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General der Mikroelektronik: Autobiographie
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General der Mikroelektronik: Autobiographie

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Karl Nendel – mit 32 Jahren Chefenergetiker der DDR-Braunkohlenindustrie, wenig später Leiter der Abteilung Elektronik im Volkswirtschaftsrat, dann stellvertretender Minister im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik und schließlich Regierungsbeauftragter für die Mikroelektronik. In seiner Autobiographie berichtet der langjährige DDR-Staatsbedienstete über die Erfolge sowie die Irrungen und Wirrungen beim Aufbau der sogenannten Schlüsseltechnologien. Brisanter Höhepunkt war der kurz vor der Wende öffentlichkeitswirksam präsentierte 1 Megabit-Chip.
Nendels eindrucksvolle Erzählungen räumen auf mit dem Mythos, die DDR habe bei den Computertechnologien mit der internationalen Entwicklung nicht Schritt halten können. Er schildert aus der Sicht des Insiders die tatsächlichen Gründe für die kräftezehrende Aufholjagd. Der imposante und
umstrittene Machtmensch und Macher – unter seinen Mitstreitern als "Revolver-Karl" bekannt – beschreibt lebhaft, wie er gemeinsam mit Devisenbeschaffer
Schalck-Golodkowski den Embargohandel organisierte und dafür nach der Wende vor Gericht kam. Offen und packend gewährt Nendel einen tiefen Einblick in die Wirtschaftspolitik der SED und den Aufstieg des Schlossersohns und gelernten Elektrikers zum Staatssekretär und Regierungsbeauftragten sowie den Beginn einer neuen Karriere nach der Wende. Eine außergewöhnliche Autobiographie!
LanguageDeutsch
Release dateMay 16, 2017
ISBN9783958415430
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    Book preview

    General der Mikroelektronik - Karl Nendel

    www.buchredaktion.de

    Prolog

    Im Zweiten Weltkrieg hatten die Sowjetunion und die westlichen Alli­ierten Schulter an Schulter gegen Nazideutschland gekämpft. Kaum war der Sieg errungen, begann ein neuer – ein kalter – Krieg. Die Alliierten teilten Deutschland während der Potsdamer Konferenz endgültig in vier Besatzungszonen und legten damit den Grundstein für die unterschiedliche Entwicklung in Ost und West. Zwei Welt­anschauungen standen sich fortan gegenüber. Sie kämpften außer auf politischem und militärischem auch auf ökonomischem Gebiet.

    Das im amerikanischen Sektor Berlins erlassene Militärregierungsgesetz Nummer 53 von 1946 verbot westlichen Unternehmen jeglichen Handel mit Gütern, die im sowjetischen Sektor für kriegswichtige Geräte und Anlagen eingesetzt werden konnten – juristisch gesehen der Beginn eines umfassenden Wirtschaftsembargos, das die entstehenden sozialistischen Staaten von der weltweiten technischen Entwicklung abschnitt. Wer behauptet, die Rückständigkeit der DDR sei Folge von Zentralisierung und Misswirtschaft gewesen, blendet aus, dass die kleine DDR in Form umfangreicher Reparationsleistungen ihren großen Bruder Sowjetunion mit durchfüttern musste, während Westdeutschland – spätestens mit dem Marshallplan – von Uncle Sam mit dem Silberlöffel hochgepäppelt wurde.

    Der Krieg war kaum zu Ende, als ein neues Wettrüsten die Welt teilte. Ohne lange zu fackeln, buhlten die Siegermächte nach 1945 um die deutsche Wissenschaftselite und holten deutsche Spitzenforscher in ihre Labore. Während Wernher von Braun die Entwicklung der Raketentechnik in den USA maßgeblich beeinflusste, wurden die späteren ostdeutschen Mikroelektronik-Pioniere Werner Hartmann und Matthias Falter, ebenso wie Manfred von Ardenne, in die UdSSR geholt.

    Der Wettlauf um den technologischen Fortschritt war die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln. Das betraf nicht nur die mittel- und unmittelbare Militärtechnik wie das Kopf-an-Kopf-Rennen um die erste Wasserstoffbombe und um den ersten künstlichen Erdsatelliten. Damit rückten generell die Grundlagen der Steuerungstechnik ins Zentrum wissenschaftlicher Forschung. In New York wurde am 30. Juni 1948 der erste Transistor der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Seine Erfinder William Shockley, John Bardeen und Walter Brattain hatten in den berühmten BELL Laboratories in Kalifornien geforscht. Zugang zu den Ergebnissen ihrer bahnbrechenden Erfindung hatten nach 1945 außer den USA zunächst die Japaner, die 1955 ihr erstes Transistorradio präsentierten. Später erhielten weitere westliche Länder, darunter die BRD, Lizenzen. Im September 1958 stellte die US-Firma Texas Instruments die ersten integrierten Schaltkreise der Öffentlichkeit vor.

    Mit Gründung der CoCom-Behörde 1949 in Paris wurden die amerikanische Militärgesetzgebung und damit die Überwachung des Wirtschaftsembargos institutionalisiert. Die im selben Jahr gegründete DDR hatte – wie andere Staaten des Ostblocks – damit keine Chance mehr, Fertigungslizenzen für neue Technologien zu erhalten.

    Es gab zwei Möglichkeiten, sich aus dieser Zwickmühle zu befreien: Entweder erfanden die ostdeutschen Halbleiterinstitute – deutlich zeitverzögert – das Rad neu oder die junge DDR musste Mittel und Wege finden, das Embargo zu umgehen. Die politische Führung der DDR entschied sich für letzteren Weg und baute über ihre spätere Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit ein weltweites Netz auf, über das Unterlagen, Bauteile, Maschinen und ganze Fabriken beschafft wurden.

    Fünfzehn Jahre nachdem die USA den ersten Spitzen­transistor vorgestellt hatten, produzierte das Halbleiterwerk Frankfurt/Oder ab 1963 den ersten DDR-Transistor. 1962 hatte die Staatliche Plankommission eine Abteilung Elek­tronik unter der Leitung von Rudi Wekker gegründet, die 1963 in den Volkswirtschaftsrat übernommen wurde. Seit ich Wekker 1965 ablöste – später wurde ich Staatssekretär im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik –, konnte ich die Entwicklung aus der ersten Reihe verfolgen.

    Während Walter Ulbricht die neuen Technologien politisch förderte, rückte ihre Entwicklung mit der von Erich Honecker betriebenen Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Hintergrund. Auch zeigte sich, dass die DDR beim Aufbau einer eigenen Mikroelektronik nicht wie erwartet auf die Sowjetunion setzen konnte, weil diese trotz innovativer Forschung keine Serienproduktion etablieren und so mit der internationalen Entwicklung nicht Schritt halten konnte. Die UdSSR stand ebenso wie die DDR unter Wirtschaftsembargo.

    Auf der 6. Tagung des Zentralkomitees der SED im Jahre 1977 räumte die politische Führung ein, dass die DDR auf dem Gebiet der Mikroelektronik endgültig den Anschluss an die weltweite Entwicklung verlieren würde, wenn sie diesen Zweig weiterhin vernachlässigte. Darum erhob sie die Mikroelektronik in den Rang einer »Schlüsseltechnologie«. Ein gewichtiger Grund für diesen Sinneswandel mag im verstärkten Wettrüsten zwischen NATO und Warschauer Vertrag gelegen haben. Der Osten durfte bei der Entwicklung neuer Waffensysteme – das amerikanische SDI-Programm war in aller Munde – nicht ins Hintertreffen geraten. So kam es, dass die DDR, in der es bis dato kaum militärische Produktion gegeben hatte, auf Druck der Sowjetunion in die Lizenzproduktion von Waffensystemen einstieg, in der wiederum die Mikroelektronik eine entscheidende Rolle spielte.

    Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung wurde ich 1985 Regierungsbeauftragter für die neuen Technologien auf zivilem wie militärischem Sektor. Als erster – und letzter – DDR-Staatsbediensteter war ich in dieser Funktion für die Bündelung aller Maßnahmen verantwortlich. Dazu gehörte auch die forcierte Beschaffung von Know-how im kapitalistischen Ausland.

    Vorführung moderner CAD/CAM-Technologie auf der Frühjahrsmesse in Leipzig 1985. In der vorderen Reihe Erich Honecker, Willi Stoph, Horst Sindermann, Günter Mittag und Karl Nendel (v. l., Foto: Lange/Neues Deutschland)

    Der 1988 in Dresden entwickelte 1-MB-Speicherchip sorgte im Westen für einen kleinen Sputnik-Schock. Zwischen 1977 und 1988 investierte die DDR vierzehn Milliarden Mark in die Mikroelektronik.¹

    Wenig später war die DDR verschwunden – und mit ihr die Sisyphusarbeit der technologischen Verfolgungsjagd. Für mich brach eine Welt zusammen. Immerhin gelang es mir, eine neue Karriere aufzubauen. Ohne die Hemmnisse des Embargos konnte ich nun viele lang gehegte Ideen umsetzen.

    1998 jedoch holte mich die Vergangenheit ein: Das Berliner Landgericht verurteilte mich wegen eines Verstoßes gegen das Embargo zu einer Bewährungsstrafe – auf der Grundlage des 1946 erlassenen Militärratsgesetzes.

    Mehrere Jahrzehnte hatte ich für das ostdeutsche »Wunder Mikroelektronik« den Kopf hingehalten. Nach der Wende wirkte ich an dessen Abwicklung mit. Die Betriebe der Branche wurden wie alle anderen privatisiert, viele geschlossen, zahllose Beschäftigte und Fachleute verloren ihre Arbeitsplätze. Von den neunzigtausend Beschäftigten, die in der elektronischen, der optischen und der nachrichtentechnischen Industrie der DDR tätig gewesen waren, blieben nach 1990 nur etwa zehn bis fünfzehn Prozent übrig.

    Doch einige ostdeutsche Elektronikunternehmen schafften den Sprung in die Marktwirtschaft. Sie produzieren heute auf Weltniveau. Ihre Basis ist die Kreativität, die zwischen 1945 und 1989 – trotz oder vielleicht gerade wegen des Embargos – gewachsen war.

    1 Vgl. Gerhard Barkleit: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme. Dresden 2000, S. 27.

    Pimpf in Hitlers Reich

    »Der Junge muss Adolf heißen!«, schlug die Hebamme meinen Eltern vor, als ich just am 20. April 1933, Hitlers 44. Geburtstag, im Jahr des Machtantritts der Nazis in Falkenau bei Chemnitz zur Welt kam. Tausend Jahre, prophezeiten sie, sollte ihr Reich bestehen!

    Meine Mutter, eine solide, einfache Frau, weigerte sich und nannte mich Karl. Adolf – zu diesem Zeitpunkt unvermeidlich – wurde mein zweiter Name. Als dritten trage ich den meines Vaters: Walter.

    In meiner Familie waren fast alle politischen Strömungen vertreten: Mein Vater trat wenige Jahre nach meiner Geburt in die NSDAP ein, sein großer Bruder war Kommunist, mein Großvater Sozial­demokrat. Bei Familientreffen ging es hoch her, da wurden die politischen Kämpfe, die auf den Straßen tobten, am Küchen- oder Wohnzimmertisch ausgetragen. Alle diskutierten über die hohe Arbeitslosigkeit. Von fünfunddreißig Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter waren sechs Millionen arbeitslos gewesen – nahezu zwanzig Prozent. Aus diesem Arbeitslosenheer entstanden der Reichsarbeitsdienst und die Organisation Todt, eine paramilitärische Bautruppe. Welche Wege würde die Arbeiterklasse gehen – in Richtung Kommunismus? Oder würde sie den Nazis auf den Leim gehen? Auch darüber redete man sich bei uns die Köpfe heiß. Doch unsere Familie hatte sich einen Ehrenkodex auferlegt: Trotz unterschiedlicher politischer Überzeugungen achtete man sich gegenseitig.

    Meine Vorfahren väterlicherseits waren allesamt ungelernte Fa­brikarbeiter oder Landwirte gewesen. Die Generation meines Vaters brachte zum ersten Mal gelernte Schlosser, Werkzeugmacher oder Bauarbeiter hervor. Meine Mutter hingegen stammte aus einer Eisenbahnerfamilie – ein Berufsstand, der ein ausgesprochen hohes Ansehen genoss.

    Die älteste meiner beiden Schwestern ist juristisch gesehen meine Cousine. Die Schwester meiner Mutter hatte drei Kinder mit drei verschiedenen Männern. Als im November 1931 das zweite geboren war, entschied meine Mutter: Wir nehmen die Kleine zu uns! Meine Eltern adoptierten sie nicht, da sie zu ihrer Mutter zurückkehren sollte. Jutta blieb jedoch bei uns und ist für mich bis heute meine Schwester. 1941 kam meine leibliche Schwester Karin hinzu.

    Mit fünf Jahren hatte ich einen schweren Unfall. Ein Schafbock stieß mich um, ich rollte fast in einen Mühlgraben, konnte gerade noch vor dem Hineinfallen bewahrt werden. Der Schreck löste Anfälle aus, die bis 1942 andauerten. Trotzdem wurde ich zu Ostern 1939 in die Volksschule in Falkenau eingeschult.

    Im September jenes Jahres brach der Krieg aus. Wir wohnten in einem Mietshaus mit acht Parteien. Die ersten Männer aus unserem Haus, die eingezogen wurden, verabschiedeten sich optimistisch: »In vier Wochen sind wir wieder da, Weihnachten feiern wir zu Hause!«

    Auch die vier Brüder meiner Eltern wurden eingezogen. Nur Vater, der in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete, musste nicht an die Front.

    1929 hatte er meine Mutter geheiratet, kurz darauf verlor er während der Weltwirtschaftskrise seine Stelle. In einer Baumwollspinnerei in Falkenau fand er wieder Arbeit. Als er 1937 der NSDAP beitrat, gehörte er zu jenen Millionen Deutschen, die nach der Krise Hitler für den Erlöser hielten.

    Als Ende der Dreißigerjahre die Aktiengesellschaft Sächsische Werke in Espenhain bei Leipzig gegründet wurde, bewarb sich Vater dort und wurde als Schlosser eingestellt. Das Werk stellte über Braunkohlesynthese unter anderem Benzin und Rohöl her. Mit dem Fischer-Tropsch-Verfahren wollte sich das Dritte Reich – auch mit Blick auf den geplanten Krieg – von Kraftstoffimporten unabhängig machen.

    Während des Krieges machte Vater auf der Abendschule seinen Meister als Werkzeugmacher und wurde Kolonnenführer. Er war überzeugter Nationalsozialist, aber er blieb ein Mensch. Als seine Kolonne Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zugeteilt bekam, musste Mutter jeden Morgen einige Schnitten mehr schmieren, weil er sein Essen mit den Gefangenen teilte.

    Wir zogen kurz nach Ausbruch des Krieges, im Dezember 1939, nach Magdeborn bei Leipzig um. Der Ort existiert heute nicht mehr. Ende der Sechzigerjahre wurden die Bewohner umgesiedelt, weil ihr Dorf inmitten des südlich von Leipzig verlaufenden Braunkohleabbaugebietes lag und zwischen 1977 und 1980 abgebaggert wurde.

    Letztes Aufgebot

    Mit zehn Jahren wechselte ich auf die Mittelschule. Ich war jetzt alt genug für das Deutsche Jungvolk. Da ich infolge meines Unfalls schmächtiger war als die anderen Jungen meines Alters, belegte ich beim Laufen meist den letzten Platz. Meine Resultate beim Keulenweitwurf – eine Vorbereitung aufs Granatenwerfen – fielen ebenfalls weit schlechter aus als die der anderen. Dafür lachten mich die Kameraden aus. Da ich ehrgeizig war, schmerzten mich die Demütigungen umso mehr.

    Stolz hingegen konnte ich auf meinen Onkel Rudi sein. Ich bewunderte ihn, weil er zu unseren Helden in Afrika gehörte und unter General Rommel diente. Gern ließ ich mich mit ihm fotografieren. Er posierte in seiner Uniform, ich in meiner Pimpfen-Kluft. Er hatte zwar das Glück, den Krieg zu überleben, doch er steckte sich in Afrika mit einer unheilbaren Krankheit an und starb viel zu jung.

    Der Krieg – anfangs scheinbar ein Kinderspiel – zog sich hin. Nach der Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad rückte Tag für Tag bedrohlich näher, was bis dahin so fern schien. Nicht nur Nachrichten von Gefallenen oder Vermissten häuften sich. Plötzlich spielte sich der Krieg vor unserer Haustür ab. Bomben fielen auf das nahe gelegene Leipzig. Die bevölkerungsreichste Stadt Sachsens erlebte einen der schwersten Angriffe im Dezember 1943, danach waren mehr als 1800 Tote zu beklagen. Über 900 Menschen starben im Februar 1944 im Bombenhagel. Auch das Werk in Espenhain wurde wegen seiner strategischen Bedeutung Ziel alliierter Angriffe.

    Im Februar 1945 mussten wir Pimpfe nach Leipzig ausrücken. Ziele des Großangriffs der US Air Force waren die Verkehrsanlagen und der Hauptbahnhof gewesen, doch die Bomben trafen die gesamte Stadt. Selbst viele der bis dahin sicheren Bunker hielten der Bombardierung nicht stand. Die Amerikaner setzten unter anderem so genannte Kettenbomben ein. Schlugen zehn Bomben an derselben Stelle ein, so zerstörten sie auch die dicken Betondecken der Bunker unter dem Leipziger Hauptbahnhof. Die Stadt war wie Dresden, das ebenfalls schweren Bombardements ausgesetzt war, voller Flüchtlinge aus Gegenden, über die der Krieg bereits hinweggerollt war. Die Zahl der Opfer war deshalb wieder immens: Über tausend Menschen starben allein bei diesem Angriff.

    Wir Pimpfe holten die Toten aus zerstörten Bunkern her­aus. Den Anblick der leblosen Körper werde ich wohl auf ewig in meinem Gedächtnis behalten, die Bilder verfolgen mich bis heute.

    Zu Hause in Magdeborn verbrachten wir die Nächte im Luftschutzkeller. Der Ort selbst blieb zwar vor Angriffen verschont, doch in der näheren Umgebung waren die Einschläge der Bomben und das Gebell der Flugzeugabwehrgeschütze deutlich zu hören. Als wieder Ruhe eingekehrt war, suchten wir Kinder Granatsplitter. Sie stammten von den explodierten Granaten, die die zweiunddreißig Geschütze der Flak-Batterie abgefeuert hatten, die das nahegelegene Werk in Espenhain schützen sollten. Wer die meisten Splitter fand, war der Sieger unseres makaberen Wettbewerbs.

    Die Flakstellung war nur etwa drei Kilometer Luftlinie von unserem Ort entfernt. Da immer weniger Männer zur Verfügung standen, schufteten dort auch sowjetische Kriegsgefangene. Einmal schickte mich Mutter mit einem halben Brot zu den ausgehungerten Russen. Zum Dank schnitzten sie einen Vogel für mich.

    Wir Pimpfe waren dem Volkssturm angegliedert, Hitlers letztem Aufgebot. Schlecht ausgerüstete alte Männer, Jugendliche und Kinder sollten den Ansturm der Alliierten aufhalten. Ich und meine Altersgenossen glaubten weiter an den Endsieg. Sehe ich heute Kindersoldaten im Fernsehen, denke ich: Du wolltest auch so einer sein! Ich fühlte mich damals stark, hatte das Gefühl, endlich zeigen zu können, was in mir steckte.

    Gemeinsam mit den Erwachsenen hoben wir entlang der Hauptstraße in Magdeborn Schützenlöcher aus, aus denen wir, so lautete der Befehl, mit der Panzerfaust auf anrückende feindliche Panzer schießen sollten. Als die Löcher geschaufelt waren, übten wir täglich für den Ernstfall. Ich fieberte dem Moment entgegen, in dem ich beweisen konnte, dass ich kein Versager war.

    Bei einer Übung in den Schützenlöchern kam mein Vater zufällig vorbei.

    »Was soll das?«, fragte er entgeistert. »Du bist ein Kind!«

    Er packte mich, schleifte mich nach Hause und sperrte mich ein, damit ich – fanatisch wie ich war – nicht auf Panzer schoss.

    Vielleicht rettete er mir so das Leben …

    Am 22. April 1945, zwei Tage nach meinem zwölften Geburtstag, rückten die Amerikaner in Magdeborn ein. Sie kampierten rund um den Ort. Wir Kinder liefen neugierig in ihre Stellungen und bekamen Schokolade und Kaugummi von ihnen. Spähtrupps patrouillierten regelmäßig durch den Ort.

    Als einer dieser Trupps an unserem Haus vorbeikam und aus unserem Volksempfänger eine der letzten Ansprachen aus Berlin zu hören war, kamen die GIs nach oben, packten die »Goebbels-Schnauze« und warfen sie kurzerhand aus dem Fenster.

    Im Juli 1945 zogen die Amerikaner ab, Panjewagen und Panzer der Roten Armee rollten durch den Ort. Die sowjetischen Truppen zogen allerdings, ohne Halt zu machen, weiter.

    Als die Nachricht vom Heranrücken der Roten Armee unseren Ort erreicht hatte, stahlen sich Mitarbeiter der Führungsebene des Braunkohlesynthesewerks klammheimlich davon. Wahrscheinlich fürchteten sie, die Russen könnten sie wegen ihrer politischen Vergangen­heit zur Verantwortung ziehen. Manch einer erinnerte sich vielleicht noch daran, wie es 1933 den Nazigegnern ergangen war …

    Auch Vater machte sich Sorgen, dass ihm seine Parteimitgliedschaft zum Verhängnis werden könnte. Doch er entschied: Wir bleiben!

    Eine neue Zeit beginnt

    Im April 1945 war unsere Schule geschlossen worden. Nun hieß es, dass sie ab September wieder öffnen würde. Da die Mittelschule einige Kilometer entfernt lag, entschieden meine Eltern: »Der Karli geht wieder auf die Volksschule hier im Ort!«

    Auf der Mittelschule hatte ich Englisch, auf der Volksschule gab es das Fach nicht. Doch ich wollte die Sprache unbedingt weiter lernen. Mutter arbeitete wöchentlich ein paar Stunden bei einem Bäcker, klebte dort Lebensmittelmarken. Einige davon ließ

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