Wort_Zone 4.0: Magazin für neue Literatur
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Book preview
Wort_Zone 4.0 - Books on Demand
Editorial
Schreiben ist Kunst. – Ja.
Schreiben ist aber auch Gewerbe. Broterwerb. Zur Finanzierung eines Lebens. Eines Überlebens. Davon handelt der eine oder andere Text der vierten Ausgabe der »Wort_Zone«. Dieses Thema war nicht gewollt oder gesucht, es hat sich einfach eingestellt, hat sich sein Verbreitungsmedium gesucht …
Und damit das noch besser klappt, erscheint die »Wort_Zone« ab sofort als Online-Zeitschrift. Gratis als Download (wegen der quasi sekundenschnellen Verbreitung …).
Für Liebhaber von Papier, Druckfarbe und bunten Buchrücken in Wohnzimmerregalen wird es die »Wort_Zone« weiterhin aber auch als Printausgabe geben. Und als ebook. Die Leserinnen und Leser haben fortan die nahezu unbegrenzte freie Wahl. Und die Autorinnen und Autoren werden um ein Vielfaches mehr gelesen. Wohlan denn…
Klaus Isele
Inhalt
PROSA
Gianni Kuhn . Die Herrin der Quadrate
Beatrice Eichmann-Leutenegger . Der Stationsvorstand
Brigitte Tobler . Winterstaub
Ruedi Bind . Jürg Schubiger – Begegnung und Erinnerung
Hermann Kinder . Blick durch den (mittlerweile etwas abgebauten) Grenzzaun
Daniel Bürgin . Aquatinta
Barbara Fatzer . Mit Frankyboy nach Hagar Qim
Ana Lang . Da und weg
ESSAY
Iso Camartin . Ein Künstler, wie er im Buche steht. Über Martin Walser anlässlich einer Preisverleihung
Peter Salomon . Der Bodensee ist keine Nische mehr. Dankrede zur Verleihung des Bodensee-Literaturpreises 2016
Jochen Kelter . Dankrede für einen Preis, den ich nie bekommen habe. Ein kleines Kultur- und Sittenbild
Otto A. Böhmer . Die ganze Wahrheit. Der Dichter zur See Joseph Conrad
Peter Salomon . Das Phantom des Freien Schriftstellers. Eine polemische Adnote zum Literaturbtrieb
25 Fragen (Folge 4): beantwortet von Walter Neumann
Lieblingssätze aus empfehlenswerten Büchern
Rezensionen
Über die Autoren
Gianni Kuhn
Die Herrin der Quadrate
1. Was geschah
Michael und Anna sind im Sommer 2017 mit ihren beiden Töchtern Isabelle und Chloé von Zürich nach Paris umgezogen, wo sie in einem alten Atelier im Quartier Montparnasse wohnen. Anna arbeitet intensiv an ihrer Karriere als Fotografin. Im Herbst hat sie eine Ausstellung in einer Galerie in New York. Die Stadt scheint sie immer wieder anzuziehen, nicht nur damals, als sie auf der Flucht war. Die in diesem Buch abgedruckten Fotos sind so etwas wie ein Einblick in die Ausstellung. Dabei hat sie eine ganz eigene Sicht der Dinge, vor allem der Menschen. Sie hat ein grosses Herz, scheut sich aber auch nicht, mit der Kamera an die Beute ranzugehen, gerade in New York. Diese Stadt ist nun wirklich nichts für scheue Rehe. Ich denke an den Schweizer Fotografen Robert Frank, dem 1955 ein Guggenheim-Stipendium zugesprochen wurde. Das ermöglichte es ihm, mit seiner Familie durch die Vereinigten Staaten zu fahren. Dabei machte er rund 20.000 Fotos, aus denen er 83 zu seinem Buch The Americans zusammenstellte. Reichtum, Armut, Diskriminierung, Melancholie, Depression. Er zeigt alles in Schwarz und Weiss. Er schoss schnell, spontan, mit geübtem Blick, ohne dabei gross beachtet zu werden. Damit schaffte er diesen unglaublichen Zeitschnitt, der vor allem den Amerikanern zeigte, wie ihr Land, wie sie selbst wirklich waren. Er porträtierte gewissermassen eine ganze Zivilisation.
»Da wiehert wieder mal der Kunstgeschichte-Gaul.« Mit diesen Worten hätte mich mein Freund in meiner Rede über die Fotografie schon längst unterbrochen. Doch der ist nicht mehr da, tingelt mit seiner Jazzformation um den Globus, sucht sein Glück bei anderen Frauen. Soll er doch! Ich verliere kein Wort über ihn.
Wie das bei meiner Schwester Anna funktioniert? Ich war immer wieder mal dabei, wenn sie auf Beutezug ging. Ich erinnere mich noch genau an ein Gespräch mit ihr nach einem solchen Fototag: »Wenn du eine grossartige, eine einmalige Szene siehst, darfst du keinen Augenblick zögern, fokussiere und drück ab. Wenn es dazu nicht mehr reicht, halt die Kamera wenigstens in die Zielrichtung und drück ab«, sagte sie damals.
»Aus der Hüfte heraus?«, fragte ich sie.
»Je nach Situation, meistens schiesse ich auf Brusthöhe. Im Baseball wäre das nur noch knapp in der strike zone.«
»Der strike zone?«
»Das ist das unsichtbare Zielfeld, durch das der Pitcher den Ball werfen muss, ein Rechteck, dessen Untergrenze das Grübchen unter dem Knie bildet, die Obergrenze befindet sich zwischen Gürtel und Schulter, also etwa auf Brusthöhe des Schlagmanns, des Batters.«
»Aber was hat Fotografie mit Baseball zu tun? Bist du bei deinem Aufenthalt in New York in der Bronx zum Yankee-Fan geworden, oder zieht es dich nach Queens rüber, hältst du es mit den Mets?«
»Ach, was! Das war nur ein Vergleich. Wir sagen ja auch ein Foto schiessen, obschon ich kein Gewehr in Händen halte.«
»Zum Glück.«
»Aber auf der Jagd bin ich allemal. Du gehst einfach mit der Kamera im Anschlag durch die Menge, nicht zu schnell, bleibst manchmal stehen, schaust dich andauernd um, als hättest du ein Radargerät für Bilder in dir, und plötzlich siehst du die entscheidende Szene, oder du siehst, dass sie am Entstehen ist. Wie gesagt, nicht zögern, sofort abdrücken.
Einmal fragte ich einen Mann, ob ich ihn fotografieren könne, doch er winkte ab, er sei menschenscheu, er wolle das keinesfalls. So wurde natürlich nichts aus dem gelungenen Foto. Noch schlimmer: Als ich ihn später zufälligerweise im Kino sah, musste ich während der ganzen Vorführung – es war ein Film mit Juliette Binoche in der Hauptrolle – an die peinliche Situation denken. Seither frage ich niemanden mehr, drücke einfach ab, als ob nichts wäre, als ob nicht die Abgebildeten gemeint seien.«
»Du handelst nur nach deinem Instinkt, deinem Bauchgefühl?«
»Ja, du hast es erfasst. Dahinter steht natürlich meine ganze Erfahrung. Vor allem musst du unsichtbar bleiben.«
»Und du hattest nie Probleme?«
»Doch, das kann schon mal vorkommen. Einmal fotografierte ich einen Mann im Overall vor einer Autowerkstatt, da kam der erzürnt auf mich zu und sagte, er wolle das nicht, niemand dürfe ihn hier sehen, ich solle die Fotos vernichten.«
»Vernichten, wie das?«
»Das fragte ich ihn auch. Das war ja nicht digital, ich konnte ihm die Fotos nicht zeigen und sie dann mit einem Knopfdruck löschen.«
»Und dann, hat er dich bedroht?«
»Nicht wirklich. Ich öffnete die Kamera, holte die Filmrolle heraus, hiess ihn, am einen Ende zu halten, und ich zog daran. Ich kann dir sagen, wir waren plötzlich wie zwei Kinder, die eine Luftschlange entrollten. Mit einem Mal musste der andere lächeln, weil er merkte, dass ich es nicht darauf angelegt hatte, ihn als illegal hier Arbeitenden abzubilden. It’s just art, sagte ich abschliessend.«
»Aber wenn es geklappt hat, du deine Filme belichtet hast, gehst du dann sofort in die Dunkelkammer, um dir deine Beute anzuschauen?«
»Nein, überhaupt nicht. Natürlich muss ich den Film in der schwarzen Dose entwickeln. Wenn ich allzu lange warte, könnte er einen Schleier bekommen. Aber zum Herstellen der Kontaktbögen, auf denen ich alle Fotos im Kleinformat sehe, lasse ich mir Zeit. Da können schon mal ein oder zwei Monate verstreichen, bevor ich mich an die Arbeit mache.«
»Du willst nicht wissen, ob dir die Fotos gelungen sind?«
»Natürlich will ich das wissen, doch es schadet nicht, vorerst zuzuwarten, bis die Emotionen, bis die Aufnahmesituation verflogen ist.«
»Was?«
»Ja, die fotografische Wirklichkeit ist nicht mit dem zu verwechseln, was wir jeden Tag an unserem eigenen Leib erfahren. Es ist für mich einfacher, die Fotos vorerst ruhen zu lassen, dann fällt es mir leichter, sie zu beurteilen, sie zusammenzustellen.«
So war das mit Anna. Das meiste, was ich über Fotografie sagen kann, habe ich nicht in meinem Kunstgeschichte-Studium gelernt, sondern von meiner Schwester Anna, vor allem auch in Fotoausstellungen, die wir zusammen besuchten.
Was ihr Mann Michael so macht? Der wohnt ja jetzt auch in Paris. Soviel ich weiss, hat er gelegentlich juristische Aufträge und ist deswegen ab und zu in Bern. Das sind ja nur ein paar Stunden Zugfahrt von Paris. Doch er arbeitet vor allem mit mehreren französischen Musikern an seiner zweiten CD unter dem Bandnamen The Great Southern Sound Lab. Er nennt sie Promenades oder so ähnlich. Oder ist die CD bereits auf dem Markt? Als er wieder mal hier in Zürich war, erzählte er mir etwas von einer dritten, die hat den Arbeitstitel Zürich Ost, wohl weil er sich darin in einigen Stükken auf Frauenfeld bezieht, wo er seine Jugend verbrachte. Es soll sogar einige Dialektstücke drauf haben. Aber was plaudere ich da aus dem Nähkästchen; ich will ja nicht zu viel verraten. Daneben schreibt er schon das ganze Jahr über an einem Langgedicht mit dem Titel Montparnasse. Sonst hat er ja nie Gedichte geschrieben. Ich glaube, er ist durch die wahnwitzigen Gedichte von Anselm Kahn darauf gekommen, es selbst auch mal auszuprobieren.
Wer Anselm Kahn ist? Nun, im Roman Die Norwegische Reise fährt der Ich-Erzähler – ein Architekt aus Basel namens Anselm Kahn – in die norwegische Hafenstadt Bergen, wo er eine Erbschaft antreten soll. Diese besteht hauptsächlich aus einem vollgestopften Trödlerladen in der Altstadt und dem Mobiliar einer Mietwohnung auf der Halbinsel Nordnes, kaum eine halbe Stunde vom Laden entfernt. Unter all dem Trödlerkram findet Kahn beim Versuch, all die Sachen zu ordnen, das Manuskript eines Dichters, ohne dass aber ein Name drauf stünde. Weil der Leiter des Architekturbüros in Basel es nie geschafft hat, eine Reise durch Skandinavien zu machen, bittet er Kahn, ihm einen kurzen Reisebericht zu schreiben. Er könne dafür auch etwas länger dort bleiben als geplant. Als Kahn die gefundenen Gedichte in seinen Bericht über den Aufenthalt in Bergen integriert hat, drängt ihn seine norwegische Freundin, die er sozusagen von seinem verstorbenen Onkel übernommen hat, ein richtiges Buch daraus zu machen. Sie habe schon immer einen Romanschriftsteller als Freund haben wollen. Er sei doch nur Architekt, entgegnet Kahn, und ein Reisebericht sei noch lange kein Roman. Ach, was, Architekten und Romanciers hätten doch viele Gemeinsamkeiten, müssten sie doch beide bei grösseren Projekten den Überblick behalten und sich gleichzeitig um all die Einzelheiten kümmern. Auf ihren Wunsch hin baut Kahn den Bericht noch etwas aus. Als er ihn in einem