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Rattenerbe: Roman
Rattenerbe: Roman
Rattenerbe: Roman
Ebook435 pages6 hours

Rattenerbe: Roman

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About this ebook

Hans Lehmann wird durch die Einladung zu einer Testamentseröffnung aus seinem beschaulichen Leben gerissen. Denn sein als tot geglaubter Vater ist nach Kriegsende als ehemaliger SS-Offizier über die Rattenlinie nach Argentinien geflüchtet, wo er durch Rinderzucht ein Vermögen erwirtschaftet hat. Nun will er nach seinem Tod seinem Sohn ein Teil als Entschädigung vermachen, knüpft dieses aber an Bedingungen. Sollte er diese nicht erfüllen, wird den Erbteil eine rechtsgerichtete Organisation erhalten. Hans Lehmann will mit den Neonazis nichts zu tun haben, ihnen aber auch die im Testament aufgeführte Summe nicht überlassen und sieht sich ab da in einen Kampf um die Hinterlassenschaft hineingezogen, der ihn um sein Leben bangen lässt.

Erwin Plachetka baut in seinem Roman Rattenerbe einen Spannungsbogen auf, der von Anfang an Neugierde erweckt und dem Leser in einen indizierten Handlungsstrang einbindet. Man wird Teilnehmer einer Geschichte, die reale Wahrnehmungen mit fiktiven Sequenzen in ein Verwirrspiel integriert, so dass der Leser das Gefühl hat, von Anfang an zugleich Beobachtender und Mitfühlender zu werden, dadurch motiviert ist, nachfolgenden erzählerischen Details nahe zu sein und er damit dem roten Faden des Romans beeindruckt zu folgen vermag. Der Autor versteht es, einen anspruchsvollen historischen Konsens in einen erzählerischen Ablauf gekonnt einzusetzen.
Dr. Werner Seibel
LanguageDeutsch
PublisherTWENTYSIX
Release dateNov 29, 2017
ISBN9783740793548
Rattenerbe: Roman
Author

Erwin Plachetka

Erwin Plachetka wurde 1948 in Delmenhorst geboren. Nach einer kaufmännischen Ausbildung und anschließender Bundeswehrzeit zog er mit seiner finnischen Frau, mit der er seit 1970 verheiratet ist, nach Helsinki, wo er bis 1971 lebte und die finnische Sprache erlernte. In Deutschland machte er sich 1976 mit einem finnischen Partner selbständig, baute einen Vertrieb für finnische Blockhäuser und Saunas auf. Er verbringt mehrere Wochen im Jahr in Finnland. Seine Romane und Erzählungen spielen häufig in dem nordöstlichen Land Europas.

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    Book preview

    Rattenerbe - Erwin Plachetka

    Kapitel

    1.

    Mit der Mittagspost war der Brief einer Anwaltskanzlei aus Blankenese eingetroffen. Dr. Herbert von Oesen lud ihn zu einer Testamentseröffnung ein. Hans Lehmann hatte an einen Irrtum geglaubt. Seine Eltern waren längst gestorben und auch sonst besaß er wissentlich keine Verwandten oder Bekannten, die ihm hätten etwas vererben können. Er rief in der Kanzlei an, um den vermeintlichen Irrtum aufzuklären, aber der sich als Testamentsvollstrecker ausgebende Anwalt bestand auf seinem Erscheinen. Wenn er, Hans Lehmann, geboren in Hamburg am 19.05.1945, sei, dann liege hier kein Irrtum vor. Mehr wolle man ihm am Telefon nicht sagen. Er möge den Termin doch bitte wahrnehmen und seinen Personalausweis mitbringen.

    Hans Lehmann spürte eine leichte Verwirrung. So sehr er sich auch anstrengte, ihm wollte kein Mensch einfallen, der ihm so nahe stand, dass er ihn mit einem Nachlass bedenken würde. Seine Eltern waren vor zwei Jahren kurz nacheinander gestorben, hatten ihm außer einem veralteten Hausrat, einer kleinen Unfallversicherung des Vaters und ein paar hundert Euro nichts hinterlassen. Und sein Bruder, der bereits sehr jung verstarb, hinterließ seinen Eltern und ihm nur Schulden, sodass sie das Erbe ablehnen mussten. Aus der Verwandtschaft war auch nichts zu erwarten, die war bereits bis auf einen Onkel gestorben. Und der Onkel erfreute sich noch bester Gesundheit. So fieberte Hans Lehmann dem Tag entgegen, da er zu dieser ominösen Testamentseröffnung geladen wurde. Es beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl, das sich aus Neugier, Hoffnung, aber auch aus Zweifel und Angst mengte. Warum Angst, konnte er nicht definieren, aber irgendwie sagte ihm der Verstand, dass hier etwas nicht stimmen könne und er mit etwas konfrontiert werden würde, mit dem er lieber nichts zu tun haben wollte. So schien es ihm auch ratsamer, zunächst mit keinem Menschen darüber zu sprechen. Sollten sich die Dinge doch erst einmal spruchreif entwickeln.

    Das Haus des Notars in der Blankeneser Chaussee war ein dunkler Klinkerkasten, zurückgelegen hinter einer parkähnlichen Anlage. Im Hintergrund schimmerte die Elbe durch, die Einfahrt war mit einem riesigen Eisentor gesichert. An dem rechten Torpfosten, ebenfalls wie das Haus aus den dunklen Klinkern gemauert, war ein Messingschild mit der Aufschrift „Dr. Herbert von Oesen, Rechtsanwalt und Notar" befestigt. Das Grundstück umgab ein hoher Eisenzaun und war zusätzlich elektronisch gesichert. Kameras überwachten Einfahrt und Gelände. Hans Lehmann klingelte und wurde nach kurzer Wartezeit aufgefordert, seinen Ausweis vor die Kamera der Torsprechanlage zu halten. Dann öffnete sich das Tor schwerfällig und quietschend. Der Kies des Weges zum Haus knirschte unter seinen Autoreifen. Hans Lehmann steuerte seinen Wagen vor das Portal des Hauses, wo er bereits von einem jungen Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose empfangen wurde. Der Bursche machte auf Hans Lehmann einen beklemmenden Eindruck. Seine Haltung war militärisch straff und der kurze Haarschnitt mit rechtem Scheitel verlieh dem jungen Mann etwas Vergangenes.

    „Herr Dr. von Oesen erwartet Sie", sagte der Bursche, machte eine einladende Handbewegung in Richtung geöffneter Tür und ließ den Gast vorgehen.

    Eine imposante Eingangshalle tat sich vor Hans Lehmann auf, dunkel und mit dem Mief einer vergangenen Epoche behaftet. An der rechten Seite führte eine mächtige Treppe zum oberen Stockwerk, das sich durch eine herausgezogene Empore über die Eingangshalle ausbreitete. Die harten Absätze des jungen Mannes hinter Hans Lehmann hallten durch das Haus.

    „Bitte geradeaus", sagte er und wies, nun neben ihm gehend, auf eine geöffnete Tür.

    „Ah, Herr Lehmann", wurde er von einem etwa fünfzigjährigen Mann im dunklen Anzug, weißem Hemd und roter Krawatte überfreundlich begrüßt. Der Mann war aufgesprungen und um den Schreibtisch geeilt. Die aufgesetzte Freundlichkeit versetzte Hans Lehmann einen kalten Schauer. Er spürte Unehrlichkeit von diesem Mann ausgehend, der seine dunkelbraunen Haare geölt und glatt nach hinten gekämmt trug. Das Lächeln auf seinem Gesicht hatte sich nicht auf die stahlgrauen Augen übertragen, die eher Eiseskälte widerspiegelten.

    „Von Oesen, stellte er sich vor und reichte Hans Lehmann die Hand, „Ihr Vater hat mich mit der Verkündung seines letzten Willens betraut.

    „Mein Vater ist bereits vor zwei Jahren verstorben. Es gab nichts, was da zu verteilen war", sagte Hans Lehman und ließ sich von dem Notar zu einer Sitzgruppe führen.

    Der junge Mann, der ihn in das Büro von Oesens geleitet hatte, stand mit den Händen auf dem Rücken und gespreizten Beinen vor der Eingangstür und wartete.

    „Nun, Herr Lehmann, wenn ich von Ihrem Vater spreche, dann meine ich nicht Ihren Stiefvater, sondern Ihren leiblichen Vater." Von Oesen blickte auf und gab dem jungen Mann an der Tür ein Zeichen zum Gehen. Dieser befolgte in einer militärisch anmutenden Kehrtwende den Befehl und schloss die Tür hinter sich.

    Hans Lehmann war verwirrt. Seinen „leiblichen Vater" hatte er nie zu Gesicht bekommen. Der war, so hatte es ihm seine Mutter erzählt, Ende 1944 bei den Rückzugsgefechten in Russland gefallen. Seinen Stiefvater hatte er immer als den eigentlichen Vater betrachtet. Und da die Mutter ihn auch erst mit Erreichen der Volljährigkeit in dieser Sache aufgeklärt hatte, gab es für ihn keinen anderen Vater, als den Mann seiner Mutter, der ihm durch Adoption auch den Namen gab. 1944 lag siebenundsechzig Jahre zurück und damit fast genauso lange, wie er an Jahren zählte. Was sollte ihm ein vor so langer Zeit verstorbener Mann schon vererben?

    „Sie sind über Ihre Herkunft nicht informiert?", riss ihn der Notar aus seinen Gedanken.

    „Was heißt: über meine Herkunft informiert? Mein … wie Sie ihn bezeichnen „leiblicher Vater ist laut meiner Mutter 1944 in Russland gefallen. Ich habe ihn genauso, wie er mich, nie gesehen, antwortete Hans Lehmann.

    Von Oesen setzte ein verschrobenes Lächeln auf. „Nun, das dürfte dann wohl nicht ganz den Tatsachen entsprechen. Ich habe hier einen Brief, den Ihr Vater mir übergab, und den ich Ihnen vor Eröffnung des Testamentes überreichen soll." Er zog aus einer Ledermappe einen braunen Briefumschlag und reichte ihn Hans Lehmann. Der zögerte, bevor er den gereichten Umschlag entgegennahm.

    Auf dem Kuvert war mit dunkelblauer Tinte „Für Hans" geschrieben. Der Umschlag war auf der Rückseite mit einem roten Siegellack verschlossen. Von Oesen gab Hans Lehmann einen Brieföffner. Ein zweiseitiger Brief, geschrieben in Sütterlinschrift, kam zum Vorschein. Hans Lehmann stutzte. Es war über fünfzig Jahre her, dass er das letzte Mal etwas in Sütterlinschrift gelesen hatte. In den ersten Klassen der Volksschule wurde er mit ihr konfrontiert. Danach nur noch in Büchern, die er in alten Kisten seiner Eltern fand. Es wäre ihm unmöglich, diesen Brief hier an Ort und Stelle in kurzer Zeit zu lesen. Er schüttelte mit dem Kopf und reichte von Oesen den Brief zurück.

    „Können Sie ihn mir vorlesen?", fragte Hans Lehmann.

    Der Anwalt blickte auf das Geschriebene und schüttelte ebenfalls mit dem Kopf. „Tut mir leid, aber das sind für mich Hieroglyphen."

    „Muss ich den Brief jetzt hier unbedingt vor der Testamentseröffnung lesen? Oder kann ich das in Ruhe bei mir zu Hause tun?", fragte Hans Lehmann.

    „Ihr Vater hat bestimmt, dass Sie erst den Brief lesen sollen, bevor ich Ihnen im zweiten Schritt den Nachlass und die damit verbundenen Bedingungen eröffne", antwortete von Oesen.

    „Bedingungen? Was für Bedingungen?"

    „Nun, Herr Lehmann, alles zu seiner Zeit. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie nehmen den Brief mit nach Hause, lesen ihn in Ruhe durch und morgen …, er blätterte in seinem Terminkalender, „sagen wir um 16 Uhr? Er sah Hans Lehmann fragend an. Der nickte bejahend. „Also gut, morgen um 16 Uhr kommen Sie wieder und wir sehen, wie es weitergeht."

    Kaum hatte von Oesen die letzten Worte ausgesprochen, öffnete sich auch schon die Tür und der junge Lakai stand bereit, Hans Lehmann hinaus zu begleiten. Der sah von Oesen verwundert an, drückte die ihm entgegen gehaltene Hand und verließ im Schlepptau des Dieners das Büro.

    Noch auf der Blankeneser Chaussee lenkte er seinen Wagen in eine freie Parkbucht und stellte den Motor ab. Zu viel war auf ihn in der letzten Stunde eingestürzt. Der Brief in seiner Sakkoinnentasche wog schwer, doch er fühlte kein Verlangen, die Zeilen zu lesen. Eher verwirrte ihn das Bewusstsein, ein Stück Lebenszeichen seines totgeglaubten Erzeugers bei sich zu tragen. Ein Wirrwarr aus Gefühlen prasselte auf ihn ein. Das Wort Bedingungen schwirrte durch seinen Kopf. Seine Mutter erschien in seinen Gedanken, wie sie damals, am Tag nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag, verwirrt durch die Wohnung lief, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas Unangenehmes bevorstand. Er hatte sie schließlich aufgefordert, sich zu setzen und mit dem unsinnigen Hantieren und Sortieren von irgendwelchen Dingen aufzuhören. Der Vater war in der Arbeit, wie es damals selbst auf einem Sonnabend noch üblich war. Hans Lehmann hatte sich frei genommen, weil er den Tag zuvor kräftig mit den Freunden gefeiert hatte.

    „Was hast du?", hatte er die Mutter gefragt.

    Sie hatte sich schließlich zu ihm gesetzt, rumgedruckst und sich immer wieder die Hände in der Kittelschürze abgewischt, bis er ihr die Hände festhielt und sie nochmals aufforderte, mit der Sprache herauszukommen.

    Seine Mutter hatte tief geseufzt, ihren Blick nicht von ihren Händen im Schoß gewandt und nach langem Zögern endlich angefangen zu sprechen.

    „Hans, ich muss dir etwas sagen, hatte sie begonnen, „Papa ist nicht dein richtiger Vater, flüsterte sie fast.

    Er hatte sie ungläubig angesehen und angefangen zu lachen.

    „Was?", hatte er gefragt und an eine momentane Verwirrung seiner Mutter geglaubt.

    „Hast du dich nie gefragt, wieso du schon 1945 geboren bist, obwohl Papa und ich erst 1947 geheiratet haben? Sie seufzte, begann wieder ihre Kittelschürze zu bearbeiten. „Dein richtiger Vater ist 1944 in Russland gefallen. Er war Hauptmann einer Panzergrenadiereinheit.

    Hans Lehmann hatte sich das angehört, als erzählte seine Mutter ihm, dem Einundzwanzigjährigen, gerade ein Märchen. Er hatte betreten dagesessen und eigentlich nicht geglaubt, was ihm seine Mutter mitteilte. Es hatte irgendwie sein Weltbild zerstört. Und doch, wenn er sich nun auf seine Biographie besann, stimmte da einiges in seinem Lebenslauf nicht. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Warum hatte er es vorher nicht hinterfragt? Wieso war er so unkritisch mit seiner eigenen Geschichte umgegangen? Willi Lehmann war nicht sein richtiger Vater, ging es ihm durch den Kopf. Dann musste er doch eigentlich auch anders heißen. Wie konnten sie ihm das so lange verheimlichen? Und wieder fragte er sich, wieso ihm nicht früher aufgefallen war, dass sein Lebenslauf mit dem seiner Eltern nicht übereinstimmte? Wut perlte in ihm hoch und er war aufgesprungen und hatte das Haus verlassen. In Luis Kneipe hatte er sich volllaufen lassen, bis ihn der Wirt durch seinen Sohn nach Hause bringen ließ.

    Wieder spürte er diese Wut wie damals. Er fühlte sich betrogen, hintergangen. Damals hatte er beschlossen, seinen leiblichen Vater ein zweites Mal sterben zu lassen. Er wollte ihn ignorieren. Aber so sehr er sich auch bemühte, das Bewusstsein trieb immer wieder die Frage in ihm auf: Wer und wie war sein wirklicher Vater? Schließlich hatte er es gewagt, seine Mutter nach seinem leiblichen Vater auszufragen. Aber sie war alles andere als redselig, wich immer wieder aus und wollte nichts erzählen. Immerhin hatte er erfahren, dass sein Vater einer SS-Einheit angehörte, eben nicht nur einer einfachen Panzergrenadiereinheit. Der Krieg hatte zunächst ihre planmäßige Heirat verhindert. Kennen gelernt hatten sie sich 1941 auf einem Dorffest in Neerstedt. Das war der Heimatort seines Vaters, Fritz Hegenbühl, dessen Familie Ländereien in der Umgebung von Dötlingen besaß. Als zweiter Sohn der Familie war ihm die Hofübernahme verwehrt. So suchte er schnell bei Kriegsausbruch sein Glück in der Reichswehr, wo er schließlich der SS beitrat und am Russlandfeldzug teilnahm. 1944 wurde er im Frühjahr verwundet und bekam zur Genesung Heimaturlaub. In dieser Zeit wurde er, Hans Lehmann - oder sollte er Hans Hegenbühl sagen? - gezeugt und die Ehe in einer Kurzzeremonie im Standesamt vollzogen. Dann musste sein Vater wieder an die Front, wo er angeblich im Dezember 1944 fiel. Er hatte somit seinen Sohn nie zu Gesicht bekommen.

    Mehr hatte ihm seine Mutter nicht erzählt und auch von anderer Seite war nicht mehr über seinen Vater zu erfahren. Aber er hatte das Gefühl, dass an der Geschichte etwas nicht stimmte. Er konnte nicht sagen, warum, aber da das Gespräch immer wieder schnell auf andere Sachen gelenkt wurde, wenn er nach seinem leiblichen Vater fragte, vermutete er irgendein dunkles Geheimnis. Er besaß aber auch nicht die Hartnäckigkeit, dieses vermutete Geheimnis lüften zu wollen.

    Sein angenommener Vater hatte ihn bei der Heirat der Mutter adoptiert und ihm somit auch den Namen Lehmann gegeben. Zudem hatte er seinem Stiefsohn nie das Gefühl vermittelt, nicht der eigene Sohn zu sein. Im Gegenteil, er hatte ihn immer wie seinen leiblichen Sohn behandelt und ihm alle Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt, die ein Vater seinem Sohn geben kann.

    All das ging Hans Lehmann durch den Kopf, als er in seinem Wagen saß und versuchte, die Ereignisse der letzten Stunden zu verarbeiten. Er nahm den Brief aus seiner Jackentasche, öffnete den Umschlag und entfaltete die zwei Seiten Briefpapier, die sein Vater in dieser altmodischen Schrift voll geschrieben hatte. Hans Lehmann widerstrebte es, sich dem Diktat seines Vaters zu unterwerfen und die Zeilen nicht zu entschlüsseln. Es war lange, sehr lange her, dass er etwas in dieser Sütterlinschrift gelesen hatte. Und das war auch noch gedruckt und nicht handgeschrieben. Es bereitete ihm Schwierigkeiten und so bemühte er sich nur, die ersten Zeilen zu entziffern:

    Lieber Hans,

    wenn Du diese Zeilen liest, haben wir die Chance verpaßt, uns kennen zu lernen. Wie gerne hätte ich Deinen Lebensweg begleitet, aber …

    Hans Lehmann setzte den Brief ab. „Wenn du gewollt hättest, hätte dem nichts im Wege gestanden", sagte er wütend und faltete den Brief wieder zusammen.

    Wenn ihm jemand etwas über diesen Mann erzählen konnte, dann war es sein Onkel Paul, jüngerer Bruder seiner Mutter. Er und seine Mutter hatten immer ein enges Verhältnis gehabt. Ihm hatte sie sicherlich mehr anvertraut als irgendjemandem sonst. Selbst seinem Adoptivvater - ihm ging dieses Wort nur widerstrebend durch den Kopf - hat sie wohl kaum viel über ihren ersten Mann erzählt.

    Hans Lehmann startete den Wagen und reihte sich in den fließenden Verkehr ein. Onkel Paul wohnte in Eimsbüttel, war neunundachtzig Jahre alt, aber immer noch sehr rüstig. Nach dem Tod seiner Frau Hilde lebte er alleine in der großen Wohnung und das jetzt schon zehn Jahre. Ihn musste Hans Lehmann befragen, von ihm würde er sicherlich Antworten bekommen.

    Er musste lange um den Häuserblock fahren, bis er endlich einen Parkplatz fand. Seit er sich erinnern konnte, hatte sich an den grauen Wohnblocks nichts geändert. Auch das Treppenhaus fand er vor, wie er es als kleiner Junge erlebte. Die breite Holztreppe schlängelte sich an der Wand des Treppenflures hoch. Es gab immer noch keinen Fahrstuhl, obwohl das Haus vier Etagen hatte. Onkel Paul wohnte Gott sei Dank im ersten Stockwerk. Die Doppelwohnungstür mit ihrem Butzenfenstern aus geriffeltem Milchglas und dem grünen Ölfarbanstrich sah auch schon vor fünfzig Jahren so aus. Hans Lehmann blieb einen Moment vor der Tür stehen. Er atmete ein paar Mal kräftig ein und aus. „Familie Paul Marschank" stand immer noch auf dem Messingtürschild. Er drückte den Klingelknopf und hörte, wie die Klingel laut und eindringlich schellte. Dann war alles still. Aus irgendeiner Wohnung hörte er lautes Schimpfen einer Frau. Die Treppe schien ob ihrer vielen Jahre zu ächzen. Hans Lehmann wollte gerade noch einmal den Klingelknopf betätigen, als er aus der Wohnung seines Onkels Geräusche hörte, dann eindeutig den schlurfenden Gang eines alten Mannes.

    Es dauerte seine Zeit, bis sein Onkel das Schloss aufgeschlossen und mehrere Sicherheitsketten von ihrer Verriegelung befreit hatte. Dann öffnete sich die Tür und sein Onkel sah ihn aus schläfrigen Augen an.

    „Hab ich dich geweckt?", fragte Hans Lehmann, bevor er seinen Onkel begrüßte.

    „Du?, fragte dieser verwundert. „Ist jemand gestorben oder bin ich schon dran?

    Hans Lehmann lachte. Immer noch der alte Zausel, der immer einen Spruch auf den Lippen hat. Er tätschelte den Arm seines Onkels und ging an ihm vorbei in die Wohnung. Ein unangenehm miefiger Geruch empfing ihn, der darauf schließen ließ, dass die Wohnung schon lange nicht mehr gelüftet wurde.

    „Was verschafft mir die Ehre? Du hast dich ja schon lange nicht mehr sehen lassen."

    Hans Lehmann ging seinem Onkel ins Wohnzimmer voraus.

    „Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich vorher klar Schiff gemacht. Aber wer besucht mich denn schon! Willst du was trinken?"

    „Nein, danke. Komm setz dich, ich muss mit dir reden", sagte Hans Lehmann und wollte die Unordnung in dem Wohnzimmer ignorieren, aber ihm ging nicht aus dem Sinn, wie penibel seine Tante Hilde mit der Wohnung gewesen war. Da musste alles akkurat auf seinem Platz liegen, kein Staubkorn durfte sich sehen lassen und Essensreste im Wohnzimmer waren aufs Schärfste verboten. Es schien ihm, dass sein Onkel nun aus Trotz die Wohnung verkommen ließ.

    Ächzend ließ sich Paul Marschank in seinen Sessel fallen. „Ich war beim Zeitungslesen eingeschlafen", sagte er und faltete die auf dem Tisch liegende Bild-Zeitung zusammen. „Also, wer ist gestorben?"

    „Warum muss jemand gestorben sein?", fragte Hans Lehmann, obwohl das ja nun wirklich der Grund seines Besuches war.

    „Nun, es scheint mir, dass wir uns nur sehen, wenn jemand zu Grabe getragen werden muss. Das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, war auf der Beerdigung deines Vaters", antwortete der Onkel.

    „Und genau um den geht es, sagte Hans Lehmann. „Erzähl mir was über meinen Vater. Ich meine jetzt meinen richtigen Vater, nicht den letzten Mann meiner Mutter.

    Paul Marschank sah seinen Neffen verwundert an. „Was soll das heißen? Willi war dein Vater. Wenn du deinen Erzeuger meinst, den kannst du vergessen. Der ist doch ehrenvoll im großen Krieg des Gröfazes fürs Vaterland gefallen."

    „Eben wohl nicht. Der ist jetzt erst gestorben. Er scheint mir etwas vererbt zu haben."

    „Blödsinn, entgegnete sein Onkel barsch, „der ist mit vollgeschissener Hose, als er vor den Russen wegrannte, abgeknallt worden, im Dezember vierundvierzig, kurz bevor der Spuk endlich vorbei war und dank des Gröfazes hier alles in Schutt und Asche lag.

    „Fritz Hegenbühl, mein Erzeuger, wie du ihn nennst, hat mir einen Brief und ein Erbe hinterlassen und ist erst, wenn ich das richtig verstanden habe, in der letzten Woche dem größten Führer aller Zeiten gefolgt. Du musst doch gewusst haben, dass sein Tod in Russland nur eine Legende war."

    Paul Marschank schwieg betroffen, vermied es, seinem Neffen in die Augen zu sehen.

    „Was ist? Hat’s dir die Sprache verschlagen? Ihr müsst doch gewusst haben, dass er überlebt hat. Wozu aber diese ganze Inszenierung? Warum ist er nicht nach Hause gekommen? Warum hat er sich nicht um seine Frau und seinen Sohn gekümmert?"

    Paul Marschank seufzte tief. „Fritz war ein Schwein!, stieß er hervor. „Deine Mutter hat mir verboten, je über ihn zu reden.

    „Sie sind beide tot. Was gibt es da jetzt noch zu vertuschen? Ich bin alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Und auch wenn dieser Mensch sich jetzt noch in mein Leben drängen will, Willi Lehmann ist und war mein wirklicher Vater."

    „Ich weiß nicht - warum willst du das alles noch wissen? Es nutzt dir doch eh nichts mehr. Willi, wie du schon sagst, sollte dir als dein Vater in Erinnerung bleiben. Den anderen vergiss einfach."

    „Wenn das man so einfach wäre. Er hat sich nun einmal in mein Gedächtnis zurückgerufen. Und jetzt will ich endlich wissen, was für ein Mensch dieser Fritz Hegenbühl war", sagte Hans Lehmann trotzig.

    „Ich kann nichts Gutes über diesen Menschen berichten. Ich habe ihn nie gemocht, auch wenn ich ihm nur einmal 1940 nach Kriegsausbruch begegnet bin. Das eine Mal aber reichte schon. Ich hatte im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen und er kam mit deiner Mutter rein, knallte die Hacken zusammen und schrie Heil Hitler. Ich erwiderte schlaftrunken nur: Ja,ja, stell ihn man in die Rumpelkammer. Da hat er einen Terz gemacht und wollte mich anscheißen und bei der Polizei anzeigen. Nur mit Mühe konnte ihn deine Mutter davon abhalten. Ein Nazi-Arsch ersten Ranges. Ich weiß nicht, was deine Mutter an ihm fand. Seine Totenkopfuniform, die stramme soldatische Haltung, alles war bei ihm auf Gehorsam und Töten getrimmt. Wir waren zwei total verschiedene Typen. Ich liebte meine Freiheit als junger Seemann und er war der Arsch, der die Hacken zusammenknallte und Heil Hitler schrie."

    „Aber warum ist er nach Kriegsende nicht zurückgekommen? War er in Kriegsgefangenschaft? Warum kam er danach nicht zu seiner Frau und seinem Sohn zurück?" Hans Lehmann sah seinen Onkel fragend an. Der druckste herum, wollte seinem Neffen nicht erzählen, was er wusste. Aber was sollte die Geheimniskrämerei nach all den Jahren. Seine Schwester war tot. War er auch jetzt noch an sein Wort gebunden, nichts von seinem Wissen preiszugeben?

    „Geh mal in die Küche und hol uns ein Bier aus dem Kühlschrank", sagte er schroff. Er brauchte Zeit zum Überlegen. Hans folgte zögernd seiner Aufforderung. All die Scheiße kommt jetzt wieder hoch, ärgerte sich Paul Marschank. Der ganze Spuk der längst vergangenen Jahre. Er wollte sich nicht mehr daran erinnern. Seine Seefahrtzeit und die Internierungszeit auf Jamaika, ja, daran erinnerte er sich gerne, aber diesen Fritz und seinesgleichen, die würde er am liebsten für immer vergessen. Was konnte er seinem Neffen von dessen Vater berichten? Seine Schwester hatte ihn beschworen, nichts von dem, was sie ihm in verzweifelten Stunden gebeichtet hatte, irgendjemandem zu erzählen. Ihrem Sohn schon gar nicht. Und nun war dieser bei ihm, wollte die Wahrheit wissen. Wusste schon, dass sein Vater nicht, wie jeder zu hören bekam, im Winter vierundvierzig auf dem Rückzug gefallen war.

    Zu schnell war Hans mit dem Bier aus der Küche zurück, dass Paul Marschank seine Gedanken beenden konnte. Und sein Neffe stellte sich nun vor ihn, reichte ihm die Flasche Astra und sah ihn auffordernd an. Der alte Mann griff nach dem Bier, wich dem Blick seines Verwandten aus und nahm einen kräftigen Schluck.

    „Nun, was ist, Onkel Paul, willst du mir nicht endlich erzählen, was du weißt?", forderte Hans Lehmann seinen Onkel auf.

    Der seufzte tief und stellte die Bierflasche auf den Wohnzimmertisch. „Ach, Hans, stöhnte er auf, „deine Mutter hat mir verboten, dir je über deinen Vater zu erzählen.

    „Meine Mutter lebt nicht mehr und mein Erzeuger war nicht tot, wie ihr mir weisgemacht habt. Also, was gibt es da noch zu verheimlichen?"

    „Das Ganze ist nicht so einfach für mich, wie du denkst. Wie du weißt, hatten deine Mutter und ich immer ein sehr enges Verhältnis, das auch darin begründet war, dass unsere richtigen Eltern sehr früh bei einem Unfall starben und wir bei der Schwester unserer Mutter aufwuchsen. Caro wird dir ja sicher erzählt haben, dass deine Großeltern eigentlich nicht die wahren Großeltern sind. Du hast sie aber als solche erlebt. Und das war auch gut so. Nun, solch eine Geschichte schweißt Geschwister zusammen, und so waren deine Mutter und ich uns auch sehr verbunden. Als ich zur See fuhr und dann in Gefangenschaft geriet, hat mir deine Mutter lange Briefe geschrieben. Sie hat mir berichtet, wie sie deinen Vater kennen lernte, wie verliebt sie war, ja, wie glücklich sie auch war. Aber sie hat mir auch geschrieben, wie der Kriegswahn Fritz veränderte, wie fanatisch er seinem Führer und dessen Ideen folgte, immer an vorderster Front mit lautem Hurra. Die Geschichte mit mir war da nur eine kleine Episode. Den Bruch in der Beziehung zwischen deiner Mutter und diesem Menschen gab es dann endgültig 44, als der Herr Hauptmann verwundet wurde und zum Genesungsurlaub nach Hause kam. In der überschwänglichen Wiedersehensfreude wurdest du noch gezeugt. Dann sollte er wieder einrücken und deine Mutter brachte ihn in Altona zum Bahnhof. Auf dem Weg dorthin wurden sie Zeugen, wie Soldaten Juden in einen Lastwagen pferchten. Dabei wollte eine junge Mutter mit ihrem Kind fliehen. Fritz Hegenbühl entriss einem der blutjungen Häscher, der es nicht über sich brachte, der jungen Frau in den Rücken zu schießen, das Gewehr und streckte Mutter und Kind nieder. Dann schritt er auf die am Boden Liegenden zu und erschoss beide mit seiner Pistole. Deine Mutter erlitt einen Schock. Sie brachte Fritz noch zum Bahnhof, aber von da an wollte sie von diesem Mann nichts mehr wissen. Seine Briefe, die er ihr noch schrieb, beantwortete sie nicht mehr." Paul Marschank machte erschöpft eine Pause und griff zu seinem Bier, nahm einen kräftigen Schluck, dass der Schaum beim Abstellen aus dem Flaschenhals quoll. Er atmete keuchend. Hans Lehmann starrte betroffen durch das Zimmer. Ein Kloß verschnürte seinen Hals. Sein Vater eine Bestie, ging es ihm durch den Kopf, und es schien ihm, dass das noch nicht alles war, was ihm sein Onkel zu erzählen hatte. Es gab noch so viele Fragen, so viel Unklares und Ungereimtes. Aber konnte er seinem Onkel noch mehr zumuten? Der machte schon jetzt einen sehr erschöpften Eindruck.

    „Willst und kannst du noch weiter erzählen, Onkel Paul? Ich habe den Eindruck, das war noch nicht alles, was du mir zu erzählen hast, stimmt’s?"

    Paul Marschank winkte ab. „Lass gut sein, mien Jung, stöhnte er. „Lass die alten Zeiten in Frieden ruhen. Es hilft dir heute ja sowieso nicht mehr, dass wir all das Schreckliche von damals wieder ausgraben.

    „Ich muss aber wissen, wer mein Vater war, entgegnete Hans Lehmann trotzig. „Jetzt, wo er sich in mein Leben gedrängt hat, muss ich einfach mehr über ihn erfahren. Er nestelte den Brief aus seiner Jackentasche und reichte ihn seinem Onkel.

    „Das hat er mir noch geschrieben. Aber ich komme mit seiner Schrift nicht klar. Kannst du ihn mir vorlesen?"

    Paul Marschank nahm zögernd das Schriftstück entgegen, fingerte nach seiner Lesebrille, die auf dem Tisch lag.

    „Das sieht ihm ähnlich, seufzte er, als er die altmodische Handschrift wahrnahm. „Immer der Gestrige geblieben. Selbst seine letzten Zeilen muss er in der Handschrift des Vergangenen verfassen. Er blätterte das Papier auseinander, rümpfte die Nase, überflog die ersten Zeilen stumm.

    „Was schreibt er?", fragte Hans Lehmann neugierig.

    „Willst du das wirklich wissen?, brummte sein Onkel. „Das Papier taugt doch nur zum Arschabwischen.

    „Nun lies schon!", wurde der Neffe ungeduldig.

    „Alles nur Dünnpfiff, lass es dir gesagt sein. Von dem kann nichts Gutes kommen."

    „Nun mach endlich schon! Es ist Bedingung des Testamentes, dass ich den Brief erst lese."

    Paul Marschank räusperte sich, rückte seine Brille zurecht und begann, zögerlich zu lesen:

    „Lieber Hans,

    wenn Du diese Zeilen liest, haben wir die Chance verpaßt, uns kennen zu lernen. Wie gerne hätte ich Deinen Lebensweg begleitet, aber die Geschichte hat uns keine Chance gegeben

    Ich sag’s dir doch, gequirlte Scheiße. Wenn er Mumm gehabt hätte, dann hätte er sich seiner Verantwortung gestellt und hätte sich nicht feige aus dem Staub gemacht."

    „Onkel Paul, bitte! Lass deine Kommentare, die kannst du ja später abgeben, wenn dir danach ist, aber lies jetzt …"

    Der alte Mann grunzte unwillig und hob den Brief wieder zum Lesen. „Wo war ich? Ach, da: keine Chance gegeben. Ich weiß nicht, was dir deine Mutter über mich erzählt hat, aber du musst wissen, dass ich alles nur aus treuer Pflichterfüllung für mein Vaterland und meinen Führer gemacht habe. Wir haben den Krieg verloren, weil uns feige Verräter wie Oppenheim und seine Konsorten im Stich ließen und den Bau der Wunderwaffe, die uns geholfen hätte, den Kampf mit einem Schlag zu entscheiden, hinauszögerten, um sie dann dem Feind zu verkaufen. Da siehst du’s, was für `ne gequirlte Scheiße: Pflichterfüllung für Vaterland und Führer …"

    „Onkel Paul!"

    „Ja, ist ja schon gut. Aber dieser Blödsinn regt mich auf. Ein Arschkriecher war er, ein verfluchter Arschkriecher!"

    „Onkel Paul, bitte!"

    Er räusperte sich, suchte die verlorene Stelle im Brief und las schwerfällig weiter: „Du wirst das heute nicht verstehen, du bist anders erzogen, lebst in einer anderen Zeit, aber ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Wir alle hatten unsere Aufgabe zu erfüllen, unser geliebtes Reich gegen unsere Feinde zu verteidigen. Schau Dir Deutschland heute an, was aus ihm geworden ist. Ein Jammer überfällt mich, wenn ich sehe, wie deutsche Werte mit Füßen getreten und unsere ureigensten Interessen verleugnet werden. Aber lass mich dir noch etwas erklären.

    Als ich mich damals schweren Herzens entschied, das geliebte Vaterland zu verlassen, war mir klar, dass die Schergen, die unser Land eroberten, uns keine Chance zur Rechtfertigung geben würden. Ich wollte mich diesem feigen Mob nicht ergeben …Da frag ich mich, wer der Mob war? Diese Horde fanatischer Vaterlandsvernichter hat sich seiner Verantwortung durch feige Flucht entzogen …"

    „Bitte, Onkel Paul, kannst du es erst einmal bei dem Brief belassen?"

    „Ich krieg so `nen Hals, deutete der alte Mann an, „vollkommen realitätsfremd und uneinsichtig.

    „Onkel Paul …"

    „Schon gut. Wo war ich, ach ja …nicht ergeben. Ich hatte deiner Mutter angeboten, mir zu folgen. Ich hätte in Meran auf sie gewartet und euch beide dann mit nach Argentinien genommen. Aber deine Mutter hat mir nicht geantwortet. Es war sicherlich eine der schmerzhaftesten Entscheidungen meines Lebens, aber schließlich ging es um mein Überleben. Spinner, der hätte wie alle anderen Verbrecher seine gerechte Strafe absitzen können. Ums Überleben … absoluter Dünnpfiff …"

    „Liest du bitte weiter?"

    „Überleben, Spinner … Von Argentinien habe ich noch versucht, über Mittelsmänner Deine Mutter zu bewegen, mir zu folgen. Aber sie reagierte nicht auf meine Briefe. So habe ich mir mein eigenes, neues Leben aufgebaut. Mit meinen Kenntnissen in der Landwirtschaft und vor allem in der Rinderzucht konnte ich mir, dank der Unterstützung unserer Bruderschaft, eine neue Existenz aufbauen. Der Fleischbedarf der Amerikaner, vor allem durch ihre Kriege in Korea und Vietnam, hat mir zu einem recht ordentlichen Auskommen verholfen.

    Ach ja, fast hätte ich vergessen zu erwähnen, dass ich nach fünf Jahren wieder geheiratet hatte. Aus dieser Ehe entstammen zwei Kinder, Walter und Karin, beide sind mittlerweile auch verheiratet und haben mir vier Enkelkinder geschenkt... Bigamie!, platzte es aus dem Onkel heraus, „Er ist ja nie offiziell von Caro geschieden worden.

    „Er galt ja auch als tot, erwiderte Hans Lehmann, „da bedurfte es keiner Scheidung.

    „Pah, Dreckskerl, Verräter!"

    „Lies weiter, ich will es endlich zum Ende bringen."

    Paul Marschank rückte seine Brille zurecht, räusperte sich und hob die Briefbögen erneut zum Lesen. „Du hast also Geschwister und bist vierfacher Onkel. Deine Geschwister wissen nichts von Dir, vielleicht ist es auch besser so. Was ihr jetzt daraus macht, kann ich nicht mehr beeinflussen, aber bedenkt Euer Handeln gut.

    Nun, mein Sohn, ich weiß, ich kann nicht alles wieder gutmachen, aber dennoch sollst Du einen Teil meiner Hinterlassenschaft erhalten. Doktor von Oesen liegt mein Testament vor, das er Dir eröffnen wird. Was darin steht, wirst Du von ihm erfahren. Von Oesen ist ein Vertrauensmann, der meine Interessen in Deutschland vertritt. Darüber hinaus ist er auch ein führendes Mitglied unserer Bruderschaft, der, wenn auch wohl über einen längeren Zeitraum, mit dafür sorgen wird, dass wir wieder Herren unseres eigenen Vaterlandes werden. Ich werde diesen Zeitpunkt wohl leider nicht mehr erleben, aber Du, als mein Sohn, kannst dazu beitragen, dass Deutsche wieder über Deutschland bestimmen. Daher bitte ich Dich, schließe Dich der Bruderschaft an und kämpfe für ein freies Deutschland …Also jetzt hört’s aber auf!, empörte sich Paul Marschank, „Du willst dich doch wohl nicht diesen Immergestrigen anschließen?

    „Nun beruhige dich mal. Da brauchst du keine Angst zu haben, aber was will er noch?"

    Der alte Mann nahm widerwillig den auf den Tisch geknallten Brief wieder in die Hand und las weiter: „Das ist eine der Bedingungen, die Du in meinem Testament vorfinden wirst. Aber ich denke, das zu erfüllen, wird Dir eine vaterländische Pflicht sein.

    Zum Schluß will ich Dir noch sagen, daß ich gerne in meine geliebte Heimat zurückgekommen wäre. Argentinien ist ein schönes Land, aber eben nicht die Heimat. Ich habe oft daran gedacht, wie es geworden wäre, wenn wir rechtzeitig die Atombombe bekommen und den

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