Teddor
Von Peter Siefermann
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Über dieses E-Book
Peter Siefermann
Peter Siefermann wurde 1953 in Kappelrodeck im Land Baden-Württemberg geboren. Er lebte über dreißig Jahre in Basel in der Schweiz und arbeitete für ein deutsches Transportunternehmen. Nach Versetzung in den Ruhestand zog er mit seiner Ehefrau nach Deutschland zurück. Peter Siefermann ist Vater zweier Kinder, die beide in der Schweiz leben.
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Teddor - Peter Siefermann
13
Kapitel 1
Freitag, 28. Juni 2013
Als die ersten Sonnenstrahlen über den Kamm der Dünen auf seine geschlossenen Augenlider fielen, begannen die Erinnerungen wie zähflüssiger Leim langsam in sein Gehirn zu sickern. Er zitterte vor innerer Kälte, obwohl es eine Tropennacht mit über zwanzig Grad Celsius gewesen war. Die Mundhöhle fühlte sich an, als hätte er in der Nacht in den trockenen Sand, auf dem er lag, gebissen, und er dachte an den billigen schweren Rotwein, den er den gesamten vergangenen Abend über getrunken hatte, gezapft aus einem fünf Liter fassenden Kartonbehälter, von denen genau acht Stück um das Feuer herum gestanden hatten, und den man eigentlich mit Öl hätte schmieren müssen, damit er überhaupt die Kehle hinunter zu bekommen war. Er lag auf der Seite, in einer Art embryonalen Haltung, seinen Rucksack vor dem Bauch mit beiden Armen umklammernd, in einem knallroten Schlafsack aus Nylon, billigste Ware, was sowohl den Rucksack als auch den Schlafsack betraf. Das Fußende des Schlafsacks war ungefähr eine Schrittlänge von dem Steinkreis entfernt, innerhalb dessen das Lagerfeuer die halbe Nacht über gelodert und dessen Nähe er gesucht hatte, als die anderen alle gingen, nach Hause oder sonst wohin, um von den niedergehenden Flammen und danach der verbleibenden Glut etwas Wärme abzubekommen. Er versuchte Spucke zu sammeln, damit er einmal Flüssigkeit schlucken konnte, aber es gelang ihm nicht. Die rechte Gesichtshälfte bereitete ihm Unbehagen, als wäre sie einmal mit heißem Eisen gebügelt worden, aber die Ursache war der feine Sand, der, als er vom Wein betäubt schlief, in den Schlafsack geraten sein musste und der ihm die Gesichtshaut bearbeitet hatte wie Schmirgelpapier. Na bestens.
Vorsichtig hob er den Kopf, tonnenschwer und zugenagelt, blinzelte in das Sonnenlicht, das gerade flimmerte wie ein Filmprojektor im Kino, wenn man aus der Dunkelheit hinauf schaute zum Vorführungsraum, aber natürlich war es heller in den Dünen, und er stellte fest, dass es das Dünengras war, das vom Wind bewegt wurde und vor der Sonne stand und nervöse Schattenspiele produzierte. Der Sand hatte die Farbe des Mondes, dachte er, obwohl der Mond überhaupt nicht schien, und er dachte, dass er pinkeln gehen müsste, und wie er es eben noch dachte, konnte er kaum die Blase noch kontrollieren, merkte, dass plötzlich auch der Darm wie aus heiterem Himmel rebellierte, wie aus heiterem Himmel ist gut, dachte er, und dann sollte er besser nicht mehr denken, sondern handeln, sonst hätte er ein Problem. Halb verbrannt, innerhalb des Steinkreises voller Asche, entdeckte er zerknülltes Papier, Zeitungspapier, nicht schlecht, Reste, worin vielleicht die Muscheln eingewickelt gewesen waren, oder die Bratwürste, die man gestern gegrillt hatte, oder die zu eben diesem Zweck, nämlich sich hinter den Dünen erleichtern zu können, hier liegengelassen worden waren, sodass jeder gerade nehmen konnte, was er brauchte. Er wühlte sich aus dem Schlafsack, ginge besser wenn der Reißverschluss offen wär‘, schalt er sich, taumelte und fiel mit dem Gesicht in den Sand, so, nun hatte er dieses Gefühl von Sand im Mund im Original, fluchte, schnappte sich von dem Papier und verschwand zwischen zwei Dünen und setzte sich mit heruntergelassener Hose, sonst wär's blöd. Es war eine Stelle, von der aus er seinen Schlafsack im Blickfeld hatte. Nicht, dass der Schlafsack viel Wert gewesen wäre, aber es war nun mal seiner, einen anderen besaß er nicht, und wenn er im Freien übernachtete, so wie vergangene Nacht, gab er ihm zumindest die Illusion, umhüllt, zugedeckt und somit geschützt zu sein, mehr brauchte und verlangte er nicht. Wichtiger noch war der Rucksack, ein Modell mit Tragerahmen aus Aluminiumrohren, den er beim Schlafsack liegen gelassen hatte in der Annahme, er sei allein auf weiter Flur, und in dem all sein Hab und Gut steckte, was an Gut nicht besonders viel sein konnte, obwohl der Rucksack nicht klein bemessen, aber was das Hab anging, womit er all das Geld meinte, das nicht unbedingt sein Eigentum war aber sich nun eben in seinem Besitz befand, er ihn geradezu leichtfertig hatte liegenlassen. In diesem Augenblick sah er, dass heute Nacht nicht alle nach Hause oder sonst wohin verschwunden waren, sondern dass neben seinem Schlafsack ein weiteres Lager hergerichtet war, dem er den Rücken zugekehrt hatte, weswegen er es nicht hatte sehen können, und dass in dem Lager jemand lag. Schlafend oder wach? Und wer?
Was hätte er bloß gemacht ohne Papier? So war diese Sache noch mal gut gegangen, und war nicht noch etwas anderes mit gut? Ach doch, den stillen Ort gut mit Sand bedecken, stimmt, wegen der Fliegen und der Diskretion und so, und irgendwie fand er nun, dass der Tag auch gut begonnen hatte, trotz des dicken Kopfes. Soviel Wein aber auch. Wie viel war es denn? Mannomann, die Franzosen wissen aber auch zu feiern, und wenn sie dann noch die Cognacflasche herumreichen, darf man sich fast wie adoptiert fühlen. Wer mochte wohl in dem anderen Schlafsack liegen?
Papier, das er nicht benutzt hatte, raffte er zusammen und nahm es mit zum Lager. Zwei Augen und eine Nasenspitze lugten ihm aus dem benachbarten Schlafsack entgegen, der Rest von Gesicht und Kopf war eingemummelt in ein Tuch oder einen Schal, und der Schlafsack war von entschieden höherer Qualität als sein eigener, ein Mumienschlafsack, in welchem er mit Sicherheit Platzangst bekommen würde, weil die Bewegungsfreiheit der Beine eingeschränkt wurde. Hallo, fragte er, bist du wach, und hier, sagte er, ist Papier für den Fall, dass du mal musst, und warf das Papier den zwei Augen und der Nase vor die Nase. Ein Stöhnen oder ein Seufzen kam als Reaktion, und eine Hand und ein Arm tauchten aus den Tiefen des Schlafsackes auf und zogen den Schal oder das Tuch, jetzt erkannte er, dass es ein Tuch war, eine Art Kopftuch mit Palästinensermuster, vom Kopf.
Hallo, antwortete der Kopf mit einer Frauenstimme, die Stimme belegt und die Zunge steif, wie es nach dem Genuss von zu viel billigen Rotweins und much to much aus der Cognacflasche nicht anders zu erwarten war, in einer noch universellen Sprache, denn allein mit dem Wort „Hallo" war längst kein Herkunftsnachweis erbracht. Als die Hand den Kopf irgendwie widerwillig von der Kapuze des Mumienschlafsacks befreite, erkannte er die Person, die Frau wieder, er hatte sie gestern Abend im Kreis der Leute um das Lagerfeuer wahrgenommen, essend, trinkend, lachend und singend, ja singend, und Gitarre spielend. Nur allmählich erweiterte sich sein Gesichtsfeld, die Weitwinkelfunktion der Augen hinkte merkwürdig behäbig hinter der aufsteigenden Form seiner sonstigen Verfassung her, weshalb er die Gitarrenhülle neben dem Lager der Frau erst jetzt sah. Sie war nicht die einzige Gitarrenspielerin gewesen, mehr oder weniger war das Instrument reihum gereicht worden, gerade immer zu demjenigen als nächsten, der danach die Hände streckte, und auf diese Weise war ständig einer am Klimpern, brachte andere, neue Songs, bekannte, unbekannte, die meisten französischen unbekannt, aber er selber spielte nicht, konnte nicht spielen, hatte es nie gelernt.
Marie, war sie genannt worden, oder Martine oder Marianne, oder so ähnlich. Sie hatte dunkelblondes Haar bis über die Schultern und auf den Rücken und im Feuerschein flackerte es rötlich und rot, als würde es brennen, und wenn sie den Kopf nach hinten warf oder vor Lachen hin und her, schienen goldene Funken daraus in die Nacht zu stieben zu den Sternen und dort neue Sterne zu werden. Die Anzahl der Leute, die anwesend gewesen waren, schwankte ständig ungefähr zwischen zwölf und zwanzig, unmöglich, es mit Bestimmtheit zu sagen, denn es war ein Kommen und Gehen, neue Leute kamen hinzu, andere verabschiedeten sich, manche Pärchen, die sich wie zufällig bildeten, verkrümelten sich kurzfristig zwischen den Dünen, um nach gewisser Zeit wieder im Kreis der anderen zu erscheinen, aber Marie oder Martine oder Marianne oder wie sie nun hieß, ließ sich auf keinen Zufall ein, genauso wenig wie er, aber er war ihr auch sonst nicht in die Quere oder Nähe gekommen. Er hatte nicht speziell auf sie oder allgemein darauf geachtet, wollte wegen seiner Beobachtungen nicht wie ein Spießer dastehen, wollte ebenfalls locker und leger bleiben, wie man das an diesem gestrigen Abend allgemein zur Schau stellte, ja, es war eine Schau gleichwohl, denn alle zeigten wie unter Zwangsneurose stehend, einer fast penetranten Aufdringlichkeit und enormer Schauspielkunst, wie generös und tolerant und gegenüber allem aufgeschlossen man doch war. Seht her, seht her, hörte er einen imaginären Großkotz rufen, ich lasse diese Frau an meiner Seite, die im wirklichen Leben meine Freundin ist, mit jenem Hippie dort zwischen die Dünen verschwinden, wohlwissend, was sie dort treiben, und es macht mir nicht im Geringsten was aus, so modernen Geistes bin ich. Dabei würde just jener Rufer der Erste sein, der seine Frau am folgenden Tag wegen Untreue verprügelte, die Lüge und die Eifersucht wären ihm bereits anzusehen, noch während er dumme Sprüche klopfte.
Ab einer vorgerückten Stunde, zu welcher genau konnte er nicht mehr nennen, war er so betrunken, dass weder vom Weitergang noch vom Ende der Party etwas in seinem Gedächtnis haften geblieben war. Nun stand er da, die persönliche Freiheit vor lauter Kopfweh und Kater auf Halbmast gehisst, pfeif drauf auf die Freiheit, oh Mann, wer hat bloß behauptet, dass er sich in aufsteigender Form in irgendeiner sonstigen Verfassung befände, vor einem mit einem fremden weiblichen Wesen gefüllten Mumienschlafsack, und er wusste noch nichts weiter von der Unbekannten als dieses eine Hallo.
Kannst du mal auf meine Sachen aufpassen, fragte sie ihn endlich doch auf Englisch, während sie sich aus ihrem Schlafsack pulte, ihre verwaschene rote Tunika in Form zupfte, nach dem Papier klaubte und durch den Sand stapfte, unsicher und staksig noch auf den Beinen, die in ebenso ausgebleichten Jeans steckten, und hinter einer der Dünen verschwand. Noch immer nicht besser auf eigenen Beinen, drehte er sich um die eigene Achse, um den Schauplatz des nächtlichen Geschehens besser in Augenschein nehmen zu können. Zerwühlt und zertrampelt sah alles aus, kein Wunder, hatte man doch um das Feuer getanzt, mit leeren Weinkartons Fußball gespielt, Männlein wie Weiblein, ausgelassen und lebensfroh, wie junge Leute um die Zwanzig, einige darunter, einige darüber, halt so sind, wenn sie genug geraucht, Marihuana, Haschisch, und getrunken haben. Ein einziger Weinkarton stand mitten auf dem Festplatz, nicht weit vom Steinkreis, etwa vergessen? Er musste zugeben, dass der Ort beinahe peinlich sauber aufgeräumt und hinterlassen war, bis auf die Frau und ihn selbst als Übrigbleiber, und diesen Karton, zu dem er nun ging und feststellte, dass er noch halb voll war, ungefähr zwei Liter Rotwein oder mehr. Er nahm ihn mit zu seinem Schlafsack und setzte sich, hob den Karton an den Mund und trank, es war der bekannte grausame erste Schluck, der ihn erschauern ließ und Brechreiz in ihm auslöste, den er aber tapfer zuschüttete und mit zusammengepressten Lippen in sich behalten konnte. Schlagartig fühlte er sich besser, näherte sich schnell einem Wohlfühlpegel an, mit dem er blendend auszukommen verstand und der ihm nicht unwillkommen war. Mit dem nächsten Schluck festigte er die gewonnene Basis, betonierte sie als ein Bassin, in das er noch nachfüllen konnte, wenn ihm danach sein sollte.
Er beobachtete sie, wie sie hinter der Düne zum Vorschein kam. Sie sah übernächtigt aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, und er konnte sich vorstellen, wie er selber nach dieser Nacht ausschauen mochte, blendete diese Vorstellung aber rasch aus als sie näher kam und ihn fragte, was er da habe. Ihre Haut war sonnengebräunt, sie verbrachte bestimmt schon längere Zeit im Süden, war Sonne und Hitze besser gewohnt als er. Er schätzte sie spontan auf achtzehn oder zwanzig Jahre, durfte demnach etwas jünger sein, sie war nicht geschminkt und trotzdem schön, war schlank in der Taille mit dezentem Hüftschwung, die Tunika verdeckte geschickt ihren Oberkörper, und da ihm Oberweitenmaße ziemlich egal waren, dachte er in der folgenden Sekunde sowieso nicht mehr daran. Überhaupt lagen ihm Bewertungen oder Vergleiche nach oder von Aussehen fern, er war nicht fähig dazu, verfügte über keinen gesicherten Geschmack und Stil, konnte Kitsch von Klasse kaum unterscheiden, urteilte nach dem einfachen Prinzip gefällt mir oder gefällt mir nicht, weshalb er in der gleichen Sekunde für jetzt und alle Zeit unumstößlich für sich feststellte: Sie gefällt mir. Wobei mit alle Zeit die Zeit gemeint war, die er glaubte eigenverantwortlich verwalten zu dürfen so lange er sein Leben ertragen wollte, und mit unumstößlich eine zukünftig nicht zu diskutierende und in keinster Weise infrage zu stellende Entscheidung.
Er reichte ihr den Weinkarton. Wie heißt du, wollte er im selben Augenblick fragen, aber sie kam ihm zuvor und sagte, ich heiße Marlene, komme aus Norwegen, und als sie Norwegen genannt hatte, fiel ihm ein alter Bekannter, nein, ein entfernter Verwandter ein, der einmal vor einiger Zeit etwas über Norwegen gesagt hatte, doch ausgerechnet in diesem Moment waren ihm Gedanken daran, über was er gesprochen hatte, höchst unangenehm, auch unangebracht, weswegen er sie mit einem kurzen Kopfschütteln aufforderte, zu verschwinden, was sie auch unumwunden taten, lauerten aber, das ahnte er, irgendwo hinter einer Ecke seines Gedächtnisses, bereit, jederzeit hervorzustürzen. Sie schielte skeptisch mit einem Auge in die Schraubverschlussöffnung des Kartons, setzte den Karton an den Mund und trank einen Schluck. Er sah ihr an, dass sie ähnliche Mühe hatte, den ersten Schluck behalten zu können, wie sie einen schnellen Moment lang Anzeichen von Würgereiz im Gesicht zeigte, diesen schließlich überwand und, wie er, mit einem folgenden Schluck niederkämpfte. Sie beide mussten nach dieser Nacht und dieser morgendlichen Prozedur aus dem Munde stinken wie ein Gülleloch, doch sie hatten nicht die Absicht, einander oder jemand anderen zu küssen, und dann fiel ihm ein, dass er in seinem Rucksack eine Tube Zahnpasta dabei hatte, die er unverzüglich hervorkramte, sich eine Fingerlänge über die Zähne schmierte, um die Tube dann an Marlene weiterzureichen, die jedoch den Kopf schüttelte und erklärte, dass sie eigene Zahnpasta habe. Die Zahnpasta hinderte beide allerdings nicht daran, ständig an dem Weinkarton zu nippen, kleine Schlucke nun, aber beständig, um die Motoren quasi auf Betriebstemperatur zu halten. Zeit, um die Menge und die Verbrennung herunterzufahren, würde noch reichlich auf sie zukommen.
Er heiße Teddor, stellte er sich vor, Teddor von Theodor, aus Deutschland, fummelte an seiner Jacke herum und brachte eine blaue Packung Gitanes Filter zum Vorschein, prüfte die Menge an vorhandenen Glimmstängeln und entschied, dass er für Marlene ruhig eine entbehren könnte, die sie nicht ablehnte, doch müsste spätestens heute für Nachschub gesorgt werden. Wo waren sie hier überhaupt? In der Morgenluft lag ein starker Duft nach Meer. Er war vorher erst einmal am Meer, an der See gewesen, auf Kreta, mit der InterRail-Karte, von Deutschland über Österreich und Jugoslawien nach Griechenland, Athen, und mit der Fähre übergesetzt nach Heraklion, per Anhalter weiter nach Chersonisos an der Nordküste Kretas. Die meisten der anderen Tramper und InterRailer, die er auf der Fähre getroffen hatte, wollten unbedingt nach Matala an der Südküste, dem angesagten Hippietreff auf der Insel, doch ihm war nicht nach Gesellschaft gewesen und er blieb lieber allein auf seiner Tour.
Wenn du das Meer sehen willst, brauchst du nur auf die Düne zu klettern, sagte Marlene und deutete mit dem Zeigefinger über seine Schulter. Konnte sie Gedanken lesen? Eine oberflächliche Einschätzung der Düne hinter sich ließ sein Interesse am Meerblick für den Moment jedoch rasch erheblich kleiner werden, viel zu hoch und viel zu steil für die augenblickliche Fitness, und viel zu viel Sand, der bestimmt mit dem ungünstigen Rutschfaktor vier zu eins ausgestattet, also vier Schritte aufwärts um effektiv einen vorwärtszukommen, nicht gerade wie eine Einladung aussah, was er dankbar registrierte und für ihn einen berechtigten Grund zum Untenbleiben darstellte. Was sich dann wohl auf der anderen Seite befinden mochte? Auf der anderen Seite, Marlene schien sich bestens auszukennen, verläuft eine Straße, der Küste entlang, von Ost nach West, oder umgekehrt, und die nächste Ortschaft heißt Palavas les Flots, wohin, erwähnte sie, sie sowieso hinwollte. Das trifft sich, meinte er, dass er nämlich gestern Abend das gleiche Ziel gehabt hatte, erzählt er dann, bevor ihn die vier Leute aufgrund seines ausgestreckten Daumens in ihrem uralten R4 auf der Straße zwischen Montpellier und diesem Palavas les Flots aufgegabelt und nach hier in die Dünen mitgenommen hätten, einfach so. Wildfremd, verstehst du?
Sie lächelte nachsichtig, mochte mit wildfremd und einfach so vielleicht schon reichlichere Erfahrungen gesammelt haben als er, und er ahnte in dem Moment einen Zipfel von der ganzen Tischdecke, dass es gewiss ein Unterschied war, ob man seine Nase wie ein Greenhorn in die sogenannte alternative Lebensweise steckte, oder ob man sie mehr oder weniger mit dem Löffel gefressen oder mit der Muttermilch getrunken und verinnerlicht hatte. Er kannte die Szene, die sich um das von allen bürgerlichen Konventionen befreite Leben drehte, zugegebenermaßen nur vom Hörensagen, denn er sah sich in vielen Dingen massivst gehandicapt, dass er oft nicht mal sicher war, ob ihm ein normaler Gang durch wechselseitiges Bewegen der Beine, mal links nach vorne, dann rechts nach vorne, ohne Aufsehen zu erregen gelingen würde, oder ob es nicht überhaupt besser sei, liegen, sitzen oder stehen zu bleiben. Tatsächlich fühlte er sich, in allem was er tat, ständig beobachtet und, typisch für ihn, natürlich negativ bewertet. Dagegen war ihm die pure Lebensfreude, wie er sie zum Beispiel gestern Abend bei Marlene, aber auch bei allen anderen gesehen hatte, ein unerreichbar fernes Ziel, was ihm sein ganz persönlicher Neid stets und immer wieder wie eine Gebetsmühle einflüsterte. Politisch war er dermaßen desinteressiert, dass der Name Mao Tsetung genauso gut für ein chemisches Produkt von BASF oder Bayer zur Bekämpfung von Stechmücken stehen könnte, oder Ho Tschi Minh ein Synonym oder Markenname für Schwarztee aus Fernost wäre. Ein Wunder, dass er es trotz all seiner empfundenen Widrigkeiten bis hierher geschafft hatte.
Sie stapften mit den Rucksäcken, dem Weinkanister und Marlenes Gitarre durch den Sand zur Straße, brauchten nicht lange zu warten, was freilich dem aparten Erscheinungsbild Marlenes zuzuschreiben war, bis sie von einem Citroen-Wellblech-Kastenwagen, der im Grunde zu einer ausgestorbenen Spezies gehörte, am Straßenrand aufgelesen und nach kaum drei Kilometern Fahrt in Palavas les Flots im Zentrum am Quai Paul Cunq neben dem Canal de Palavas, dem Le Lez, abgesetzt wurden. Es war Ende Juni.
Marlenes Weg aus Norwegen hatte sie über Deutschland und Österreich erst nach Venedig geführt, wobei sie das Glück hatte, ab Dänemark von einem freundlichen Trucker im Fernlaster bis nach Mailand kutschiert zu werden. Nach Venedig hatte sie Florenz und Siena besucht, um von dort aus die Küste entlang nach La Ciotat in Frankreich zu trampen, wo sie zwei Wochen lang bei einer Brieffreundin wohnen konnte, deren Freund in der Sommerzeit allabendlich im benachbarten Cassis eine Hauskatzendressur vor den Touristen im Hafen vorführte. Über Avignon und Montpellier war sie gestern hier gelandet, wo sie praktisch durch Zufall auf die gleiche Weise wie Teddor zu der Dünenparty eingeladen worden war. Sie plante, über Sète weiter der französischen Mittelmeerküste zu folgen, bei Port Bou nach Spanien zu wechseln, Barcelona zu sehen, Valencia, Alicante, Malaga mitzunehmen und in Sevilla einen längeren Aufenthalt bei einer weiteren Brieffreundin einzulegen, bevor sie sich Richtung Portugal wenden wollte um in Lissabon ein vorläufiges Endziel zu erreichen. Wie es dann weitergehen würde, konnte sie beim besten Willen nicht sagen, sie hatte definitiv keine ferneren Vorstellungen, Zeit würde keine Rolle spielen, da sie weder zu Hause in Norwegen