieder, die später den Titel Stimmen der Völker in Liedern erhielt. In der Einleitung zum zweiten Teil charakterisiert Herder das Lied als »leicht, einfach«, aus »Gegenständen« und aus der »Sprache der Menge, so wie der reichen und für alle fühlbaren Natur« hervorgegangen.[11] Damit ist einiges gesagt: Das Lied zeichnet sich im Vergleich zu anderen Gedichtarten durch eine relativ geringe Komplexität aus. Die Themen des Lieds sind allgemein geteilte Erfahrungen, Situationen und Zustände, die möglichst viele Menschen erlebt haben. (So kann man auch den Begriff des ›Volkslieds‹ neutraler und ohne politischen Beiklang fassen.) Die Sprache des Lieds sollte keine Begriffe enthalten, die nur kleinen gesellschaftlichen Gruppen bekannt sind. Auch die Syntax wird der »Sprache der Menge« folgen, also überschaubar und gut erfassbar sein.
Wenn Herder von der »reichen und für alle fühlbaren Natur« spricht, dann meint er die äußere Natur, die den Schauplatz vieler Lieder bildet und aus der die meisten Symbole stammen. Typische Räume und Gegenstände sind Wiesen, Bäche, Blumen und Bäume. Heinrich Heine bemerkte später in seiner Charakterisierung der Volkslieder: »Die Linde spielt nämlich eine Hauptrolle in diesen Liedern, in ihrem Schatten kosen des Abends die Liebenden, sie ist ihr Lieblingsbaum, und vielleicht aus dem Grunde, weil das Lindenblatt die Form eines Menschenherzens zeigt.«[12]
Aber Herders Bemerkung kann auch die Natur des Menschen einschließen, also sinnliche Erfahrungen wie das Sehen, Hören und Schmecken und auch Gefühlszustände. Die Trauer des Menschen, der sich fremd und unverstanden fühlt, wie sie Die Winterreise ausdrückt – auch sie gehört zur »für alle fühlbaren Natur«. Ebenso der gemischte Gefühlszustand, den das Abendlied von Matthias Claudius heraufruft: die Verbindung der Geborgenheit mit dem »Jammer« des Tages, der noch im Kopf herumgeht und den man »verschlafen und vergessen« darf.[13]
An einer anderen Stelle seiner Einleitung in die Liedersammlung erklärt Herder, dass das »Wesen« des Lieds »Gesang, nicht Gemälde« sei, dass es den Leser durch den »melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung« mitziehe, bis das Ohr in diesem Klang »fortschwimmet«.[14] Was meint er damit? In Einführungen in die Gedichtanalyse wie der viel erprobten von Dieter Burdorf findet man Kapitel zur Bildlichkeit des Gedichts und zur Metrik oder Rhythmik.[15] Damit sind Merkmale von Gedichten angesprochen: Sowohl durch ihre Rhythmisierung wie auch durch ihren konzentrierten Einsatz von Bildern weicht lyrische Sprache von der Normalsprache ab. Im Fall des Lieds, so behauptet Herder, ist die rhythmische Qualität viel wichtiger als die bildliche. Das Lied muss »gehört werden, nicht gesehen«, muss also eine markante rhythmische Struktur besitzen, die auf den Leser auch körperlich wirkt.[16] Es ist nicht nur Buchstabe, geht nicht nur durch Verstand und Vernunft in uns ein, sondern ergreift den ganzen Menschen.
Schließlich spricht Herder auch über die Entstehung und Veränderung von Liedern. So kann die Melodie eines Lieds genommen und mit einem neuen Text versehen werden. Gerade im Fall von Kirchenliedern und politischen Liedern ist dies sehr oft geschehen. Oder der Inhalt eines Lieds wird verändert: »Hätte ein Lied von guter Weise einzelne merkliche Fehler; die Fehler verlieren sich, die schlechten Strophen werden nicht mit gesungen.«[17] Die Textbasis ist also variabel. Auch in berühmten Liedern werden Strophen beim Singen oft ausgelassen: Der Mond ist aufgegangen umfasst nach dem Willen seines Autors eigentlich sieben Strophen. In den meisten Liederbüchern finden sich aber nur fünf, ohne dass diese Kürzung als problematisch angesehen würde. Die Praxis leichter Veränderungen eines Liedtexts kann man in der Winterreise erkennen. Schubert griff an einigen Stellen in Müllers Gedichte ein. Wo es in Müllers Im Dorfe heißt: »Die Menschen schnarchen in ihren Betten«, schreibt und vertont Schubert: »Es schlafen die Menschen in ihren Betten.«[18] Schnarchgeräusche schienen ihm nicht in gefühlvolle Lieder zu passen. Wie aber ein wirklich freier oder auch wilder Umgang mit alten Liedern aussieht, aus denen ein neues hervorgeht, soll die folgende Geschichte zeigen.
Clemens Brentanos Mixtechnik
Die große Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn erschien 1805 und 1808 in drei Bänden. Die Herausgeber Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben ihr den Untertitel Alte deutsche Lieder, und damit ist ihr Programm benannt, denn sie behaupteten, verstreute Lieder aus vergangenen Jahrhunderten zusammenzutragen. Im zweiten Band des Wunderhorn steht das Lied Laß rauschen Lieb, laß rauschen, das den eingeklammerten Zusatz »mündlich« enthält. Es soll sich damit um ein Lied handeln, das aus der mündlichen Überlieferung stammt und beim Hören aufgezeichnet wurde, im Rahmen einer Feldforschung sozusagen:
LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)
Ich hört ein Sichlein rauschen,
Wohl rauschen durch das Korn,
Ich hört ein Mägdlein klagen,
Sie hätt ihr Lieb verlorn.
Laß rauschen Lieb, laß rauschen,
Ich acht nicht, wie es geht,
Ich thät mein Lieb vertauschen
In Veilchen und im Klee.
Du hast ein Mägdlein worben
In Veilchen und im Klee,
So steh ich hier alleine,
Thut meinem Herzen weh.
Ich hör ein Hirschlein rauschen
Wohl rauschen durch den Wald,
Ich hör mein Lieb sich klagen,
Die Lieb verrauscht so bald.
Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,
Ich weiß nicht, wie mir wird,
Die Bächlein immer rauschen,
Und keines sich verirrt.[19]
Wenn das Lied beim ersten Lesen wie aus einem Guss wirkt, dann spricht dies für das literarische Geschick Clemens Brentanos, der es bearbeitet hat, wobei statt von Bearbeitung auch von Erfindung die Rede sein könnte. Denn fragt man nach den zugrunde liegenden Quellen und zerlegt den Text in seine Bestandteile, dann ergibt sich eine angesichts der Kürze erstaunliche Heterogenität. Dem Lied liegen drei verschiedene Quellen zugrunde, und die letzte Strophe hat Brentano selber geschrieben. Markiert man das graphisch, dann sieht das Ganze so aus:
LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN
(Mündlich.)
Q1 Ich hört ein Sichlein rauschen,
Wohl rauschen durch das Korn,
Ich hört ein Mägdlein klagen,
Sie hätt ihr Lieb verlorn.
Q2 Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,
Ich acht nicht, wie es geht,
Ich thät mein Lieb vertauschen
In Veilchen und im Klee.
Du hast ein Mägdlein worben
In Veilchen und im Klee,
So steh