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Zwischenland: Prosa und Lyrik
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Ebook156 pages38 minutes

Zwischenland: Prosa und Lyrik

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Der Titel Zwischenland steht nicht nur als poetische Metapher für die vorliegende Textsammlung, er bezeichnet auch zugleich einen Standort, den Martin Merz während seines Lebens nie ganz verlassen hat. Der bekannte Schweizer Autor Klaus Merz sagt über das Schreiben seines früh verstorbenen behinderten Bruders:
"Er blieb von allem Anfang an durch Krankheit in die Enge verwiesen, eine Enge, die er aber mit Hilfe seiner Sprache immer wieder sprengte. Davon legen seine Gedichte, die er direkt in die Maschine schrieb und nicht mehr veränderte, eindrücklich Zeugnis ab. In diesen Texten haben wir es mit Erfahrungen, gelebten und geträumten, mit zur Sprache gekommenen Hoch- und Abrechnungen eines im Wortsinn außerordentlichen Dichters zu tun, der bei aller märchenhaften Versponnenheit auch die Todesschwelle nie aus den Augen verlor. Im Frühjahr 1983 starb Martin Merz. 33jährig. Wer geht, bleibt in Bildern, heißt die Schlußzeile eines seiner Gedichte. Sie gilt jetzt für ihn."
Die Gedichte und Prosatexte in 'Zwischenland' werden begleitet durch ein Vorwort von Klaus Merz und einem ausführlichen Essay der Literaturkritikerin Esbeth Pulver, die sich intensiv mit dem Werk der Dichterbrüder Martin und Klaus Merz auseinandergesetzt hat.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateApr 18, 2017
ISBN9783709937945
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    Zwischenland - Martin Merz

    www.haymonverlag.at.

    Klaus Merz

    SCHNELLER KANN MAN NICHT REISEN

    Zum Gedicht „Nachtschatten" meines Bruders Martin Merz

    Nachtschatten

    Salz ist im Meer.

    Sterndämmer

    reisst mich in die Tiefe.

    Ich erwache

    unter Stimmen,

    die Lieder vom Meer

    singen.

    Grün leuchtend im

    Grau des Regens

    Bänder von Algen.

    Braun falten Schnecken

    die Fühler zum Gebet.

    Der Sternenkranz

    hat viele Lichter.

    Stau vor dem Gotthardtunnel. Und beim mörderischen Radwechsel auf der italienischen Autobahn, Stunden später, bleiben die Sandalen im aufgeweichten Asphalt kleben. Die Fahrt zieht sich hin, bis wir, geteert und gerädert, gegen Abend endlich an der ligurischen Küste die Zimmer beziehen.

    Aber all diese Strapazen erspart uns der Dichter und stellt uns schon mit dem ersten Satz in den Schatten. Ans Meer. Schneller kann man nicht reisen.

    „Salz ist im Meer", stellt er lapidar fest und reisst uns dann, noch bevor es in Wunden und Augen zu brennen anfängt, schnurstracks in die Tiefen seines Himmels hinab. Ohne Stau, ohne Schnorchel geraten wir in den Sog seiner Worte hinein. Aber wir haben ja alles dabei, was es für diesen Tauchgang braucht: Ein Gehör, zwei Augen, den geräumigen Kopf für die Bilder, ein Herz.

    Wer auf dem Kopf gehe, habe den Himmel als Abgrund unter sich. Man erinnert sich unwillkürlich an den umwerfenden Satz aus Celans Büchnerrede. Und geht an ihm mit Lenz durchs Gebirg. — Oder sieht sich jetzt doch genötigt, dem innerfamiliären Interpreten ein wenig auf die Füsse zu schauen, weil man meint, da versteige sich einer. — Nein, da war bei diesem jungen Dichter aus dem Mittelland nichts mit Gehen und Steigen, sein Kopf war von Anfang an zu gross geraten, zu schwer, auch für eine ordentliche Schulbildung — jedoch mit Hallräumen versehen für die Lieder vom Meer.

    Am ersten März 1974 hockt Martin am Tisch vor seiner meergrünen Olivetti und hackt den „Nachtschatten", als diktiere ihm einer den Text, mit zwei Fingern aufs Blatt. Korrigiert wird im nachhinein, wie immer, kein Wort. Aber im Schreibfenster der Maschine zieht sich das abgewetzte Farbband nun unverhofft als grün leuchtende Alge durch den grauen Tag, und der Dichter kommt schreibend — und nur so — langsam wieder auf die Füsse. Er kriegt überwasser und entlässt uns, wie er uns zuvor mit dem ersten Satz in die Pflicht seiner Worte und Bilder genommen und in die Tiefe gerissen hat, mit einem augenzwinkernden letzten Satz rasch und ohne zu klammern — was nur absolut Schwindelfreien möglich ist aus der Zauberhaft seines Gedichts.

    Die Demut der Schnecken, dieser eigenartig langsamen, ziemlich ortsgebundenen und doch autonomen Wesen, kommt über ihn. Und die Lichter der Gestirne, der anderen Welten treten jetzt deutlich aus ihrem anfänglichen Dämmer hervor: Sie markieren auch, eigenartig versöhnlich, die schillernden Stirnen der vielen Kostgänger des Herrn. Von ihm. Von uns.

    Aigues-Mortes, 1971 (Foto: Selma Merz)

    Gedichte eines Kindes, 1968

    Zwei Welten

    Ich schwebe in zwei Welten.

    Meine zweite Welt öffnet sich,

    wenn andere Schlaf suchen.

    Meine Gedanken leben,

    wenn ich sie in meiner Stimme

    ihre Worte suchen lasse.

    Mitten in Nacht und Stille

    werden die Gedanken zu Worten.

    Ich lebe in zwei verschiedenen Welten.

    Jede kennt die Gedanken der anderen.

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