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Aufhören! Vom Ende in der Musik: Österreichische Musikzeitschrift 04/2015
Aufhören! Vom Ende in der Musik: Österreichische Musikzeitschrift 04/2015
Aufhören! Vom Ende in der Musik: Österreichische Musikzeitschrift 04/2015
Ebook341 pages2 hours

Aufhören! Vom Ende in der Musik: Österreichische Musikzeitschrift 04/2015

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"Dass sie nicht enden können, das macht die großen Werke groß", schrieb der Philosoph Ernst Bloch über seinen Kollegen Hegel. Der Satz gilt in gleicher Weise für dessen Zeitgenossen Beethoven – und nicht nur für das "ewige Leben" in der Rezeptionsgeschichte, sondern auch für manches Werk (vor allem die heroischen Symphonie-Finalsätze oder den Fidelio). Bei Theaterlicht besehen lässt er sich auch auf den zweiten Akt der Oper aller Opern, des Don Giovanni, anwenden sowie auf viele Arbeiten der nachfolgenden Komponisten-Generationen – von den "himmlischen Längen" Schuberts bis zu zahlreichen Beispielen der neuesten Kammermusik. Mit dem Themenschwerpunkt "Aufhören!" geht es aber auch um das (zu?) frühe Ende von Tonkünstlern wie um das (zu?) späte Beenden von Tonkünstler-Karrieren.
LanguageDeutsch
Release dateJul 30, 2015
ISBN9783990122136
Aufhören! Vom Ende in der Musik: Österreichische Musikzeitschrift 04/2015

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    Aufhören! Vom Ende in der Musik - Hollitzer Wissenschaftsverlag

    IMPRESSUM

    Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 70/04 | 2015

    ISBN 978-3-99012-213-6

    Gegründet 1946 von Peter Lafite und bis Ende des 65. Jahrgangs herausgegeben von Marion Diederichs-Lafite

    Erscheinungsweise: zweimonatlich

    Einzelheft: € 9,50

    Jahresabo: € 44 zzgl. Versand | Bestellungen: vertrieb@hollitzer.at

    Förderabo: ab € 100 | Bestellungen: redaktion@oemz.at | emv@emv.or.at

    Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV)

    ZVR-Zahl 983517709 | www.emv.or.at | UID: ATU66086558

    BIC: GIBAATWWXXX | IBAN: AT492011129463816600

    Herausgeber: Daniel Brandenburg | dbrandenburg@oemz.at

    Frieder Reininghaus (verantwortlich) | f.reininghaus@oemz.at

    Redaktion: Lena Dražić (Leitung) | l.drazic@oemz.at

    Johannes Prominczel | j.prominczel@oemz.at

    Julia Jaklin (Assistenz) | j.jaklin@oemz.at

    Adresse für alle: Hanuschgasse 3 | A-1010 Wien | Tel. +43-664-186 38 68

    redaktion@oemz.at | inserate@oemz.at | www.oemz.at

    Werden Sie FreundIn der ÖMZ: Unterstützen Sie die Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV) oder ihren deutschen Partner Verein zur Unterstützung von Musikpublizistik und Musik im Donauraum e. V. (VUMD) | info@emv.or.at

    BIC: COLSDE33 | IBAN: DE07370501981930076995

    Verlag: Hollitzer Verlag | Trautsongasse 6/6 | A-1080 Wien

    Tel. +43-1-236 560 54 | office@hollitzer.at | www.hollitzer.at

    Coverbild: Max Ernst: Heilige Cäcilie – das unsichtbare Klavier (1923) | © Staatsgalerie Stuttgart/VG Bild-Kunst

    Layout & Satz: Gabriel Fischer | A-1150 Wien

    © 2015 Hollitzer Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Die Redaktion hat sich bemüht, alle Inhaber von Text- und Bildrechten ausfindig zu machen. Zur Abgeltung allfälliger Ansprüche ersuchen wir um Kontaktaufnahme.

    Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

    Liebe Leserinnen und Leser,

    Irgendwann muss Schluss sein. Dies gilt unerbittlich für sämtliche Gattungen und Genres der Musik – jener Kunstform, die in besonderer Weise an die Zeit und ihre Verläufe gebundenen ist. Es trifft für alle Varianten der Präsentation und Wahrnehmung von formstabilen Tonkünsten und flüchtig erklingenden Events zu. Auch wenn musikalische Ereignisse eine kleine Ewigkeit dauern mögen – sie gelangen zwangsläufig zum Schlussakkord, verklingen oder brechen abrupt ab. Sie werden verlassen, abgeschaltet oder vom schläfrig werdenden Kopf ausgeblendet. Selbst wenn Radio oder Fernseher vor den geschlossenen Augen noch unverdrossen weiterdudeln.

    Sogar diejenigen musikalischen Arbeiten, die den Werkcharakter »aufbrechen« oder ihn gänzlich negieren – wie performative, installatorische, aktionistische oder elektronisch-audiovisuelle Produktionen – bedürfen mehr oder minder markanter Anfänge und Schlüsse. Früher oder später erreicht der Saphir die letzte Rille, ist die CD oder DVD durchgelaufen, die Performance definitiv erschöpft, geht im Theater der Eiserne Vorhang herunter. Dies gilt im Übrigen auch für Tonkünstler-Karrieren – obwohl gerade bei den Stars wie beim Gros der musikalischen »Leistungsträger« derzeit Durchhaltevermögen und Dauerhaftigkeit höchste Tugenden scheinen wie ansonsten nur bei Kirchenvätern, SchriftstellerInnen und britischen Monarchinnen.

    Mancher längst zum Altmeister gewordene junge Mann der Nachkriegszeit, der gerne obsolet gewordene Traditionen »sprengte« (im Extremfall hinsichtlich der feurigen Entsorgung der in seinen Ohren falsch befüllten Musiktheaterpaläste gar kess die Kostenfrage stellte), denkt nicht daran, Jüngeren Platz zu machen. Man mag dies als eine der periodischen Verkalkungserscheinungen des Kulturlebens ansehen. Aber warum ruft niemand nach dem Klempner?

    Das Nicht-enden-Wollen oder -Können erweist sich in diesem Heft als »Nebenlinie«. Zuvorderst geht es ihm um die Schlüsse unterschiedlichster Werke aus mehreren Jahrhunderten, um konstante Herausforderungen von Schlussbildungen und jeweils spezifische Konstellationen. Das tendenziell uferlose Thema von Abschiednehmen und Aufhören in und mit Musik bildet den Cantus firmus in den Reflexionen zu Orchester- und Kammermusik (die Opern blieben fürs Erste weitgehend ausgeblendet).

    Während der Vorbereitung dieses Heftes wurde eine Textsammlung angekündigt, die wesentliche Aspekte des ins Auge gefassten Themenfeldes behandelt: Peter Gülkes Buch Musik und Abschied. Hartmut Krones kommentiert das druckfrische Werk – und der Siemens-Musikpreisträger des Jahres 2014, angetan von »merkwürdiger Koinzidenz«, schrieb für die ÖMZ einen Essay zu den Schlüssen von Beethovens Pastorale.

    Das »Abschaffen« wurde fürs Komponieren im 20. Jahrhundert mitunter ebenso wichtig wie die Idee fortgesetzten Schöpfertums. Starke Erschöpfungserscheinungen haben das »Fortpflanzen« heimgesucht. Das Aufräumen ist intern fürs Komponieren von Belang, aber auch Bestandteil musikalischer »Sozialarbeit«. Es schafft notwendigen Platz für das Neue. ›Das Team der ÖMZ

    Inhalt

    Aufhören!

    Vom Ende in der Musik

    Gerhard R. Koch: Aller Anfang ist schwer, erst recht das Ende

    Hartmut Krones: Persönliche Todeserfahrung und Tod der Utopie

    Peter Gülke: Chiffre des erlösenden Aufatmens Beethovens sechste Symphonie und ihre Schlüsse

    Wolfgang Schreiber: Nicht aufhören Enden und Anfangen – mit Hörsplittern aus dem Repertoire

    Arne Stollberg: Pflaumenweiche Enden? Leise Schlüsse in Symphonien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

    Frieder Reininghaus: E la nave va – Ein Kalenderblatt zum 5. Juli 1965

    Daniel Brandenburg: Über das Ende hinaus. Komponistenwitwen zwischen Gattenverehrung und kulturellem Gedächtnis

    Andreas Dorschel: Der Welt abhanden kommen Über musikalischen Eskapismus

    Johannes Prominczel: »You can kill people with sound« Zum 80. Geburtstag von Arvo Pärt

    Extra

    Song-Kontext

    Melanie Wald-Fuhrmann: Der beste Song oder der kleinste gemeinsame Nenner? Das kollektive Werten beim ESC

    Ivan Raykoff: Ein Lied kann eine Brücke sein. Verbindungen von Ton und Bild beim diesjährigen Eurovision Song Contest

    Johannes Prominczel: Österreich beim Song Contest

    Neue Musik im Diskurs

    Stefan Drees: »… absolute freedom, complete autonomy for my art …«: Olga Neuwirth

    Berichte

    Oper in Europa

    Alban Bergs Lulu in Amsterdam, Oscar Strasnoys Fälle in Zürich, Julian Andersons Thebans in Bonn, Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici und Bela Bartóks Blaubart in Wien (Frieder Reininghaus)

    Premieren in Wien (Walter Weidringer)

    Così fan tutte an der Wiener Volksoper (Johannes Prominczel)

    War alles nur Wahn? Berliner Premieren (Magdalena Pichler)

    Hèctor Parras Wilde in Schwetzingen, Lucia Ronchettis Esame di mezzanotte in Mannheim (Frieder Reininghaus)

    Lior Navoks An unserem Fluss in Frankfurt (Jörn Florian Fuchs)

    Beat Furrers La bianca notte in Hamburg (Verena Fischer-Zernin)

    George Benjamins Written on Skin in St. Gallen (Anna Mika)

    René Clemencics Gilgamesch in Wien (Robert Lillinger)

    Festivals & Konzerte

    Musikprogramm der Wiener Festwochen (Juri Giannini & Fritz Trümpi)

    Musikbiennale Zagreb, Unsafe & Sounds Festival (Philip Röggla)

    »Urbo kune« (Juri Giannini)

    »… im Banne der Anderen« (Heinz Rögl)

    Revolution, Flucht und Exil (Sabine Seuss)

    Zum Achtziger von Kurt Schwertsik (Christian Heindl)

    Porträt Tamara Friebel (Sabine Seuss)

    Neues mit Traditionsbezug (Lena Dražić)

    Symposien

    Im weißen Rößl (Jan-Felix Wall)

    Fünfzig Jahre Neue Schubert-Ausgabe (Anna Mika)

    Wiener Symposien-Juni (Johannes Prominczel)

    Rezensionen

    Bücher

    CDs und DVDs

    Das andere Lexikon

    Spätwerk (Wolfgang Fuhrmann)

    News

    System und Kritik

    Zu guter Letzt

    Autoren dieser Ausgabe, Vorschau

    THEMA

    Aller Anfang ist schwer, erst recht das Ende

    Die Geschichte der Kunst ist auch die der großen Torsi: Der Fragment-Virus schleicht sich ins Werk ein

    Gerhard R. Koch

    Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß, Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.

    Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe.

    Goethes Gedicht aus dem West-östlichen Divan ist auch ein Hymnus auf das endlos in sich verschlungene Arabesken-Wesen islamischer Kunst. Den Dresdner »Pegida«-Schreihälsen dürfte dies schwerlich bekannt sein, wollen sie doch ein ›Abendland‹ verteidigen, von dem sie keinerlei Ahnung haben. Goethes Verse liefen allerdings noch auf etwas anderes hinaus: auf einen grundlegenden Zweifel am linear-teleologischen Verlauf jeglicher Art, an der Vorstellung, dass alles (s)einen Anfang habe, und von diesem bis zum Schluß fortschreite, ja sich zu diesem hin steigere. Denn was man gemeinhin Abendland nennt, basiert auf der jüdisch-christlichen Idee von Schöpfung, Sündenfall, geschichtlichem Prozess – bis hin zum Erscheinen des Messias, dem Jüngstem Tag, der Erlösung, dem wiedergewonnenem Paradies: Alles wird gut, möglicherweise. Oder auch gerade nicht.

    Analog verweisen die gängigen Vorstellungen von Kunst, zumindest in eurozentrischem Sinn, auf Schöpfung en miniature: auf das Werk. Ebendieses wird, ob als Text, Theater, Musik oder Film, als Verlaufs-Form nach dem obligaten Schrift-Modell gedacht, die im »Westen« von links nach rechts führt. Dieser Blickrichtung folgen auch Aufzüge, Paraden, Totentänze und noch die Bildfolgen Achim Freyers oder Robert Wilsons. Der Weg führt von A bis Z, zum Ziel: finis coronat opus. Die »Final«-Symphonie geleitet per aspera ad astra. Und selbst in der Malerei spricht man von »écriture«. Das vollkommen gelungene Werk ist demnach nicht nur Artefakt, sondern Abbild eines sinnvollen Weltganzen. Aber wenn Adorno Hegel vom Kopf auf die Füße stellte (»Das Ganze ist das Unwahre«), dann war dies nicht nur Ideologiekritik am Heile-Welt-Getue, sondern auch Einspruch wider den allzu obligaten Kult ums ›Meisterwerk‹, Zweifel am beschworenen Schein des »Wahren, Schönen, Guten«. Solches Misstrauen gegenüber dem integral autonomen ästhetischen Produkt findet sich schon in der frühen Romantik (F. Schlegel, Novalis): das Fragment als auch utopisches Wundmal misslingender Totalität. Ebendiese fußte nicht zuletzt auf der Dur-Moll-Tonalität, die die europäische Kunstmusik vom frühen siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert bestimmte – einschließlich der Regel, dass selbst ein mehrsätziges Werk in der exponierten Grundtonart schließen solle. Noch in nicht wenigen großen Opern folgt darin das Finale der Ouvertüre. Erst der Symphoniker Mahler widersetzt sich diesem Schema. Aber schon Schubert, Chopin und Brahms haben mit Moll-Schlüssen für Dur-Stücke der Regel opponiert. Gleichwohl gab es eine Grundformel klassischer Harmonik: den Nukleus der Kadenz, der noch in der gigantischsten Ausformung Modell eines zielstrebigen Verlaufs ist. Die musikästhetischen Irritationen seit dem 19. Jahrhundert haben mit der nachlassenden Kraft dieser Norm zu tun: Das gelingende Ganze ist nicht mehr selbstverständlich, das Fragmentarische greift um sich.

    Goethe, West-östlicher Divan, Erstausgabe, Titelblatt und Frontispiz mit dem arabischen Schriftzug: »Der östliche Divan des westlichen Verfassers«. Bilder: wikimedia.org/H.-P. Haack.

    Nicht in wenigen Fällen ist das »Unvollendete« der Werke keineswegs dem Tod des Verfassers geschuldet, sondern subjektive Sperre und generelle Situation greifen ineinander. So oder so ist das Abbrechen nicht zufällig, mag man über die Gründe noch so sehr spekulieren können. Natürlich konnte Mozart Fugen komponieren. Dass es trotzdem diverse Fragmente gibt, lässt darauf schließen, dass er sie als Beweis-Vehikel in Angriff nahm, dann die Lust am Archaischen verlor. Sogar im Fall des Torsos der c-Moll-Messe, immerhin acht Jahre vor seinem Tod entstanden, lässt sich zumindest mutmaßen, dass die geringe Aussicht auf eine Wiener Aufführung und sein größeres Interesse an neuartigen Opern, Klavierkonzerten, Symphonien und Kammermusik-Kombinationen ihn davon abhielten, sich der starren Form der lateinischen Liturgie, einschließlich des »gelahrten Styls«, weiter zu widmen. Man sollte jedenfalls das Abbrechen nicht mythologisieren: Ein »Spätwerk« jedenfalls war die Messe nicht. Nicht Mozart, die Gattung war erschöpft.

    Auch Schuberts »unvollendete« Werke (das Oratorium Lazarus, die h-Moll-Symphonie, der c-Moll-Quartett-Satz, eine C-Dur-Klaviersonate) stammen nicht aus den letzten Lebensjahren, ganz zu schweigen von den frühen Sonaten-Fragmenten. Die Abbrüche lassen sich vielmehr als Krise diagnostizieren: Den eigenen Ansatz authentisch fortzuführen, sah er sich außerstande – und der Konvention wollte er nicht folgen. Da ist auch Alfred Brendel zu widersprechen, der einmal meinte: Die frühe fis-Moll-Sonate (1817) sei noch zu ungestaltet, verglichen mit den späteren. Man kann es nämlich genau umgekehrt sehen: Im Kopfsatz hat er sogar radikaler als später primär auf Klang und Bewegung gesetzt. Die »reifen« Werke sind bei aller Expansivität bündiger in der Anlage.

    Das Fragmentarische greift um sich: Auguste Rodin, La pensée, um 1895. Bild: wikimedia.org

    Nun wäre es sicher übertrieben, entdeckte man im neunzehnten Jahrhundert in erster Linie Symptome des Scheiterns großer Entwürfe. Gleichwohl: Lieto fine, Apotheose und Verklärung sind problematisch geworden, die Schlüsse heikel. Der Höhenflug ist dem Abgrund gewichen, selbst wenn er bei Schumann noch als seliges Versinken erscheint: Die Frühlingsnacht schwingt sich gerade nicht in jauchzende Höhe. Und wenn Alban Berg seine Sonate op. 1 in eine Reminiszenz an den vorletzten Davidsbündler-Tanz münden lässt, hat dies eher lugubren Charakter (ist wohl also ein Verweis auf Tristesse). Vollends gibt es zwei Extremfälle des Umschlags von Gloriole in Depression: Der Kopfsatz von Bruckners Achter wie Liszts h-Moll-Sonate führen in der Erstfassung in die pompöse Aufwallung, in der zweiten ins karge Stocken. Aller Triumphalismus ist dahin. Und sosehr Wagner über Aureolen gebot, so evident ist der Widerspruch zur Gier nach dem Apokalypse-Ende – ob bei Holländer, Tristan, Wotan oder Amfortas. Demgegenüber klingt Erdas »Alles was ist, endet« geradezu tröstlich.

    Beunruhigender als die realen Torsi sind fast die latenten Ratlosigkeiten, wie sinnvoll zu schließen sei. Ausgerechnet der Triumphator Liszt verunsichert immer wieder mit oft erheblich divergierenden ossia-Varianten, als wisse er nicht, wie er die finalen Weichenstellungen zu bewerkstelligen habe. Nicht zufällig gibt es gerade bei seinen Liedern sehr unterschiedliche Versionen, die zu interpretatorisch heiklen Entscheidungen nötigen. Vollends vor Rätsel stellen einige späte Klavierstücke (Bagatelle ohne Tonart, Sospiri, Nuages gris, Unstern, Schlaflos, Frage und Antwort), die entweder einfach »aufhören«, einstimmig versickern oder auf verminderten Septakkorden, wenn nicht Dissonanzen quasi steckenbleiben oder in der Luft verharren: Der Fragment-Charakter ist schon integriert.

    Nun gibt es nicht zufällig »bürgerliche« Künstler, bei denen sich keine Fragmente finden: Brahms, Strauss, Strawinsky, Thomas Mann tendierten offenkundig weder zur Bohème noch zum utopischen Surplus, haben dementsprechend ihr Lebenswerk, gewiss imponierend, als abgeschlossenes hinterlassen. Ihre Anfechtungen, Zweifel, Depressionen konnten sie zumindest verbergen. Dagegen Mussorgski: Bei keiner seiner Opern kann man sich auf eine eindeutig »authentische« Fassung verlassen. Und die unaufgelösten, »unerlösten« Enden seiner Ohne-Sonne-Lieder bleiben verstörend offen. Während in der deutschen Musikauffassung der Glaube ans »integrale« Werk im Sinne einer geschlossenen Tradition vorherrscht, die in die historische Tiefe, bis zu Urvater Bach, vertikal gestaffelt ist, spielen Folklore, Volksmusik, Exotismus, Jazz, außereuropäische Kulturen da kaum eine Rolle. Im Gegensatz zur slawischen, französischen, erst recht amerikanischen Musik. Allerdings hat das Fragmentarische noch eine andere Seite: Zum Abbrechen gehört gleichermaßen das Nicht-Aufhören-Können im Doppel-Sinn von Nietzsches »Denn alle Lust will Ewigkeit« wie »Ewige Wiederkehr des Gleichen«: die Unersättlichkeit des Eros oder die Dauer-Qual des Sisyphus.

    Bei keiner seiner Opern kann man sich auf eine »authentische« Fassung verlassen: Modest Mussorgski (1870). Bild: wikimedia.org

    Zielen, zumal deutsche, »Final«-Symphonie und Oper teleologisch auf den alles entscheidenden Höhepunkt

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