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Ins Herz geschrieben: Die Weisheit der Bibel als spiritueller Weg
Ins Herz geschrieben: Die Weisheit der Bibel als spiritueller Weg
Ins Herz geschrieben: Die Weisheit der Bibel als spiritueller Weg
Ebook403 pages8 hours

Ins Herz geschrieben: Die Weisheit der Bibel als spiritueller Weg

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About this ebook

Richard Rohr ist eine prophetische Stimme für spirituell suchende Menschen auf der ganzen Welt. Sein Buch über die Bibel ist in gewisser Weise eine Summe seines Lebens. Richard Rohrs herausfordernde Botschaft ist: Die Auslegung der Bibel hätte sich niemals abkoppeln dürfen von der lebendigen spirituellen Suche der Menschen. Rohrs Verbindung von Bibeltext und gegenwärtiger Erfahrung ist nichts weniger als ein Schlüssel, die ganze biblische Botschaft zu verstehen und sie als spirituellen Weg für die Gegenwart zu entdecken.
LanguageDeutsch
PublisherVerlag Herder
Release dateApr 16, 2014
ISBN9783451801266
Ins Herz geschrieben: Die Weisheit der Bibel als spiritueller Weg

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    Ins Herz geschrieben - Richard Rohr

    RICHARD ROHR

    Ins Herz geschrieben

    Die Weisheit der Bibel

    als spiritueller Weg

    Aus dem Amerikanischen übersetzt

    von Bernardin Schellenberger

    Impressum

    Titel der Originalausgabe

    Things Hidden. Scripture as Spirituality

    2008, Franciscan Media (formerly St. Anthony Messenger Press)

    Cincinnati, U.S.A.

    © Richard Rohr und John Feister 2008

    Deutsche Erstausgabe

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau

    Dritte Auflage 2010

    Für die Taschenbuchausgabe

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    Umschlagkonzeption: Weiß-Freiburg GmbH − Graphik & Buchgestaltung

    Umschlaggestaltung: Verlag Herder

    Umschlagmotiv: © Philip Lee Harvey/gettyimages

    Autorenfoto Richard Rohr: © Franciscan Media

    E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (E-Book): 978-3-451-80126-6

    ISBN (Buch): 978-3-451-06688-7

    Ich will zu euch in Gleichnissen sprechen und euch Dinge offenbaren, die seit Grundlegung der Welt verborgen waren.

    Psalm 78,2, zitiert in Matthaus 13,35

    Ich schreibe euch nicht, weil ihr die Wahrheit nicht kennen würdet, sondern weil ihr sie bereits kennt.

    1 Johannes 2,21

    Für Stephen und Mary Jo Picha

    Ihre Liebe zur Botschaft,

    zum Zentrum für Aktion und Kontemplation

    und zu mir

    ermöglicht meinen Worten

    und hoff entlich auch dem Wort Gottes,

    so viele Menschen zu erreichen,

    und sie teilen mit mir die Enkel,

    die ich selbst nie hätte:

    Grace Ann und Luke Jonah.

    Inhalt

    Einführung

    Die Bibel und unser spiritueller Weg

    Erstes Kapitel

    Erklärungen sind kein Ersatz für Erfahrung

    Die Einbeziehung des Negativen und selbstkritisches Denken · Das kosmische Ei · Heiliges Verwundetsein

    Zweites Kapitel

    Wer Gott ist – wer wir sind

    Die Ur-Scham · Noachs Arche der Vergebung · Der Garten der Erkenntnis · Wie unser «Sündenfall» aussieht · Alle sind erwählt · Einswerden mit Gott

    Drittes Kapitel

    Begegnung und Gegenwart

    Der eine Gott · Das Geheimnis erfahren · Gegenwärtig-Sein · Wie über Gott sprechen?

    Viertes Kapitel

    Im Boxring von Gesetz und Gnade

    Gesetz – Propheten – Weisheit · Mit dem Schatten leben · Was wirklich böse ist · Der Beitrag des Paulus

    Fünftes Kapitel

    Gute Macht, böse Macht

    Abschied vom Gott der Gewalt · Unfruchtbare Frauen und verstoßene Söhne · Die Psalmen · Gibt es eine gute Macht? · Übergangsriten · Architektur als Theologie

    Sechstes Kapitel

    Auf Messers Schneide: Wissen und Nichtwissen

    Spiritualität des Lichts, Spiritualität der Dunkelheit · In der Wüste, auf dem Gipfel · Die fundamentalistische Versuchung Gebet als ein Prozess · Das Schweigegebot · Zwischen die Zeilen geschrieben · Der notwendige Umweg · Der Name Gottes

    Siebtes Kapitel

    Das Böse in uns und der Sündenbock-Mechanismus

    Wie Kritik funktioniert · Das verborgene Geheimnis · Der Sündenbock-Mechanismus · Der Krieg des Lammes · Der Horizont des Paulus · Jesus: Vergebung und Gemeinschaft

    Achtes Kapitel

    Das anstößige Fest – von Leistung und Gnade

    Erwählung: frei, umsonst · Ein biblisches Glaubensbekenntnis · Was ist mit der Hölle? · Das Fest für die Armen · Maria: das personifizierte Bild des Heils · «Babettes Fest»

    Neuntes Kapitel

    Das Geheimnis des Kreuzes

    Jesus als Sündenbock · Musste Jesus «für unsere Sünden» sterben? · Gott braucht kein Opfer · Das Kreuz als Weg der Versöhnung

    Zehntes Kapitel

    Ineinander-Wohnen: Das Ziel der spirituellen Reise

    Anhang A

    Zwei Wege der biblischen Spiritualität

    Der Weg der «Wunde» · Der Weg des Geheimnisses, des Paradoxen, der Nicht-Dualität (apophatische Tradition)

    Anhang B

    Ungelöste Themen des dualistischen Denkens

    Bibelstellenverzeichnis

    Personen- und Sachregister

    Zur Person: Richard Rohr

    Ach, wie verehrungswert ist das Mysterium,

    das sich in mir vollzieht.

    Die Zunge kanns nicht künden,

    nicht diese schwache Hand es niederschreiben

    zum Lobpreis dessen, für den in Wahrheit

    alles Rühmen, alle Rede Stammeln bleibt …

    … und was in mir geschieht,

    das sieht mein Geist zwar ein,

    doch sagen kann ers nicht.

    Er schaut es und er will es künden,

    doch findet er nicht Worte, es zu sagen.

    Denn Unschaubares schaut er,

    aller Gestaltung gänzlich bar,

    ganz einfach, ohne Teile, und doch:

    an Größe ists Unendlichkeit …

    Wenn ichs so nennen soll, ist es

    im Höchsten eine Ganzheit, wie mir scheint.

    Und doch wird keineswegs sein Wesen selbst geschaut:

    man schaut es nur, indem mans mit ihm teilt.

    Denn nur am Feuer zündet man das Feuer an,

    und ganz in Feuer umgeformt nimmt man es an.

    Symeon der Neue Theologe (949–1022)

    Einführung

    Die Bibel und unser spiritueller Weg

    Wir lehren nicht so, wie man Philosophie lehrt, sondern

    auf die Art, wie der Geist lehrt. Wir möchten auf

    spirituelle Weise Spirituelles lehren.

    1 Korinther 2,13

    In deiner Güte lässt du die Blinden über dein Licht

    sprechen.

    Nikolaus von Kues

    Im Jahr 1973 hielt ich eine Vortragsreihe mit dem Titel Die großen Themen der Bibel. Die Tonaufnahmen der Vorträge wurden dann veröffentlicht, ebenso wie ihre Mitschrift als Buch. Die deutsche Übersetzung erschien in mehreren Auflagen, zuletzt 2003 unter dem Titel Das entfesselte Buch. Eine Einführung in die Bibel (Verlag Herder, Freiburg im Breisgau). Fünfundzwanzig Jahre später hat man mich gefragt, was ich denn heute für «die großen Themen der Bibel» halte. Ich habe darauf in einer Reihe von Vorträgen zu antworten versucht. Das vorliegende Buch enthält diese Antwort.

    Ich wage es, sie den Leserinnen und Lesern vorzulegen, nicht weil ich ein überaus großes Zutrauen in meine Fähigkeiten zu schreiben hätte. Viel stärker als eine solche Selbsteinschätzung ist mein Vertrauen auf die objektive Präsenz eines «Beistands», «der euch alles lehren wird» (Johannes 14,26) und dessen Wort bereits «in euer Herz geschrieben ist» (vgl. Jeremia 31,33). Ein spiritueller Lehrer hat nur die eine Aufgabe, die Regungen und Bewegungen zu unterstützen, die der Heilige Geist selber herbeiführt.

    Die erste dieser Regungen hat Gott bereits bei unserer Erschaffung in uns gelegt (Jeremia 1,5; Jesaja 49,1). Das ist wahrscheinlich der Grund, wenn spirituelle Weisheit nach innen überzeugend und nach außen glaubwürdig ist. Ich habe schon immer am liebsten das Kompliment gehört: «Richard, du hast mir überhaupt nichts wirklich Neues gesagt. Das wusste ich alles schon irgendwie selber. Aber erst seit du es gesagt hast, bin ich mir dessen bewusster geworden und weiß jetzt: Das stimmt.»

    Das ist die göttliche Symbiosis, die wechselseitige Wirkung zwischen Gliedern des Leibes Christi; es ist der «Hebammendienst» des Sokrates, der davon überzeugt war, dass er als Lehrer nicht die Erkenntnis in jemandem «erzeuge», sondern bloß wie eine Hebamme dem Kind zur Geburt verhelfe, das bereits in jeder und jedem steckt. In gewisser Hinsicht erfahren wir spirituelles Erkennen immer als ein «Wieder-Erkennen». Sogar im Zweiten Petrusbrief im Neuen Testament steht geschrieben, der Verfasser wolle vor allem seine Leserinnen und Leser «durch Erinnerung aufrütteln», damit sie jederzeit in der Lage seien, sich «an diese Dinge zu erinnern» (siehe 2 Petrus 1,12–15). Aus irgendeinem Grund haben wir das vergessen. Darum nehmen wir Prediger und Lehrer uns oft viel zu wichtig und die Gläubigen vertrauen viel zu sehr auf äußere Autoritäten.

    In seinem Bestseller Blink! Die Macht des Moments (2005) hat Malcolm Gladwell für mich recht überzeugend vorgestellt, wie wir nach Sinnmustern und Weisheit suchen sollten. Er nennt das «Die Theorie der dünnen Scheibchen». Es geht darum, eine Situation zu überblicken, alles Unwichtige auszusortieren und sich absolut auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf das «dünne Scheibchen», das zählt. Durch diese Fähigkeit entstehen wesentliche Einsichten oder geniale Einfälle. «Unser Unbewusstes schneidet eine Situation in dünne Scheibchen, und darin hat es eine wahre Meisterschaft entwickelt, sodass diese Methode oft zu besseren Ergebnissen führt als langes Nachdenken und ausführliche Analysen.»

    Ich hoffe, das kann auch ich hier tun: «dünne Scheibchen» schneiden, damit Sie sich ganz und gar «auf das Wesentliche» konzentrieren können. Offen gesagt bin ich von einem Großteil dessen, was man alles über die Bibel predigt und lehrt, ziemlich enttäuscht, weil es fast nie bis zu dieser Ebene vorstößt, auf der wir in Berührung kommen mit dem, was uns wirklich trägt. Es bleibt allzu oft in kleinen Geschichten oder in historisch-kritischen Analysen stecken. Das kann durchaus inspirierend sein und sogar gute Theologie. Aber ich habe selten den Eindruck, dass man die Punkte, die man dabei findet, miteinander verbindet und so die großen Linien, um die es geht, zum Vorschein bringt. Darauf aber kommt es für unseren spirituellen Weg an: dass wir diese Punkte verbinden und die großen Linien entdecken. Sonst ergeben sich keine Markierungen und wir erkennen nicht, wie die einzelnen biblischen Texte auf die wesentlichen Linien verweisen, die wir für unseren spirituellen Weg suchen. Wir müssen sehen können, wohin uns die Punkte führen.

    Das geschieht viel zu wenig: dass wir die Texte der Bibel in «dünne Scheibchen» schneiden, also in einer Konzentration auf das Wesentliche ihre Ausssage erfassen, sie auf den «Punkt» bringen und dann die Punkte zu den großen Linien verbinden, die den Zusammenhang erkennen lassen. Dieser Mangel, ob aus fehlender Bereitschaft oder aus Unfähigkeit, hat zu einem weit verbreiteten christlichen, jüdischen und islamischen «Fundamentalismus» geführt, der ironischerweise gewöhnlich ausgerechnet für das blind ist, was wirklich fundamental ist. Wer nicht die Richtung und die Antriebskraft kennt, merkt auch nicht, wenn er rückwärts fährt! Am Ende erklärt man dann Nebensächlichkeiten für «fundamental» und stolpert an dem vorbei, was zählt. Ein einzelner Punkt liefert keine spirituelle Weisheit. Mit einem einzelnen Bibelzitat kann man so gut wie alles beweisen.

    Durch dieses ganze Buch zieht sich eine Grundannahme: Ich unterstelle, dass der Bibeltext verblüffend gut widerspiegelt, wie unser menschliches Bewusstsein beschaffen ist. Er enthält Abschnitte, in denen die wesentlichen Ideen entfaltet werden und ebenso Abschnitte, die den Zugang zu diesen Ideen regelrecht blockieren. Kühn gesagt: Der Bibeltext selbst enthält Glauben und auch Unglauben.

    Unsere spirituelle Suche richtet sich auf das Geheimnis Gottes. Der Weg ins Geheimnis Gottes hinein ist ein Weg in unbekanntes Land, er muss es sein. Ein Großteil der Bibel besteht bloß aus Wiederholungen vertrauter Landschaften; diese muten der Geschichte nichts Neues zu und bescheren der Seele nichts Neues. Doch zugleich bietet die Bibel regelmäßig Durchbrüche, die wir zu Recht «Offenbarungen» des göttlichen Geistes nennen (weil wir mit unserem beschränkten Sinn von uns aus nie darauf gekommen wären).

    Wer einmal auf dieser Flugbahn des Geistes Erfahrungen mit dem «unbekannten Land» gesammelt hat, bleibt von da an immer auf Überraschungen gefasst. Diese Haltung ist das, was ich «Glauben» nennen möchte. Mein Buch ist der Versuch, Sie auf diesen Weg mitzunehmen. Das mag am Anfang verunsichernd wirken, neu oder sogar aufregend. Aber wenn Sie konsequent am Text der Bibel bleiben, werden Sie den Mut gewinnen, Ihre eigenen tiefsten Hoffnungen und Intuitionen in ihm zu erkennen. Damit beginnt der spirituelle Tanz: eine Bewegung zwischen der äußeren und der inneren Autorität, zwischen der heiligen Überlieferung und der eigenen inneren Erfahrung. Die Balance dieser Bewegung ist das Thema dieses Buches.

    Die meisten Einführungen in die Bibel gehen in der Regel die einzelnen biblischen Bücher der Reihe nach durch und stellen sie vor. Ich will anders ansetzen. Ich möchte zu zeigen versuchen, wie die wesentlichen Einsichten der Heiligen Schrift bereits alle, noch in eingekapselter Form, in den ersten Texten der Hebräischen Bibel stecken. Ausgehend von dieser frühen Ermittlung des Themas spüren wir dann der Entwicklungsgeschichte nach, wie sich die zentralen Einsichten im ganzen Mittelteil der Bibel entfalten. Das führt uns schließlich gegen Ende der Bibel, und zwar besonders im auferstandenen Christus (und in der Theologie des Paulus von ihm) in eine Art Crescendo hinein: Da wird voll und ganz Einer offenbar, dem wir glauben und vertrauen dürfen, ein gewaltloser und durch und durch gnädiger Gott – Gott, der uns einlädt, mit ihm in Liebe eins zu werden.

    Das Buch ist also die Einladung zu einer Reise, auf der wir die Bibel als spirituellen Weg entdecken. Wir brauchen den Weg durch die gesamte Bibel, um alle die Charakterzüge von Rache, Strafe und Kleinkariertheit loszuwerden, die wir auf Gott projizieren, weil sie uns in den Knochen stecken. Aber zunächst einmal müssen wir die Aufgabe erledigen, anhand unserer punktuellen Einsichten einen spirituellen Weg zu erkennen. Denken Sie daran: Die Art, wie Sie die Punkte Ihrer Reise miteinander verbinden, wird darüber bestimmen, wo Sie am Ende ankommen. Der Prozess als solcher ist also wichtig; er bestimmt, was dabei herauskommt. Es gibt Bibeltexte, die uns auf unserem spirituellen Weg zwei Schritte zurückzuwerfen scheinen; aber immerhin verstärken sie unser dringendes Bedürfnis, vorwärtszukommen, und sie werden unser Verständnis vertiefen, wenn wir dann tatsächlich weitergekommen sind.

    In diesem Buch geht es mir vor allem anderen darum, eine Verbindung herzustellen oder möglichst klar herauszustellen: die Verbindung zwischen den zentralen Einsichten, die die Bibel für mich enthält, und dem Anliegen einer praktischen, lebbaren, menschenfreundlichen Spiritualität für Menschen von heute. Es geht mir um die Weisheit der Bibel als spiritueller Weg für die Gegenwart.

    Die großen Linien, die ich ziehe, um die Einsichts-Punkte der Bibel zu einem spirituellen Weg zu verbinden, führen für mich eindeutig in Jesus zusammen, den wir Christen den Christus nennen; aber ich wage zu hoffen, dass auch ein Liebhaber der Hebräischen Bibel einige wertvolle Anregungen finden kann. Ich liebe die Zusammenhänge zwischen der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament, die sich durch die ganze Bibel hindurchziehen, und Jesus sehe ich klar zuallererst als Juden. Er hat auf geniale Weise seine Tradition auf das Wesentliche konzentriert und uns eine wunderbare Sicht eröffnet, mit der wir die jüdische Tradition lieben lernen und unseren Weg nach vorn gemeinsam mit dem Judentum gehen können (dieser Weg, das Christentum, ist ja dessen Kind).

    Ich bin katholisch, hoffe jedoch, dass auch meine Brüder und Schwestern aus anderen christlichen Konfessionen in diesem Buch etliches finden werden, was sie für ihren spirituellen Weg inspiriert und weiterbringt. Für mich ist klar: Derzeit bildet sich eine Kirche heraus, die aus jedem Teil des Leibes Christi das Wertvollste einsammelt, was es an Weisheit in den verschiedenen Bereichen gibt: spirituelle Weisheit aus der Bibel, aus Meditation und Kontemplation, aus der Wissenschaft, aus dem politischen Ringen um Gerechtigkeit.

    Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der Charakter und die Zukunft des Christentums ökumenisch sein werden. Die Globalisierung hat eine religiöse Seite: Wir können einander nicht länger aus dem Weg gehen. Sollten wir das tun, so würden wir nur uns selber schaden (vgl. 1 Korinther 12,12–30) und auch dem Evangelium.

    In diesem Buch führe ich viele Schriftzitate nur mit einer kurzen eigenen Bemerkung an. Ich tue das in der Hoffnung, dass diese kurzen Hinweise Sie reizen und einladen, sich selbstständig tiefer auf den Text und seinen Kontext einzulassen. Ich möchte Sie dazu verführen, die Bibel zu lieben und ihr aus eigenem Antrieb nachzulaufen, sie als spirituellen Weg zu entdecken. Sie werden feststellen: In der Bibel finden Sie für Ihre ureigene innere Erfahrung Wörter, Sätze, Namen, und Sie erfahren durch die Bibel eine Bestärkung von außen.

    Nur wenn dieses beides zusammenfindet: die innere und die äußere Autorität, entsteht echte spirituelle Weisheit. Wir haben allzu lange einseitig die äußere Autorität betont – ohne auf die Erfahrung von Gebet, innerem Weg, Reifung des Bewusstseins einzugehen. Die Folgen davon waren für die Welt und die Religion katastrophal.

    Ich bin zunehmend zur Überzeugung gekommen, dass das Wort «Gebet», aus dem eine Tätigkeit gemacht wurde, eine fromme Pflichtübung für Gläubige, genau genommen die Beschreibung der inneren Erfahrung ist. Jesus selbst hat den Zusammenhang von Gebet und innerer Erfahrung ganz anschaulich beschrieben: Beten heißt in deinen eigenen Raum gehen, die Tür schließen, etwas im Verborgenen tun (vgl. Matthäus 6,16). Alle spirituellen Lehrer sagen: «Geh in dich und erkenne dich selbst!»

    Mein Anliegen hier ist nicht zuletzt, wieder zusammenzuführen, was eigentlich nie hätte getrennt werden dürfen: die Weisheit der Bibel und den spirituellen Weg.

    Zitate aus der Bibel wurden vom Autor in der Regel selbst ins Englische übersetzt. Sie wurden für die deutsche Textfassung entsprechend der Intention des Autors übertragen.

    Erstes Kapitel

    Erklärungen sind kein Ersatz für Erfahrung

    Wo zu viel erklärt wird, da staunt niemand mehr.

    Eugène Ionesco

    Was wir heute brauchen, sind nicht bloß Menschen, die für alles eine Erklärung parat haben, sondern Menschen, deren Leben eine Erfahrung bezeugt. Daher habe ich diesem Kapitel das Zitat von Ionesco vorangestellt. Was ich auf keinen Fall möchte: Ihnen durch allzu viele Worte das Staunen austreiben oder Ihnen einen Ersatz für Ihre eigene innere Erfahrung liefern. Zu vielen Menschen ist das schon mit theologischen Erklärungen und Bibelauslegungen angetan worden.

    Wenn diese wunderbare Sammlung von Büchern und Briefen namens Bibel etwas auslösen soll, dann bestimmt zuerst einmal, dass wir staunen! Wir sollen derart außer uns geraten, dass wir eine Erfahrung machen, die uns verwandelt (theosis, «Vergöttlichung» nannten das die griechischen Kirchenväter), statt es uns mit intellektuellen Antworten oder Streicheleinheiten für unser liebes Ich gemütlich zu machen.

    Von D. H. Lawrence stammt der Satz: «Mehr als vor allem anderen fürchtet sich die Welt vor einer neuen Erfahrung. Eine neue Erfahrung verdrängt nämlich viele alte Erfahrungen.» Ideen dagegen seien kein Problem. «Die Welt kann jede neue Idee einsortieren und damit unwirksam machen.» Aber eine echte innere Erfahrung ist etwas anderes als eine bloße Idee. Sie verändert uns. Allerdings verändern wir Menschen uns nicht gern. Rosemary Haughton sprach in diesem Zusammenhang von der «Messerschneide der Erfahrung».

    Die biblische Offenbarung lädt uns zu einer ganz neuen Erfahrung ein. Das Bewusstsein der Menschen des 21. Jahrhunderts ist für eine solche Erfahrung mehr denn je aufgeschlossen – und hat sie auch bitter nötig! Das Problem ist nur, dass wir aus der Bibel ein Sammelsurium von Ideen gemacht haben – die man richtig oder falsch verstehen kann –, aber wir empfinden sie kaum mehr als Einladung, uns komplett neue Augen zuzulegen. Schlimmer noch: Viele dieser Ideen, auf die wir die Bibel reduzieren, sind der gleiche alte Hut wie eh und je: Abklatsch eines Systems von Lohn und Strafe, das die vorherrschende Kultur ohnehin prägt. Kein Wunder also, dass die meisten Menschen nicht einmal erwarten, etwas Gutes oder auch nur etwas Neues in dieser ungeheuren Offenbarung zu finden, die wir Bibel nennen.

    Im Anfang war das anders. Man sieht das daran, dass die vier Evangelisten und Paulus dieser neuen Offenbarung einen eigenartigen Namen gaben: Sie nannten sie «Evangelium». Wir übersetzen das heute mit «Frohe Botschaft» oder «Gute Nachricht». Ursprünglich war das ein Begriff aus einer Welt, die von Kriegen und Schlachten beherrscht wurde. Ein «Evangelium» war die Siegesnachricht, die einer begeistert vom Schlachtfeld heimbrachte, und das hieß damals: «Der Krieg ist aus! Jetzt kann ein neues Leben anfangen!» So verstanden die ersten Christen die Botschaft Jesu: als Nachricht, dass der Durchbruch zu einem neuen Leben gelungen ist. Das ist sie auch heute noch – vorausgesetzt, wir stellen die richtigen Fragen und verfügen, wie Jesus sagte, über die Haltung der «Armut im Geist» (Matthäus 5,3). Mit dieser «Armut» ist das innere Offensein gemeint: die Freiheit von Selbstzufriedenheit und fixen Vorstellungen davon, wie alles werden und sein müsse – denn sonst verschließen wir uns für alles Neue und bleiben immer die Gleichen.

    Jesus sprach davon, wir müssten wie Kinder werden. Kinder sind voller Neugier und haben jenen «Anfängergeist», den wir nie verlieren sollten. Er ist der beste Weg zur spirituellen Weisheit. Um ihn geht es in diesem Buch. Wem es vor allem um den Status der religiösen Gruppe geht, zu der er gehört, oder um eine Art religiöser Lebensversicherung für alle Fälle, wird das verheißungsvoll Neue und Anziehende des Evangeliums nicht entdecken, sondern fortfahren, mit angezogener Handbremse zu leben, auch wenn er die biblischen Texte liest. Denn dann bleiben sie «Religion» in dem Sinne, wie unsere Kultur eben Religion versteht, aber sie führen nicht zu diesem grundlegenden «Staunen», das alles in ein anderes Licht taucht.

    Interessanterweise haben einige Wissenschaftler die Auffassung vertreten, Jesus sei gekommen, um die bisherige Religion zu beenden. Das ist gar nicht so schlecht, wie es klingen mag. Jesus kam tatsächlich, um die Religion, so wie sie war, zu beenden. Weltweit war die historische Religion, die archaische Religion gewöhnlich der Versuch, zu gewährleisten, dass nichts Neues passierte. Ganz bestimmt trifft das auf die Ägypter und ihre Pyramiden zu und auf die Maya und ihre Kalender, und es zieht sich auch als gleichbleibendes Thema durch die alten Kulturen des Mittleren Ostens: Die Menschen wollten, dass ihr Leben und ihre Geschichte vorhersehbar und kontrollierbar waren, und die beste Möglichkeit, das zu erreichen, sahen sie im Versuch, die Götter in Schach zu halten oder sogar zu manipulieren. Die meisten Religionen brachten den Menschen sozusagen bei, welche spirituellen Tasten sie drücken sollten, um die Geschichte und Gott vorhersehbar zu machen.

    Wir müssen uns vor Augen halten, dass im längsten Teil der Menschheitsgeschichte Gott durchaus keine liebenswürdige und erst recht keine liebenswerte Gestalt war. Noch in der Bibel fängt jede «Theophanie», also jedes Ereignis, bei dem Gott in die Geschichte hereinbricht, mit dem gleichen Zuruf an: «Fürchte dich nicht!» Das ist in der ganzen Bibel die häufigste Aufforderung. Sooft ein Engel oder Gott ins Leben von Menschen einbricht, lauten unvermeidlich die ersten Worte: «Fürchte dich nicht!» Warum? Weil die Menschen sich immer vor Gott gefürchtet haben – und als Folge davon auch vor sich selbst. Gott war gewöhnlich nicht «nett», und davon, ob Menschen «nett» sind, waren sie auch nicht allzu überzeugt.

    Wenn Gott auf den Plan trat, empfanden das die meisten Menschen nicht als gute Nachricht; es war eher eine schlechte: «Wer muss jetzt sterben? Wer wird jetzt bestraft? Welchen Preis muss ich bezahlen?»

    Für viele Menschen ist es vielleicht überraschend zu erfahren, dass vor der biblischen Offenbarung die Menschheit im Großen und Ganzen nicht Liebe von Gott erwartete. Genau genommen hat sich das bis heute nur wenig geändert: Die meisten Menschen haben immer noch das Gefühl, sich die Liebe und Aufmerksamkeit Gottes verdienen zu müssen. Irgendwann führt dieses Muster zu einer latenten Aggression, so wie gegenüber unseren leiblichen Eltern. (Anders kann ich mir das überwältigend passive, ja passivaggressive Wesen vieler Kirchgänger nicht erklären.)

    Dieses Muster aus Erwartung und Angst ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sich in den zweitausend Jahren seit der Menschwerdung Gottes in Christus nicht viel geändert hat – ausgenommen in einer ziemlich kleinen kritischen Masse der Menschheit. Nach meinem Eindruck bedeutet religiöse Praxis für die meisten Menschen nach wie vor, Gott zu fürchten und Gott zu kontrollieren, anstatt Gott zu lieben. Sie haben niemals erfahren, dass das möglich ist, denn das Modell von Macht und Konkurrenz wurde für sie nie infrage gestellt. Wenn die eine Seite, Gott, die ganze Macht hat (und das ist für die meisten geradezu die Definition Gottes), dann ist das Einzige, was bleibt, die Furcht und der Versuch, diese Macht irgendwie unter Kontrolle zu halten.

    Die einzige Möglichkeit, daran etwas zu ändern, liegt bei Gott. Nur von Gott her kann dieses Modell von Macht und Konkurrenz aufgelöst werden, nur Gott kann uns in eine Welt einladen, in der Beziehungen wechselseitig und verletzlich sind. Unser lebendiges Bild dafür, dass Gott die Machtverhältnisse geändert hat, ist Jesus! In ihm hat Gott die Initiative ergriffen, unsere Angst zu überwinden und unser Bedürfnis, Gott zu manipulieren. Gott hat echte Beziehung zu sich möglich gemacht. Diese undenkbare Beziehung ist dem menschlichen Bewusstsein bereits eingepflanzt durch die jüdische Idee des «Bundes»: Gott schließt einen Bund mit seinem Volk, «nicht weil ihr größer wart als die andern Völker – nein, ihr wart ja das kleinste von allen Völkern –, sondern weil JHWH euch liebt» (Deuteronomium 7,7).

    In den meisten Religionen glaubte man, Gott lasse sich von den Menschen mit Hilfe von Opfern einigermaßen in Schach halten. Diese Vorstellung ist auf allen Erdteilen verbreitet. Zur Zeit Abrahams milderte sich dieser Zwang, einem schrecklichen Gott Opfer bringen zu müssen: Er wollte wenigstens keine Menschen mehr, aber immer noch Tiere, also Ziegen, Schafe und Ochsen. Dass es diese Vorstellung immer noch gibt, habe ich auf meinen Reisen in Afrika, Indien und Nepal miterlebt. Die sogenannten «zivilisierten Kulturen» haben die Idee des Opfers in vielfältige Formen der Selbstaufgabe und des moralischen Heroismus verwandelt, so als ob wir alle wüssten, dass auf alle Fälle irgendetwas geopfert werden müsse, um diesen Gott zu uns zu ziehen.

    Wir glauben nicht wirklich, dass Gott seine Schöpfung einfach lieben könnte und dass wir Gottes Liebe tatsächlich erwidern könnten (und ihn dabei sogar wirklich lieben würden!). Genau darin liegt der Bruch im Zentrum von allem, ein Bruch, der dazu geführt hat, dass Kirche und Kultur im Westen so über alle Maßen auf Scham und Schuld fixiert sind. (Davon zeugen auch die meisten Auseinandersetzungen der europäischen Reformationszeit, auf beiden Seiten.)

    Ich hoffe, dass ich eines in diesem Buch deutlich machen kann: Das unfassbare Wunder der biblischen Offenbarung besteht darin, dass Gott sehr anders ist, als wir gedacht, und sehr viel besser, als wir befürchtet haben. Was ein Quantenphysiker einmal über das Universum sagte, möchte ich abwandeln: «Gott ist nicht nur verblüffender, als wir denken, sondern sogar verblüffender, als wir denken können.» Die Nachricht von Gott ist keine schlechte Nachricht, sondern tatsächlich eine über alle Maßen trostvolle und gute.

    Der Exeget Walter Brueggemann schrieb, die gesamte hebräische Bibel sei von einem «Credo der fünf Eigenschaftswörter» geprägt: Der Gott, den Israel – und Jesus – entdeckten, werde durchgängig als «barmherzig, mitfühlend, vergebungsbereit, in der Liebe beständig und treu» gesehen.

    Wir haben lange gebraucht, um überhaupt mit der Möglichkeit rechnen zu können, dass das wahr sein könnte. Aber die Einzigen, die wirklich wissen, dass es für sie selbst wahr ist, sind Menschen, die aufrichtig suchen, beten und oft auch leiden. Sie leben auf der «Messerschneide der Erfahrung». Ohne diese Erfahrung im eigenen Inneren bleiben das bloß fünf fromme Wörter. Ohne die eigene innere Erfahrung dieses ganz besonderen Gottes, wird sich das Meiste an der Religion in Ritus, Moral, Lehre erschöpfen, eine ziemlich freudlose Angelegenheit.

    Auf den folgenden Seiten möchte ich die Bibel als «text in travail» (René Girard), als einen «Text in Arbeit» beschreiben. Der Bibeltext selbst ist in einer Bewegung nach vorn und manchmal zurück, gerade so wie wir Menschen. Mit anderen Worten: Die Bibel gibt Ihnen keine Schlussfolgerungen und fertigen Antworten an die Hand, sondern öffnet einen Raum und lässt eine Richtung erkennen: Die Punkte nach vorn und

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