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Alles wird gut mit 50 Kilogramm: Bulimie und das, was ich lernte
Alles wird gut mit 50 Kilogramm: Bulimie und das, was ich lernte
Alles wird gut mit 50 Kilogramm: Bulimie und das, was ich lernte
Ebook350 pages5 hours

Alles wird gut mit 50 Kilogramm: Bulimie und das, was ich lernte

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About this ebook

Lara ist 18 Jahre alt und geht in die zwölfte Klasse. Gerade ist sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausgezogen und hat ihre kleine Schwester bei der Mutter zurückgelassen, die immer nur meckert. Trotzdem gelingt es ihr kaum, den eigenen Ansprüchen zu genügen – das setzt sie immer mehr unter Druck. Wenn sie doch zumindest dünn sein könnte! Doch selbst das Hungern "schafft" sie nicht. Langsam gerät sie in einen Teufelskreis aus Fressen und Brechen …
Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, bietet dieser Erfahrungsbericht einen persönlichen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt, die düsteren Stunden und Therapieerfolge eines essgestörten Teenagers. Das Buch wendet sich gleichermaßen an Betroffene und Außenstehende und zeigt, wie bedeutsam die Unterstützung durch einen Lehrer bei dieser Erkrankung sein kann.
LanguageDeutsch
PublisherMabuse-Verlag
Release dateMar 13, 2017
ISBN9783863213565
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    Book preview

    Alles wird gut mit 50 Kilogramm - Lara Brockhage

    heute?

    Vorab ein Dankeschön!

    Ich danke allen lieben Menschen, die sich meiner angenommen und mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin! Dank euch allen durfte ich groß werden.

    Ich danke meinem Tutor. Eigentlich habe ich ihm das auch schon oft genug gesagt, möchte mich an dieser Stelle allerdings gerne selbst zitieren, da dieser Satz im Mai 2013 doch wieder zu einer Diskussion führte: „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie so viel für mich getan haben!"

    Wenn ich das gesagt habe, hat er immer nur schräg geguckt, über beide Ohren gegrinst und gefragt, was er denn so Großes getan habe und dass ich 98 Prozent davon eigentlich selbst fabriziert hätte. An dieser Stelle möchte ich meine Aussage berichtigen:

    Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie sich genommen und die ich so gebraucht habe. Das, was für Sie so selbstverständlich ist, war es für mich nicht. Danke dafür, dass ich von Ihnen lernen durfte, es war mir eine Ehre. Danke für den Anstoß in die richtige Richtung oder wie Sie es oft ausgedrückt haben: „Ich kann höchstens das Sprungbrett sein." Das waren Sie!

    Was ist schon real …

    Die Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen. Immer wenn ich mit meinem Papa unterwegs war, hieß es: „Wenn ich Ihre Tochter so sehe … Ganz der Papa!" Dabei sind wir biologisch überhaupt nicht miteinander verwandt. Ich bin nicht die Tochter meiner Eltern.

    Ich wurde von Altruisten großgezogen. Von Menschen, die sich für andere Menschen interessieren. Leute, die eigentlich eine eigene Familie haben und dennoch nicht davor zurückschrecken, sich um Aussätzige, wie mich, zu sorgen und zu kümmern. Und im Nachhinein betrachtet, habe ich mehr Glück erlebt als manch ein Kind zu Hause, bei seinen leiblichen Eltern. Aber fangen wir von vorne an.

    Am 11. September 1993 erblickte ich das Licht der Welt. Mein leiblicher Vater war ein paar Jahre zuvor aus der DDR geflüchtet und traf, wie der Zufall es so wollte, auf meine Mutter. Wie das dann so ist, mit den Bienen und Blümchen, wurde sie mit mir schwanger. Die genauen Gründe, warum mein leiblicher Vater noch vor meiner Geburt zurück in den Osten wollte, kenne ich nicht. Fakt ist nur, dass er bis heute sagt, dass ich damals von seiner Seite aus ein Fehler gewesen sei. Keine Frage, es sei schön, dass es mich gibt. Aber er wollte kein Kind und wies nach meiner Geburt auch alle Verantwortung von sich.

    Mit zwei Jahren, also Ende 1995, lernte ich dann meinen Papa kennen. Es hat von Anfang an einfach alles zwischen uns gepasst! Da mein Papa die Rolle meines Vaters ohne weiteres annahm, stellte sich für mich auch nie die Frage, wer oder was mein „echter" Vater ist.

    Ab dem 22. Mai 2000 waren wir dann zu viert, meine Schwester Mini wurde geboren. Das müsste auch der Zeitraum sein, an dem ich meinen leiblichen Vater das erste Mal bewusst kennengelernt habe. Im August 2002 versuchte mein Mutter Suizid zu begehen. Aus dieser Zeit habe ich leider nur wenige echte Informationen und meine eigenen Erinnerungen sind sehr lückenhaft. Mir ist nicht bekannt, was (noch) vorgefallen ist, jedenfalls ist meine Mutter danach nicht zu uns dreien zurückgekommen. Aus Erzählungen weiß ich, dass Mini und ich meine Mutter in halbwegs regelmäßigen Abständen besucht haben, aber auch daran kann ich mich nicht erinnern.

    Die erste Erinnerung danach ist die an ein Richterzimmer. Es war bereits der zweite Prozess, der des Oberlandesgerichts. Es ging um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für meine Schwester und mich. Meine Mutter ist irgendwann nach ihrem Verschwinden auf die Idee gekommen, dass ich bei ihr leben solle. Mini war gar kein Gegenstand des Streitwerts, im ersten Prozess. Ich nehme an, dass mein Papa und ich auch aus diesem Grund den ersten Prozess gewonnen hatten. Wie auch immer, meine Mutter hat dann zur nächsthöheren Instanz gewechselt. Keine Ahnung, was diese Richter damals geraucht hatten, aber in dem Urteil steht, dass das Kindeswohl bei der Antragstellerin überhaupt nicht gefährdet sei und dass es auch keine Anhaltspunkte dafür gäbe. Den Suizid einfach einmal außer Acht gelassen …

    Nach dem Richterzimmer ist die nächste Erinnerung an diese Zeit die Nachricht, dass meine Schwester und ich in den nächsten Sommerferien den Wohnort zu unserer Mutter wechseln würden. Ich habe meinen Vater noch nie so traurig gesehen. Es war der schwerste Abschied meines Lebens! In den Ferien zogen wir dann also von einem Fachwerkhaus mit fünf Zimmern, eigenem Spielplatz im Garten und Spielwiese im Wohnzimmer in eine kleine Zweizimmerwohnung im dritten Stock, wo wir uns alle ein Schlafzimmer teilten und der Fahrstuhl andauernd ausfiel. Ich war damals neun Jahre alt und schon damals hatte ich so viel Angst vor ihr. Sie war für mich einfach so ungreifbar und unberechenbar. Nachdem wir zu ihr gezogen waren, hatte sie mir bis zu meiner Volljährigkeit oft damit gedroht, mich von meinem Papa fern zu halten, die Besuchswochenenden zu verbieten. Im Nachhinein ist das natürlich lächerlich, aber habe ich ihren Worten als Kind Glauben geschenkt und fürchtete jede Woche wieder, meinen Papa nicht mehr sehen zu dürfen. Und in diesem „Zuhause" habe ich ganz schön lange ausgehalten …

    Aber was ist eigentlich ein Zuhause? Ich habe diesen Begriff als sehr variabel kennengelernt. Im Kleinkindalter habe ich zu jedem gesagt, dass ich ihn lieb habe, bin mit jedem mitgegangen. Der Albtraum aller Eltern. Doch sind meine leiblichen Eltern dafür verantwortlich, dass ich in dem Alter nichts Besseres gelernt hatte. Gesunde Distanz und Offenheit habe ich erst von meinem Papa gelernt. Von dem Mann, der mich als sein eigenes Kind aufgenommen hat. Als sich meine leibliche Mutter von ihm getrennt hat und meine Schwester und ich zu ihr ziehen mussten, ist vieles schief gelaufen. Aber auch hier hatte ich wieder Glück im Unglück, ich fand ein neues „Zuhause": die Schule.

    Ich bin der lebende Beweis dafür, dass Schule mehr ist, als nur lesen, schreiben und rechnen. Mehr als nur PQ-Formel, Goethe-Schiller GmbH und Co KG und simple present. Zwischen Zellteilung, Knallgas und Elektromagnetismus finden sich tatsächlich Menschen. Die genauere Berufsbezeichnung ist: Lehrer. Doch was machen diese Lehrer? Einige Exemplare laufen, eins, zwei tapp, eins, zwei tapp, 90 Minuten lang neben dem Pult auf und ab. Andere sieht man nur ganz am Anfang der Stunde, sie klatschen uns das Arbeitsmaterial auf den Tisch und verschwinden. Es gibt aber auch noch eine weitere Art Lehrer. Lehrer, die handeln. Lehrer, die ein Leben verändern können. Es braucht nur einen oder zwei von ihnen an jeder Schule. Ich hatte das Glück, an jeder Schule so einen gefunden zu haben.

    Ich wollte immer nur eine Chance. Meine biologischen Eltern haben mir diese Chance nicht geben wollen. Meine Mutter vermutlich aus Desinteresse und Überforderung, und mein leiblicher Vater wollte mich schon vor meiner Geburt gar nicht erst kennenlernen. Ich habe mein Abi auch ohne die vermeintlich wichtigsten Menschen in meinem Leben geschafft. Denn wie gesagt, es gibt immer noch die Altruisten. Sei es der Mann, den ich Papa nenne, oder sei es der Mann, den ich als Tutor hatte. Sie haben eins gemeinsam. Sie gaben mir eine Chance. Und wenn man eine Pflanze hegt und pflegt, wird sie irgendwann wachsen. Trotz Frost, Asphalt oder was auch immer.

    Zwischendurch kann man sich mal verirren … Falsche Vorstellungen vom Leben haben, Illusionen hinterherträumen … Was ist schon real, wenn man den Bezug zu Realität nicht von zu Hause lernt? Es gibt Wege, die Realität wiederzufinden. Manchmal muss man nur die richtigen Fragen stellen, im passenden Augenblick. Und manchmal braucht man Hilfe dabei.

    Jeder, der glaubt, dass es bei Essstörungen nur ums Essen geht, liegt falsch, denn es geht um so viel mehr. Von außen mag es tatsächlich ums Essen gehen, aber tief innen drin ist das stille Wasser laut. Es geht um Persönlichkeit, Selbstbewusstsein, Liebe, Intelligenz und Ehrlichkeit und noch vieles mehr.

    50 Kilo

    Seit Wochen immer wieder dasselbe: jeden Tag zur Schule, jeden Tag nach Hause, jeden Tag dasselbe Grau. Ich hasse es. Es ist schon einige Zeit her, dass ich einmal froh war, es ist schon länger her, dass ich einen Tag nicht geheult habe. Aber ich liebe es, zur Schule zu gehen! Sie ist einfach alles für mich. Ich komme mit dem Gedanken nicht klar, dass es nächstes Jahr schon zu Ende sein soll.

    Mein Name ist Lara, ich bin süße 18 und gehe in den zwölften Jahrgang unserer Gesamtschule. Tja, keiner von all diesen Narren hätte mir das zugetraut, eigentlich.

    „Aus dir wird sowieso nichts! Wer zu blöd ist, ein paar Vokabeln zu lernen …"

    „So viel Dummheit auf einem Haufen kann doch echt nicht möglich sein."

    „Das kann nicht sein, du wurdest mit Sicherheit bei der Geburt vertauscht. Du bist mit Sicherheit nicht meine Tochter!"

    Leute, ich widerspreche nur ungern, aber ich hab’ es bis hierher geschafft. Ganz allein! Aber so ist das mit der Familie, man kann sie sich halt nicht aussuchen. Und vor allem, die haben immer Recht. Und wenn die Unrecht haben, wird einfach so lange weiter tiradiert, bis sie Recht haben. Anscheinend brauchen die das für ihr Ego.

    Wie auch immer, was lange währt, wird irgendwann auch gut, hoffe ich zumindest. Wenigstens eins kann mir niemand mies machen und das sind die Naturwissenschaften. Ich liebe Physik, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Und Bio ist auch etwas Besonderes. Ich lebe dafür. Habe beide Fächer als Leistungskurse gewählt. In Physik stehe ich im Moment leider nur bei drei Punkten, aber das wird schon … Angeblich hatte Einstein ja in Mathe auch nur eine Vier. Und abgesehen davon ist ein Physikstudium auch nicht mit dem Schrott zu vergleichen, den wir in der Schule machen. Mein größter Wunsch ist ein Physikstudium. Es gibt einfach nichts Besseres, nichts Wertvolleres für mich.

    Ihr werdet sehen, was in mir steckt. Irgendwann werdet ihr alle begreifen, zu was ich in der Lage bin. Ihr werdet mich noch kennenlernen und dann wird es euch endlich leidtun, je an mir gezweifelt zu haben!

    Ich öffne die Eingangstür der Schule. Die Schule hat schon vor zwei Monaten oder so wieder angefangen. Es ist menschenleer. Aber wozu abhetzen … Ist eh alles egal. Ich kann auch das Getuschel der anderen Schüler nicht ab, wenn ich jetzt einfach so hereinplatze. Ist auch schon halb neun. Ich habe mir heute wieder keine Mühe gemacht, mehr als eine Jogginghose anzuziehen und irgendein Oberteil … Meine langen braunen Haare irgendwie schlampig zusammengebunden. Wie ich sonst aussehe, weiß ich nicht. Ich habe heute noch nicht in den Spiegel geschaut, die letzten Tage auch nicht. Ich könnte es nicht ertragen. Keine Ahnung … Ich nehme mir ein paar Sachen aus meinem Fach und setze mich in den Raum für Freistunden, der ist um diese Zeit leer. Ich mag keine Menschen. Sie lenken vom Ziel ab.

    Heute Morgen stand ich wieder auf der Waage, 57,4 Kilo. Gestern waren es gerade mal 57 und kaum einen Tag später so etwas … Immerhin besser als in der Elften, da hatte ich oft über 60.

    Bald ist Pause, erst einmal eine rauchen gehen, in der Rauchergasse, da bin ich auch ungestört. Und danach irgendein Unterricht. Auf dem Weg nach draußen begegne ich keiner Menschenseele, wie immer. Auf dem Rückweg in den Klassenraum auch nicht, aber der Raum selbst ist bis oben hin mit Schülern gefüllt. Ich setze mich auf meinen Platz, da wo sonst keiner sitzen will. In jedem Kurs ist es gleich, entweder sitze ich neben der Tür am Rand, vorne beim Lehrer am Rand oder natürlich sonst wo am Rand. Ich fühle mich unwohl in der Masse.

    Die meisten von denen finden mich, glaube ich, komisch. Ich komme morgens immer zu spät oder komme erst zur Dritten, trage für ein Mädchen viel zu oft Jogginghosen, und auch mein Gesicht … Nicht hübsch genug, nicht schnell genug, nicht fleißig genug. Die Liste ist lang. Ich bin halt nicht die Vorzeigeschülerin, die immer top aussieht, mit den Maßen 90-60-90 bei einer Größe von 1,75 und einem BMI von 18,0. Nein, sorry, da werde ich auch niemals hinkommen, dafür reicht es einfach nicht.

    Wieder zu Hause schleppe ich mich die schmale Treppe rauf, erst einmal aufs Sofa und Glotze an. Die Mühe, meine Jacke auszuziehen, mache ich mir gar nicht erst. Ich bin einfach übelst kaputt, kaputt vom Nichtstun. Grau in grau, wie jeden Tag. Ich setze mich vor die Heizung, wie jeden Tag, und heule, auch wie jeden Tag. Ich nehme mir ein Schulbuch und fange an zu lesen, ich muss mich vorbereiten. Die Klausurphase fängt bald an und von nichts kommt bekanntlich auch nichts, was auch irgendwie meine miserablen Noten erklärt. Das ist halt so, von klein auf lernt man doch „ohne Fleiß kein Preis" … Und wer darauf nicht hören will, muss fühlen …

    20 Uhr, es wird Zeit, was anderes zu machen. Ich gehe runter, wo Lennis Auto gleich stehen müsste, um mich abzuholen. Auch so wie jeden Abend … Lenni und ich kennen uns von der Feuerwehr und mittlerweile ist er mein bester Freund geworden. Er ist auch eher der zurückhaltende Typ. Dass er so viel älter ist als ich, stört uns nicht. Wir können uns einfach gut unterhalten, fast egal, worum es geht. Er gehört zu den Menschen, auf die man sich 110-prozentig verlassen kann. Besonders schätze ich, dass er nie einfach so seinen Senf dazu gibt. Vor allem hält er sich dann zurück, wenn es mir nicht besonders geht. Ich muss mich bei ihm auch nicht verbiegen. Er kann mich ertragen, wie ich bin. Er fragt, wie mein Tag so gelaufen sei. Ich antworte dasselbe wie sonst auch: „Eigentlich wie immer." Gähnende Leere erfüllt meinen Tag. Es ist immer alles wie immer. Und das hasse ich.

    Bei ihm angekommen, hocke ich mich aufs Sofa in die letzte Ecke, wie immer. Kapuze auf, wie immer. Fernseher an, wie immer. Müsste auch mal wieder was essen, wie immer … Hab’ das irgendwie vergessen, auch wie immer! So die letzten vier Tage, was soll’s. Nicht so schlimm, kann mir ja nur zugutekommen. Will doch eh abnehmen. Ich trinke einen Schluck Cola light, damit ich meine 0-Diät fortführen kann.

    Lenni hat sich was zu essen gemacht und stellt das Ganze auf den Wohnzimmertisch und meint, dass er etwas mehr gemacht hätte, nur für den Fall, dass ich doch etwas möchte. Hmm, ich kann mich dann doch nicht beherrschen, es ist einfach zu verlockend und der Geruch treibt mir den Hunger wieder zurück … Auch wenn ich vorher keinen Hunger hatte. Das ist wirklich so eine witzige Sache mit dem Hunger. Den ersten Tag nichts essen geht eigentlich, wenn man die nötige Disziplin hat. Am zweiten Tag finde ich das alles doch etwas problematisch. Mein Magen krampft sich bei jedem Geruch zusammen und es schmerzt fürchterlich. Ich bitte Lenni dann immer, zu essen, bevor er mich abholt. Aber nach dem dritten Tag bin ich endlich frei. Frei von allem. Es ist zwar flau, aber es gibt keinen Hunger mehr, er ist einfach verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst. Ich bin enttäuscht von mir, dass ich das alles schon wieder für ein Stückchen überbackenes Brot mit Tomate und Mozzarella aufgegeben habe. Jetzt muss ich von vorne anfangen.

    Die Waage sagt 54,2 Kilo. Noch 4,2 Kilo, dann habe ich es endlich geschafft. Mein Traumgewicht. Dann sehe ich endlich gut aus.

    Das letzte Mal, als ich probiert habe, 50 Kilo zu erreichen, liegt zwei Jahre zurück. Zu der Zeit habe ich noch mit meiner Mutter und meiner Schwester Mini zusammengelebt. Meine Mutter sagte immer, dass ich zu dick sei, und das nicht nur vor zwei Jahren, sondern bestimmt schon seitdem ich zwölf war. Und sie hatte Recht. In kaum einem Klamottenladen gab es etwas für mich, von dem ich hätte sagen können, dass es mir stünde. Abgesehen davon ging es eiskalt auf den Abschluss nach der Zehnten zu – und den Abschlussball.

    Mit anderen Mädchen aus meiner Klasse hatte ich mich vergeblich zu messen versucht. Die hatten einfach bessere Maße. Meine Mutter hat immer gesagt, wie hübsch Kathlin ist, wenn sie bei uns war. Wobei ich meistens bei ihr war, damit ich einfach mal rauskam, für kurze Zeit meine Ruhe vor meiner Mutter hatte. However, wir wollten gemeinsam eine gute Figur auf dem Abschlussball machen und beschlossen daher abzunehmen. Ich dachte mir: Okay, Kathlin würde ich wahrscheinlich nicht einholen, aber vielleicht bin ich dann endlich hübsch genug für ein schönes Kleid, hübsch genug für meine Mama. Kathlin hatte mehr Geld und kaufte sich Tabletten, die ihr beim Abnehmen helfen sollten, und die Dinger waren echt teuer. Selbst wenn ich alles zusammenkratzen würde, ich bekäme nie genug zusammen.

    50 Kilo, das war unser Ziel. Ich erinnere mich daran, als hätte sie erst gestern zu mir gesagt: „50 Kilo, und alles ist perfekt."

    Perfekt. Dann bin ich endlich perfekt.

    Da Kathlin ihren Diätplan schon fertig hatte und sowieso weiter unten anfing, musste ich mir wirklich überlegen, wie ich dagegen ankommen sollte. Sie wog bereits 56 Kilo und ich 65. Sie ging die ganze Sache also relativ gechillt an, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wie ich alles schaffen sollte. Ja, okay, viel für die Abschlussarbeiten lernen musste ich nicht, aber das Nötigste musste ich schon machen. Sport war fast unmöglich, aufgrund meines ständigen Hausarrests. Und da meine Mutter mich keine Minute in Ruhe ließ, konnte ich höchstens ein paar Übungen am Abend machen.

    Also habe ich meinen Joggingplan vor die Schulzeit gelegt, da Mama morgens muffelig unterwegs war und sowieso nicht mitbekam, wenn ich rein und raus huschte. Abgesehen davon sahen wir uns morgens eh nie, da das Bad meiner Schwester und ihr gehörte. Ich stand für gewöhnlich erst auf, wenn die beiden schon quasi aus der Tür waren. Übrigens gab es in der Wohnung kaum Anzeichen, dass ich überhaupt mit den beiden zusammenwohnte, da ich alles, was mir gehörte oder was ich benutzte, auch in meinem Zimmer aufbewahrte, so mein eigenes Duschzeug, Zahnbürste und so weiter. Das Klopapier konnte ich mitbenutzen, aber meine Schwester und ich sollten nicht mehr als drei Blatt pro Toilettengang abziehen … Ob Mini diese Regel befolgt hat, weiß ich nicht, aber ich hab’ es getan. Denn hätte meine Mutter herausgefunden, dass ich mich nicht daran hielt, dann hätte ich nicht wissen können, was passiert wäre.

    Also morgens drei Kilometer laufen. Jeden Morgen stand ich um fünf Uhr auf. Ich hatte mich doch dazu entschieden, über meinen Balkon rein und raus zu gehen. Ich hatte einfach zu viel Angst davor, dass Mama etwas Neues fand, was sie mir wegnehmen konnte. Außerdem ging ich den mit Hin- und Rückweg drei Kilometer langen Schulweg jeden Tag zu Fuß. Und ich hatte mir überlegt, da ich eh schon seit einem Jahr Vegetarierin war, die erste Zeit nur von Eisbergsalat mit Tomate zu leben. Waren ja viele Vitamine drin, Salat ist bekanntlich gesund und so, eine gute Idee. Käse konnte ich leider nicht nehmen, weil Mama irgendwie ausschließlich Sahnekäse oder Käsesahne kaufte.

    Ich musste mich also nur noch dazu bekommen, nachmittags die Finger vom Essen zu lassen. Auch dazu hatte ich schon eine Idee. Ich stellte mir die Frage, wann ich eigentlich am unliebsten aß. Und das war nicht schwer zu beantworten. Ganz einfach, wenn ich zur Sau gemacht wurde oder mir übel war. Liebe geht bekanntlich durch den Magen, dachte ich. Stress aber auch. Okay, zur Sau hätte ich mich selbst nicht machen können, aber alles andere war meine Entscheidung.

    Mein Tagesablauf sah jetzt so aus: Morgens um fünf Uhr laufen, einen Liter Wasser und einen Liter Milch für die Schule einpacken, 1,5 Kilometer zu Fuß zur Schule gehen, danach 1,5 Kilometer nach Hause, auf dem Rückweg einen kleinen Zwischenstopp einlegen, um den Liter Milch zu exen und wieder auszukotzen, zu Hause elend fühlen, bis abends dann irgendwas machen, Salat essen und mir anhören, was ich alles vergessen hatte über den Tag, weil ich ja so dumm, scheiße und dumm bin, kurze Trainingseinheit in meinem Zimmer einlegen und dann ins Bett.

    Das Einzige, was nicht ganz geklappt hat, war das mit dem Salat … Mama hatte nämlich keinen gekauft. Sie war der Ansicht, dass mein Salatverschleiß viel zu hoch sei und dass ich viel zu teuer wäre in Bezug aufs Essen. Dass ich aber sonst nichts anderes mehr gegessen habe, hat sie irgendwie nicht mitbekommen. Ich strich also den Salat von meiner Tagesliste und übrig blieb dies:

    Morgens um fünf Uhr laufen gehen,

    einen Liter Wasser und einen Liter Milch für die Schule einpacken,

    1,5 Kilometer zu Fuß zur Schule,

    1,5 Kilometer nach Hause,

    den Liter Milch exen und wieder auskotzen,

    zu Hause elend fühlen,

    bis abends dann irgendetwas machen,

    eine Trainingseinheit

    und ins Bett.

    Nach zwei Wochen wog ich 53 Kilo und war im ersten Augenblick richtig stolz auf mich. Das Hungern jedoch forderte seinen Tribut. Die drei Kilometer morgens habe ich nicht mehr einfach so laufen können, ich war fix und alle. Allein mich abends aus meinen Klamotten zu schälen, war unglaublich anstrengend. Jeden Nachmittag bin ich schlafen gegangen und im Schulsport hab ich gar nichts mehr hinbekommen

    Aber, ohne Flachs, ich kann mich heute noch an jedes einzelne Wort meiner Mutter erinnern. Sie weiß allerdings bis heute nicht, dass ich oben an der Treppe stand und jedes Wort gehört habe. Ihre Freundin war da und meinte zu ihr, dass ich echt dünn geworden sei und ob es mir nicht gut ginge in letzter Zeit. Meine Mama meinte darauf hin nur: „Nein, wieso? Nicht dass ich wüsste. Warum? Sie sieht doch endlich einmal gut aus, endlich ist sie mal schlank!" Aber hey, ich hatte es endlich geschafft, meine Mutter fand mich schlank, meine Mutter fand, dass ich gut aussah. Ich dachte mir, vielleicht mag sie mich ja jetzt. Ich dachte mir, jetzt erst recht!

    Meine Freude hielt aber nicht lange an. Denn nach zwei Wochen kam der Wiegetest mit Kathlin. Bei mir waren es nach dieser Zeit 53,2 Kilo. Bei ihr 52,6. Ich hatte mal wieder versagt, dabei war ich mir diesmal wirklich sicher, dass ich besser war als sie … Fast zwölf Kilo in zwei Wochen, das muss mir erst mal jemand nachmachen. Bei mir hatte sich so viel verändert, und bei ihr kaum, und es ist immer leichter geworden, während sie die ganze Zeit mühevoll kämpfen musste. Aber unterm Strich hatte sie das bessere Endergebnis und ich war einfach nur enttäuscht. Wie immer der zweite Platz.

    Mein Jugendwart von der Feuerwehr, Floh, hatte mein Hungern schon länger beobachtet. Als ich mich, trotz meiner Niederlage gegen Kathlin, voller Stolz in einem hautengen Oberteil zeigte, war ich über seine Reaktion etwas verwirrt. Überall hatte ich Applaus für diese Leistung geerntet, aber sein Blick war voller Skepsis und er meinte, er sei froh, dass ich jetzt wieder esse. Zu der Zeit habe ich nicht verstanden, warum er mir nicht gratulierte.

    Noch 4,2 Kilo, dann hab ich das geschafft, was ich das letzte Mal nicht erreicht habe, denn vor zwei Jahren nahm ich wieder zu. Wenn ich jetzt 50 Kilo erreiche, wird es leichter, ich sehe besser aus und die anderen bewundern mich dafür. Ich werde mich stolz und stark und groß fühlen. Wie ich dann durch die Gänge schreiten werde, Bauch rein und Brust raus. Ich werde so aussehen, wie gute Schüler, wie angehende Abiturienten auszusehen haben, und mir steht nichts mehr im Weg. Zur Selbstüberprüfung schreibe ich mir alles, was ich esse, auf und rechne es aus, nur um zu sehen, was alles noch überflüssig ist und was ich streichen kann.

    Die Zeit ist wieder viel zu schnell vergangen und die Klausurphase beginnt jetzt wirklich. Ich hoffe nur, dass ich gut genug vorbereitet bin. Ich lerne und lerne, jeden Abend bis spät in die Nacht, und nehme unzählige Nachhilfestunden, gerade für Physik.

    Nur wenn ich bei Papa bin, ist alles anders. Vor allem, wenn ich esse. Wenn ich bei ihm bin, komme ich zur Ruhe und kann nachts auch schlafen, ohne gelernt zu haben. Es ist so, als würde ich eine andere Welt betreten. Ich kann alles essen, ohne Angst davor haben zu müssen, hässlicher zu werden. Ich esse dort so wie jeder andere auch, morgens, mittags und abends. Und ich esse die Sachen, auf die ich Lust habe. Vor allem hab’ ich es mit Schokolade. Eiskonfekt, M&Ms und diesen Spielereien. Und wenn ich mal ein bisschen zu viel gegessen habe, ist das auch nicht schlimm. Man sagt, dass die Sättigung erst nach 20 Minuten einsetzt und 20 Minuten sind eine echt lange Zeit, in der man essen kann. In der Zeit kann ich weitaus mehr schaffen, als es für meinen Magen angemessen ist. Und ich stehe voll auf Kekse. Und wenn die noch mit Schokolade sind, dann raste ich vollkommen aus, ich bin einfach nicht mehr zu halten.

    Bei Papa ist das aber nicht so schlimm. Es ist einfach das Feeling, das stimmt, glaube ich. Mir geht es bei ihm gut. Ich komme endlich mal zur Ruhe. Sonst habe ich immer das Gefühl, zu spät zu sein. Keine Ahnung für was, aber egal, wie schnell ich laufe, egal, wie groß meine Schritte sind, ich bin immer ein kleines Stück zu langsam. Ich wünsche mir, dass dieses Gefühl von Ruhe ewig hält und gehe aufs Klo und kotze alles wieder aus, um danach fröhlich weiteressen zu können. Hauptsache ich kann diesen Augenblick für mich behalten und er geht nicht wieder verloren. Ja, okay, irgendwann fahre ich wieder zurück und dann hat es sich eh erledigt, ich muss auch zur Schule und so weiter. Aber ich kann diesen Augenblick wenigstens ein klein bisschen ausdehnen.

    Spieglein, Spieglein …

    Es ist schon wieder so spät. Ich habe wieder verpennt. Jeden Morgen dasselbe. Und was ziehe ich heute nur an? Ich rappe eine Klamotte nach der anderen aus dem Schrank. Noch drei Kilo lang bin ich hässlich … Es sieht alles einfach scheiße aus. Alles betont meinen viel zu dicken Bauch, meine viel zu dicke Taille, meine viel zu dicken Beine und meinen viel zu dicken Arsch. Obwohl ich mir gestern Abend und heute Morgen ausgiebig die Zähne mehrfach geputzt habe, geht der Kotzgeschmack nicht weg. Neues Outfit, neues Glück, denke ich nur. Letzten Endes läuft es wieder auf die gleiche, weite Jogginghose und den lockeren Pullover hinaus. Billig von New Yorker, meine Adidas- und Nikesachen bleiben im Schrank, wie immer, denn ich bin es nicht wert, sie zu tragen. New Yorker passt viel besser zu mir. Die Sachen sind genauso hässlich wie ich.

    Ich atme tief ein und mein Atem stockt, ich bekomme kaum Luft. Ich setze mich vor den Spiegel, zusammengekauert. „Kleines Pechmariechen", flüstere ich meinem Spiegelbild zu. Tränen laufen mir übers Gesicht. Tränen, die ich nicht wert bin. Um wen weine ich denn? Um das Rabenkind, das scheiße aussieht. Als ich dann los will, zur Schule, sehe ich so grau aus wie immer und ich weiß, dass sowieso niemand merken wird, dass ich heute Morgen mal wieder geweint habe. Wie gesagt, alles ist wie immer.

    Pünktlich, zur dritten Stunde, bin ich dann da, sogar überpünktlich. Ich habe noch 20 Minuten. Kein Lächeln, keine schönen Augen. Sie sind immer noch nass, aber wenn ich niemanden anschaue, dann schaut mich auch niemand an. Die Leute sehen nur, was sie sehen wollen, und nur, was ich sie sehen lasse. Wie sehen mich die anderen? Ich hoffe gar nicht. Bis zum Ende der sechsten Stunde komme ich durch, ohne ein Wort gesagt zu haben. Lippen kleben leicht zusammen, wenn man lange nichts sagt. Der Kotzgeschmack im Hals ist immer noch nicht weg und ich habe leichtes Halskratzen, ist aber nichts Ungewöhnliches, ich kenne das schon.

    Nach dem Unterricht setze ich mich

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