ADS - das kreative Chaos
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Reviews for ADS - das kreative Chaos
2 ratings1 review
- Rating: 5 out of 5 stars5/5Mit "Sag anderen, was du über ADS - das kreative Chaos gedacht hast" werde ich hier zu einer Rezension eingeladen.
Mal ehrlich, ÜBER ein Buch denke ich etwas, wenn ich es in die Hand nehme, es betrachte und einfach mal durchblättere. Wenn ich das Buch lese, dann DENKE, TRÄUME, ERLEBE und / oder ERLERNE ich etwas MIT dem Buch. Zumindest sollte es so sein. Mit diesem Buch ist es dem Autor, zumindest bei mir, auch gelungen.
Ich bin mit meinen doch schon einiges über 50 Lebensjahren selbst ADS-ler und verstehe nun doch viel mehr über meine Situation und die meiner Umwelt. Der Autor, selbst betroffen, stellt sehr gut, sowohl aus medizinischer und seiner Sicht, wie auch aus der Sicht seiner Umwelt und weiterer Betroffener, die Problematik des Zusammenlebens und -arbeitens dar.
Die Themenwahl ist strukturiert und gelungen. Es kommt auch immer wieder der Hinweis auf die vielen Facetten von AD(H)S und somit die Kunst der Betroffenen, sich mit ihrer Umwelt durch ständige Strategie-Anpassungen zu arrangieren. Wie Betroffene darunter Leiden kommt aus meiner Sicht recht gut zum Vorschein.
Ich kann dieses Buch jedem, der selbst betroffen ist, bzw. mit Betroffenen zusammenleben oder - arbeiten muss, nur als "Pflichtlektüre" empfehlen.
Book preview
ADS - das kreative Chaos - Walter Beerwerth
Walter Beerwerth
ADS – das kreative CHAOS
HerderImpressum
Titel der Originalausgabe: ADS – das kreative Chaos
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © corbis.
Foto Walter Beerwerth: © privat
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80443-4
ISBN (Buch): 978-3-451-06387-9
Inhalt
Vorwort
1. Die Geschichte der Diagnose »Aufmerksamkeitsstörung«
Dr. Hoffmanns Zeit
Schultafeln und rauchende Schlote
Der Struwwelpeter
Einige Kinder neigen dazu, »schlechte Nerven« zu haben
Nun wird eine Gehirnstörung gefunden
Der Computer als Hebamme der Krankheit ADS
Was ist ADS?
Wer bekommt ADS?
Viele Gene – viele Varianten
Schau auf die Vorfahren!
Immer gleich und immer anders
Es scheint zu kommen und zu gehen
Was ist mit den Emotionen?
Was ist mit der Aufmerksamkeit?
Wie ist solch ein Mensch »organisiert«?
Was bedeutet Kreativität?
Was heißt »Reifungsverzögerung«?
Ist ADS eine Krankheit?
Macht ADS krank?
Kann man ADS heilen?
Kann man ADS lindern?
2. Was ist bei ADS anders?
Ob früher der richtige Blick fehlte?
Was ist eine geeignete Lupe?
ADS entzieht sich den Ärzten, weniger den Biographen
Auch eine »Krankheit« kann eine Gestalt haben
Wo finden Sie heute Menschen mit ADS?
Spezialisten haben viele Erkenntnisse gesammelt
3. Wie denkt es sich mit ADS?
Beratungsbüro McKinsey
Gedankenkreiseln
Herumtoben
Begeisterung
Multitasking
4. Wer denkt, dass er denkt…
Hyperaktive Gefühle
Hyperfokussierung auf Gefühle statt Chaos?
Zeichen tief greifender Veränderungen im Zusammenspiel von Gehirn und Körper
Was geschieht, wenn das ADS mit Tabletten ausgeschaltet wird?
5. Der Hunger
6. Der Schmerz
Herr Z. funktioniert durch Schmerz
7. Das Glück
8. Die Verliebtheit
Verhaltensbiologie
Nüsse knacken
9. Die Angst
Die Angst des Kindes macht die Mutter verrückt
Eine Studie zu ADS und Angst
Warum Angst?
Wer hat ADS und deshalb keine Angst?
Angst macht Wut
Angst verleiht Flügel
Der Angst auf die Spur kommen
Ein echtes Fallbeispiel
10. Die Lust
Sex und Gewalt
Sex tut gut
Allerdings …
Sex und Partnerschaft
11. Das Mobbing
Tägliche »Vorspiele«
Die dunkle Seite der Solidarität
Zu wenig Aggression ist das Hauptproblem
Patient P.
Patient R.
Was könnte helfen?
Lebensumstände
Medikamente
Sport
Was hat geholfen?
12. Der Krieg
Was hat ein Soldat mit einem Mörder gemein?
Bild
Bild
Bild
13. Der Zorn der Götter
Die starken Götter der Germanen
In Hollywood leben sie noch
Im Kalender stehen sie auch
Was früher angesehen war, ist heute verpönt
14. Der Ärger
Der ganz normale Wahnsinn macht sauer
Jetzt erst recht!
Lohn und Preis der Wut
15. Die Trauer
Wozu trauern?
Was geschieht im Gehirn bei Depressionen?
Gemeinsamkeiten von ADS und Depression
Sekundentraurigkeit
Was ist anders als bei einer Depression?
Überlegungen zur Diagnostik und Therapie depressiver Menschen mit ADS
16. Die gescheiterte Therapie
These 1: Die Unterordnung unter den Therapeuten ist unerträglich
These 2: Ohne Erinnerung ist Vergangenheitsbewältigung schwierig
These 3: Man kann über Gefühle nur reden, wenn man sie unterscheidet
These 4: Sich »hineinsteigern« macht Patienten und Therapeuten blind und taub
These 5: Die Aufmerksamkeitsstörung macht eine Therapie unmöglich
These 6: ADS an sich ist nicht zu beheben
These 7: Therapie – und dann?
These 8: Die Diagnose ist oft »ungeeignet«
Zu den Fallbeispielen
17. Das therapeutische »Kochbuch«
1. Bei »depressiven« Patienten nach ADS suchen
Ein kleiner Fragenkatalog
Beobachtung der Motorik
Steuerung der Aufmerksamkeit nach dem »Alles-oder-nichts-Prinzip«?
Steuerung der Impulsivität nach dem »Alles oder Nichts Prinzip«?
Suche nach dem Kick?
Zwei wichtige Regeln!
2. Suchen, was hinter der »Depression« liegt
Ein Persönlichkeitsstörung zu vermuten, hilft nicht weiter
3. Versuche, die Stärken zu finden
Gute Diagnostik ist die Basis des Coachings
4. Zwischen Kernsymptomatik und Folgen unterscheiden
Was tun?
Das Vier-Säulen-Modell des ADS
5. Die Diagnostik des Körpers weiter in den Vordergrund rücken
Sportfähigkeit
Vorbereitung der Medikation
Gefahr des Aufschaukelns von Stresserkrankungen
Differentialdiagnosen
6. Die Behandlung mit Medikamenten muss maßgeschneidert sein
Diagnostische Fragen vor der Medikation
Es braucht Geduld
7. Die Behandlung muss rhythmisiert werden
Rhythmisierung umsetzen
8. Priorität der Wissensvermittlung
9. Coaching muss eine zentrale Stelle einnehmen
Ein Partner ist nötig
Arbeiten auf Gegenseitigkeit
10. Körperliche Betätigung ernst nehmen
11. Einen offenen und freien Umgang pflegen
12. Geeignete Umgebungsbedingungen schaffen
Literatur
Danke
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
ADS hat mein Leben im Guten wie im Bösen bestimmt. Menschen, die mich mögen, empfinden mich als anstrengend, andere als unerträglich. Denen, die mich mögen, verdanke ich Vieles. Oft habe ich es nicht gedankt. Wer mich liebt, hat mit mir eine schwere Bürde zu tragen. Ich denke da besonders an meine Mutter und an meine Frau.
Eine langjährige Tätigkeit als Oberarzt in unterschiedlichen Röntgenabteilungen endete in der Katastrophe. Nach dem Zusammenbruch kam die Diagnose des ADS.
Was mich seither notdürftig zusammen hält, ist Tag für Tag dasselbe: pünktliches Aufstehen, regelmäßige Mahlzeiten, eine Stunde Kopfarbeit, Mittagsruhe, zwei Stunden Sport, Sonnenlicht, viel Familie, abends zeitig im Bett liegen. Das wird durch die Selbsthilfegruppe ergänzt.
Der täglichen Stunde Kopfarbeit nach dem Frühstück ist dieses Buch entsprungen. Der Beruf hat mich geprägt. Fachübergreifendes Arbeiten, analytisches Denken und Patientengespräche machten meinen Alltag aus. So bin ich an das nötige Handwerkszeug gekommen. Die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe allein hätte nicht genügt.
Ich hoffe, liebe Leserin, lieber Leser, Sie haben ein wenig Freude an dem Ergebnis. Es ist keineswegs nötig, alles der Reihe nach zu lesen. Stöbern Sie ruhig. Wenn Sie ADS haben sollten, wird Ihnen das entgegen kommen. Auch die Sprache ist deshalb so locker wie möglich.
Walter Beerwerth
1. Die Geschichte der Diagnose »Aufmerksamkeitsstörung«
Im ersten Kapitel wird zusammengefasst, was die Lehrmeinung über das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ist und wie es zu ihr kam.
Das, was wir allgemein etwas ungenau als »Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit und ohne Hyperaktivität« bezeichnen, kurz »AD(H)S«, ist angeboren. Es wird vererbt. Wenn Sie so wollen, ist es eine Erbkrankheit oder eine von Generation zu Generation weitergegebene Eigenschaft. Bei Zuckerkrankheit zum Beispiel ist es ebenso. Sie hat es immer schon gegeben, wurde früher aber nur selten festgestellt. Diese ererbte Krankheit ist erst heute durch geänderte Lebensbedingungen zum massenhaften Problem geworden. Wir nennen das »Zivilisationskrankheit«. Genauso hat es immer schon ADS gegeben. Aber erst durch die industrielle Revolution haben sich unsere Lebensbedingungen so geändert, dass eine »Massenerkrankung« entstehen konnte. Aus einer ursprünglich günstigen, zumindest nicht nachteiligen Erbanlage wurde ein echtes Problem. Für die Verbreitung der Zuckerkrankheit waren die gute Ernährung und das zunehmende Alter der Bevölkerung die verantwortlichen Faktoren. Für ADS, die Veranlagung zum Chaos, sind es andere Faktoren. In der Literatur wird allgemein der Zappelphilipp aus dem Kinderbuch »Der Struwwelpeter« des Arztes Dr. Heinrich Hoffmann als Symbolfigur für den Beginn der »Krankheit« ADS gesehen. Wie kann das sein: Eine immer schon vorhandene Erbanlage wird im Jahre 1845 auf einmal auffällig? Betreiben wir etwas Kulturgeschichte, und wir werden die Zivilisationskrankheit ADS verstehen lernen.
Dr. Hoffmanns Zeit
Versetzen wir uns in diese Zeit zurück! Die Französische Revolution liegt eine Generation zurück. In Deutschland herrschen zum Verzweifeln engstirnige politische Verhältnisse. In den letzten Jahrzehnten ist das Bürgertum zu einer bedeutenden wirtschaftlichen Kraft in den deutschen Kleinstaaten geworden. Von der Macht ausgeschlossen, demonstrieren die Bürger ihren Status auf andere Weise. »Benimm« ist das Schlagwort. Tatsächlich bedeutet das, sich den Luxus zu leisten, eine Unzahl kleiner und enger gesellschaftlicher Regeln zu erlernen. Das kostet Zeit und Kraft, was sich kein Handwerker (ein Bauer schon gar nicht) leisten kann. Das bedeutet auch eine strenge Abrichtung der Kinder mit einem menschenverachtenden Drill. Sonst sind die vielen der menschlichen Natur nicht entsprechenden Regeln kaum durchzusetzen. »Beim Essen wird nicht gesprochen!« – Ja, wann denn sonst? »Im Beisein Erwachsener hast du zu schweigen, außer du antwortest auf Fragen.« »Auf der Straße darf nicht gespielt werden, das schickt sich nicht.« »In der Wohnung hast du dich ruhig zu verhalten.« Dazu kommt, dass die Kleidung unzweckmäßig gestaltet ist, um den niederen Ständen zeigen zu können: »Unsere Familie kann sich erlauben, sogar unseren Kindern Kleider anzuziehen, in denen niemand arbeiten oder im Schmutz spielen kann!« Dies ist in einer Zeit, in der Kinderarbeit die Regel ist, sicherlich ein wirksames Statussymbol. Leider lassen sich im »vornehmen Rock« keine kindgerecht wilden Spiele machen. Die sind aber ohnehin verboten und fallen nun an der verschmutzten Kleidung auch im Nachhinein auf. Sauberkeit wird zum Selbstzweck: »Ich kann mir im Gegensatz zu 95 % der Bevölkerung eine allzeit fleckfreie Kleidung leisten.« Bedenken wir, es ist eine Zeit der schmutzigen körperlichen Schwerstarbeit. Waschmaschinen gibt es nicht, und Bekleidung ist unverhältnismäßig teuer. Ein Arbeiter oder Knecht hat allzu oft keine Sonntagsjacke neben seiner abgewetzten Arbeitsjoppe. Die Kinder der einfachen Leute gehen sommers barfuß, winters in Holzschuhen. Ihre Kleidung wird mehrfach vererbt, umgearbeitet und geflickt.
Lesenswertes zu England am Vorabend der Industrialisierung finden Sie bei Peter Laslett. In meiner Heimat, der ehemals preußischen Provinz Westfalen, waren die Verhältnisse ähnlich, nachzulesen zum Beispiel in »Westfälische Geschichte« (Herausgeber W. Kohl).
Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nun zur Ansicht gekommen sind, das Bürgertum der Biedermeierzeit habe seinen Kindern ungesunde Verhältnisse geschaffen, will ich nicht widersprechen. Wer unter diesen Verhältnissen auffiel, ist aus heutiger Sicht normaler als die angepassten Personen der Umgebung.
Schultafeln und rauchende Schlote
Das Bürgertum hatte sich in ein knöchernes Korsett von Spielregeln begeben. Politisch ist es die Zeit der Stagnation. Und sonst? Wirtschaftlich und technisch sind wir mitten in der ersten industriellen Revolution: Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Webstühle, Kanäle, Bergwerke bisher ungeahnter Dimensionen, fahrplanmäßiger Schiffsverkehr, Hochöfen, neue Stahlherstellungs- und Bearbeitungsmethoden … In England rauchen schon überall die Schornsteine, in Deutschland holt die Industrialisierung Schwung, um in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der besseren Schulen auf die Überholspur zu gehen. Der Auftakt zu der Aufholjagd ist die Eröffnung der Köln-Mindener Eisenbahn 1847. An ihr hängt das rheinisch-westfälische Industrierevier bis in die jüngste Vergangenheit wie an einer Nabelschnur. Gleichzeitig beginnt die Bevölkerung zu wachsen. Verbesserte Ackerbaumethoden und die Befreiung der Bauern ermöglichen das. Die Folgen sind allenthalben sichtbar. Lebte bis dahin nur ein winziger Bruchteil der Menschen in Städten, so änderte sich das.
Eine neue Klasse entsteht: Die Schreibtischarbeiter. War bis dahin (den Klerus einmal ausgenommen) kaum jemand mit Feder und Tinte beschäftigt, entsteht nun eine Fülle von Büros. Auf einmal wird es wichtig, dass die Mehrheit der Bevölkerung lesen, schreiben und rechnen kann. Bauern und Handwerker früherer Tage kamen ohne diese Fertigkeiten aus. Landvermesser und Bergwerksingenieure aber müssen trigonometrische Tabellen lesen können. Die Eisenbahn verlangte notwendigerweise eine gewisse Schulbildung. Mag der Fahrgast sich noch durchfragen können, so muss das gesamte Personal in der Lage sein, einen Fahrplan lesen können. Der gestiegene Frachtverkehr lässt sich nur mit einiger Bürokratie wie Frachtpapieren, Laufzetteln und Buchführung bewältigen. Selbst der nun allgemein eingeführte Landbriefträger muss Adressen lesen können.
Ein Meilenstein bei der Vorbereitung der Industrialisierung Deutschlands war die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen im Jahre 1763. Etwas vorzuschreiben und durchzusetzen sind jedoch verschiedene Dinge. Über Jahrzehnte war die Schule ihren Namen nicht wert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der so genannten Biedermeierzeit, hat der Staat mit Erfolg versucht, aus den unregelmäßig besuchten und schlecht geführten Schulen schlagkräftige Bildungseinrichtungen zu machen. Die preußische Geschichte dieser Zeit liest sich wie eine Geschichte der Schulreform: angemessene Bezahlung der Lehrer, so dass sie davon leben können, Lehrerseminare zur Verbesserung ihrer Qualifikation, Einführung neuer und Verbesserung alter Schulformen, Durchsetzung der Schulpflicht auch auf dem Lande, kleinere Klassen – zuvor kamen in manchen Landesteilen 150 Schüler auf einen Lehrer.
In Deutschland ging der industriellen Revolution eine Bildungsrevolution voraus. Davon zehren wir noch heute. Wer aber waren die Lehrer? Es waren genau die Bürger, die wir im »Struwwelpeter« kennen gelernt haben: Kleinlich bis zum Exzess, verliebt in Regeln, sich stets bewusst, dass sie ihren »Stand« nur mit »Benimm« und »Schicklichkeit« verteidigen können. Auch die Schule kann man vortrefflich benutzen, um seine Exklusivität zu wahren. Das Regelwerk der deutschen Rechtschreibung und die fromme Ehrfurcht, die ihm gegenüber gepflegt wird, ist ein Überbleibsel dieser Zeit.
Einige Schüler fielen auf. Viele davon hatten erfolgreiche, kreative und risikobereite Eltern. Deren Erbanlagen hinderten diese Kinder daran, »lebenswichtige« Dinge wie griechische und lateinische Vokabeln zu lernen. Der Sinn des Lernens von Jahreszahlen der antiken Geschichte erschloss sich ihnen nicht. Sie waren unfähig, dem Lehrer bei solchen Themen aufmerksam zu folgen. Still sitzen zu bleiben, fiel ihnen schwer: Fatal, da dies doch als Selbstzweck angesehen wurde. Wenn der Lehrer ungerecht zu einem ihrer Mitschüler war, meldeten sie sich spontan zu Wort. Ein grober Fehler, bestehen doch Lehrer und Ärzte darauf, zu bestimmen, was »Recht« ist.
In einen unnatürlichen Sozialverband, bestehend aus 30 gleichaltrigen Kindern, konnten sie sich schlecht einfügen. Seit Jahrmillionen leben wir in altersgemischten Gruppen. Nun ist auf einmal die Klassengemeinschaft eingeführt worden. Mit all den Drangsalierungen untereinander stellt sie bis heute ein zentrales »Schulproblem« dar. Die Pädagogen klagen, die Familie hätte versagt. Dieser Unfug ist so oft wiederholt worden, dass ihn mittlerweile auch die Eltern glauben. Durch die nicht »artgerechte Haltung« in der Schule werden Kinder und Jugendliche aus verhaltensbiologischen Gründen zu aggressivem Verhalten und Ausgrenzung Einzelner gezwungen.
Nun, im Biedermeier, fallen Kinder unangenehm auf, die unter anderen Umständen als mindestens normal (wenn nicht als besonders clever) gegolten hätten. Es sind viele darunter, die über besondere Gaben und einen ausgeprägten Charakter verfügen. Die bürgerlichen Elternhäuser arbeiten mit den Schulen Hand in Hand, mit dem Erfolg, dass sich von Minderwertigkeitskomplexen gequälte Verhaltenskrüppel entwickeln. Der böse Friederich aus dem Struwwelpeter fügt sich gut in dieses Bild ein. Die Schuld wurde (und wird) beim »unartigen« Kind und seiner schlechten Erziehung gesucht. Interessanterweise sind die Eltern durch genau die Spontaneität und Offenheit, die bei ihren Sprösslingen abgestraft wird, befähigt worden, vom Kleinhandwerker oder Bauern zum Bürger aufzusteigen. Wundert es Sie noch, dass Dr. Hoffmann, der Schöpfer des Struwwelpeters, ausgerechnet im ausgehenden Biedermeier und im bürgerlichen Frankfurt so viel von der störenden Seite des ADS gesehen und erlebt hatte? Dass er es vortrefflich beschreiben und sogar malen konnte? Dass es ihm in den verschiedenen, noch von der modernen Jugendpsychiatrie gesehenen Spielarten vertraut war? Dass der Struwwelpeter es, bis in das Mienenspiel seiner Figuren hinein, mit einem modernen Lehrfilm aufnehmen könnte? Woher hatte Dr. Hoffmann diese Beobachtungsgabe und Kreativität? Das sind doch typische Zeichen eines ADS! Und tatsächlich finden sich in seiner Biographie Hinweise auf ein solches.
Der Struwwelpeter
Sehen wir uns einmal dieses berühmte Buch an. Das gesamte Bilderbuch ist ein Vorläufer der heutigen Comics. Es wird von zwei Themen bestimmt: ADS in allen heute bekannten Spielarten zum einen und dem Scheitern der damit behafteten Menschen an der bürgerlichen Gesellschaft zum anderen.
Gleich auf dem Umschlag schaut uns ein Jugendlicher mit beneidenswert vollem Haar mürrisch an. Und lange Fingernägel hat er auch noch. Ein wahrer Bürgerschreck! Ungepflegte Haare und Fingernägel sind auch heute noch störend, wenn wir gesellschaftlich vorankommen wollen. Aber sind sie deshalb erschreckend?
Auf der ersten Seite wird das Buch mit einem Gedicht eingeführt. Wenn die Kinder artig seien, komme das Christkind. Was unter »artig« zu verstehen ist, wird sogleich definiert:
»Suppe essen« (Arbeiter- und Bauernkinder waren mager, Bürger konnten sich »runde« Kinder heranfüttern.)
»ohne Lärm zu machen still sein bei den Siebensachen« (Die meisten Familien konnten sich kein Spielzeug leisten und auch keine engmaschige Beaufsichtigung der Kinder, damit sie still blieben.)
»beim Spazierengehen auf den Gassen von Mama sich führen lassen« (Wer konnte schon ein Kind als Statussymbol herausgeputzt durch die Gassen führen, wie heutzutage die Designerkleidung und das Schoßhündchen auf der Düsseldorfer Kö?)
Es folgt die Geschichte vom bösen Friederich, einem argen Wüterich. Dieser ungeratene Bursche quält Mensch und Tier, entkommt aber der Strafe nicht. Unter Verhältnissen wie sie oben angedeutet sind, die mit einer Fülle von Regeln nur dem Status der Eltern dienen, wird