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Die Antworten und die Frage: Funktionen der Literatur - Der irische Roman 1800 bis 1850
Die Antworten und die Frage: Funktionen der Literatur - Der irische Roman 1800 bis 1850
Die Antworten und die Frage: Funktionen der Literatur - Der irische Roman 1800 bis 1850
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Die Antworten und die Frage: Funktionen der Literatur - Der irische Roman 1800 bis 1850

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Literatur ist die Antwort auf eine Frage, und zwar eine Antwort, die der Frage erst das richtige Profil verleiht. Diese funktionsgeschichtliche These wird hier in doppelter Weise entwickelt. Der erste Teil greift die auf R. G. Collingwood zurückgehende Logik von Frage und Antwort auf, stellt sie in den weiten Horizont von Collingwoods Philosophie insgesamt und ergänzt sie um Kernelemente der responsiven Phänomenologie von Bernhard Waldenfels. Der zweite Teil bietet eine detaillierte Analyse von vierzehn irischen Romanen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – von Maria Edgeworth über Lady Morgan, Michael Banim und Gerald Griffin bis zu Samuel Lover, Charles Lever und William Carleton –, die als Antworten auf die seit 1801 virulente Frage nach der verlorenen Identität Irlands fungieren. Jede dieser Antworten erstellt ein eigenes Irland-Modell, und zusammen verleihen diese Romane der Irland-Frage jene Dringlichkeit, die immer neue Antworten motiviert. Das Buch will, über diese funktionsgeschichtliche Problematik hinaus, exemplarisch zeigen, wie mit sub-kanonischen Texten literaturwissenschaftlich angemessen umzugehen ist.
LanguageDeutsch
Release dateSep 30, 2014
ISBN9783826080302
Die Antworten und die Frage: Funktionen der Literatur - Der irische Roman 1800 bis 1850

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    Die Antworten und die Frage - Eckhard Lobsien

    übersetzen.

    1Collingwood und die Reichweiten der Funktionsgeschichte

    1.1 Frage und Antwort I

    R. G. Collingwood ist, wie einleitend bemerkt, durch Hans–Georg Gadamer in Deutschland bekannt geworden:1 als Vertreter einer hermeneutischen Logik von Frage und Antwort. Bereits 1955 hob Gadamer in seiner Einleitung zu der von ihm veranlassten deutschen Übersetzung von Collingwoods Autobiographie dieses Frage–Antwort–Modell besonders hervor, um es fünf Jahre später in Wahrheit und Methode zu integrieren. Es ist in der Tat von bleibendem Interesse, gerade dann, wenn man es über seine engere hermeneutische Relevanz hinaus erweitert und in Beziehung bringt mit jenen besonderen Voraussetzungen, Kontexten, Tiefenschichten, die Collingwoods ebenso breit gefächertes wie eigenwilliges Œuvre anbietet. Dann gewinnt der hermeneutische Frage–Antwort–Gedanke weitere Resonanzen, die unwahrnehmbar blieben, verengte man den Blick allein auf das kurrente Schlagwort einer logic of question and answer. Am Ende dieses ersten Teils unserer Funktionsgeschichte werden wir eine differenzierte und erweiterte Ansicht dieser ‚Logik‘ gewonnen haben, sie um ein entscheidendes phänomenologisches Stück ergänzen und so zu einem Begriff von Funktionsgeschichte (und insbesondere literarischer Funktionsgeschichte) gelangen, der tragfähig erscheint, weil und insoweit er die möglichen Leistungen von Literatur (oder Kunst) fundiert in Kernbestimmungen des Literarischen, kann doch Literatur wohl nur in solche Funktionen eintreten, die in dem, was Literatur ist, ihren Grund haben. Eine Literatur, von der man behauptete, sie übe nicht–literarische Funktionen aus, wäre ein Unding.

    Die Abschnitte dazwischen folgen dem Grundriss menschlicher Geistes–, Wissens– und Erkenntnisformen, den Collingwood in seinem frühen Werk Speculum Mentis 1924 entworfen hat. Er diskutiert dort fünf Konstitutionsformen des menschlichen Geistes bzw. fünf ausgezeichnete Erfahrungstypen, die sich historisch und disziplinär unterschiedlich manifestieren, in ihrer Aufeinanderfolge aber eine klare dialektische Teleologie freilegen: Kunst — Religion — Wissenschaft — Geschichte — Philosophie. Den Erörterungen im Speculum, die wir auf ihre (phänomenologischen) Kernbestimmungen reduzieren und von allen teleologisch–dialektischen, quasi–hegelianischen Momenten entlasten, sind andere, teilweise erst posthum publizierte Werke Collingwoods vertiefend oder korrigierend zuzuordnen. Wie gesagt, ohne den Parcours durch diese Schriften bliebe die Logik von Frage und Antwort, so wie sie in der Autobiographie von 1939 und in den Schriften zur Historiographie formuliert ist und von dort her ihre Schlagwort–Karriere antrat, unterbestimmt, und es ließe sich wohl fragen, ob es denn der Mühe wert sei, sie nochmals aufzurufen. Es ergibt sich für uns also der folgende Durchgang:

    KUNST:

    Outlines of a Philosophy of Art

    The Principles of Art

    RELIGION:

    Religion and Philosophy

    Faith and Reason

    The Philosophy of Enchantment

    WISSENSCHAFT UND GESCHICHTE:

    The Idea of Nature

    The Idea of History

    The Principles of History

    Essays in the Philosophy of History

    PHILOSOPHIE:

    An Essay on Philosophical Method

    An Essay on Metaphysics

    The New Leviathan

    Zunächst aber zu einer ersten Version des Verhältnisses von Frage und Antwort, wie es sich von Collingwoods Autobiographie sowie von Gadamers Hemeneutik her erschließt. Was meint diese ‚Logik‘?

    Lernen, so Collingwood, setzt Fragen voraus, gezieltes Fragen, auf das es gezielte Antworten geben kann. In der Antwort bleibt die Frage erhalten, sie ist mit der Antwort nicht einfach verschwunden. Denn die Frage war eine motivierte, sinnvolle Frage. Die Antwort löst sich nicht einfach als kontextlose Aussage ab von ihrer Frage und deren Motivationshintergrund; als isolierte Proposition wäre sie unverständlich. Das gilt nun nicht allein für verbalisierte Antworten, sondern für alle Dinge, die wir verstehen wollen. Gegenstände, Dokumente, Äußerungen, Kunstwerke, Theorien sind nichts, was einfach vorliegt und als vorliegendes Material beurteilt werden könnte, nichts, an das man fixe externe Maßstäbe einfach anlegt. Man sieht es einem Objekt nicht an, was es ist, welche Funktion es besaß, was es bedeutet, ob es ‚wahr‘ ist. Dies erschließt sich erst, wenn man das Objekt befragt, und zwar so, dass es als (möglichst präzise) Antwort auf eine (möglichst präzise) Frage zu begreifen ist. Wir müssen uns in die Situation hineinversetzen, aus der heraus diese Antwort erfolgte; wir müssen versuchen, das Problem, das nach einer Antwort verlangte, möglichst genau zu identifizieren; wir müssen in die Situation der Frage — geleitet allein oder doch primär durch die vorliegende Antwort — gelangen, und uns in ihr (idealerweise) so orientieren, als wäre die Antwort noch gar nicht erfolgt. Erst dann erlangen wir historisches Wissen. The historian has to decide exactly what it is that he wants to know; […].2 Wissen und Verstehen entstehen aus der Beantwortung von Fragen, aus einer questioning activity.3

    I began by observing that you cannot find out what a man means by simply studying his spoken or written statements […]. In order to find out his meaning you must also know what the question was (a question in his own mind, and presumed by him to be in yours) to which the thing he has said or written was meant as an answer.4

    Was uns vorliegt, ist ein Objekt oder eine Artikulation, deren Sinn darin besteht, auf eine vorangehende Situation, eine Problemlage, eben eine sich stellende Frage eine adäquate Antwort zu geben. Der Detailliertheit der Antwort entspricht eine proportionale Beschaffenheit der Frage. Beschränkte man sich auf den puren Aussagegehalt einer historischen Äußerung, müsste man einander widersprechende Aussagen bereinigen. Aber unter Voraussetzung der Frage–Antwort–Logik ist das anders: Zwei Aussagen, die sich formallogisch widersprechen, können doch beide richtig und wahr sein — dann nämlich, wenn sie als Antworten auf zwei verschiedene Fragen gelesen werden. Sie widersprechen einander nur dann, wenn sie die gleiche Frage beantworten. If you cannot tell what a proposition means unless you know what question it is meant to answer, you will mistake its meaning if you make a mistake about that question.5 Das ganze historische Verstehens– und Wahrheitsproblem löst sich auf in diese bewegliche logic of question and answer.6 Eine Aussage, die formal betrachtet als wahr erscheint, kann sich als unwahr erweisen, wenn sie eine Frage verfehlt, auf die sie offenkundig zu replizieren sucht(e); sie unterliegt einem ‚situativen‘ Selbstmissverständnis. Das festzustellen ist freilich schwierig, gewinnen wir die richtige Frage doch erst von der Antwort her.

    Die Frage liegt vor der Antwort; sie müsste — denkt man an Situationen des Alltagslebens —eigentlich separat von dieser zu erkennen sein, aber das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Der Weg zu der Fragesituation ist allein durch die Antwort hindurch möglich: The fact that we can identify his [an author's] problem is proof that he has solved it; for we only know what the problem was by arguing back from the solution.7 Zwischen Antwort und Frage herrscht ein striktes rücklaufendes Korrelationsverhältnis. Die Antwort muss hinreichend ‚Material‘ liefern für die Rekonstruktion der Frage, die aber mehr und etwas anderes sein sollte als eine rein tautologische Variante oder Rückprojektion der Antwort; jedenfalls müsste es sich um eine ‚gute‘ Tautologie handeln. Darin stecken drei Probleme.

    (1) Die Frage, auf die ein Text (um gleich unseren Fall zu nehmen) antwortet, ist nur von dieser Antwort her zu gewinnen. Ob die Antwort in einem angemessenen Verhältnis zur Frage steht; ob sie deren Anspruch einlöst oder verfehlt; ob sie die Frage simplifiziert oder umgekehrt die Frage durch ihre Komplexität als allzu schlicht ausweist: All dies lässt sich nicht von jenseits der Frage–Antwort–Abfolge ausmachen (dies wäre wieder falsche, positivistische Logik). Die Antwort und nur sie gibt die Aspekte und Kriterien für die Rekonstruktion der Frage vor; die Frage ist nur zu genau den Bedingungen, die wir der Antwort entnehmen, formulierbar. Das läuft in der Tat auf eine perfekte Tautologie hinaus: Die Frage, das Problem, die offene Situation, ist eine Teilmenge der Antwort, des Werks, der kulturellen Artikulation. Will man die Tautologie öffnen, dann muss die Frage aus der Antwort so rekonstruiert werden, dass ein Spielraum erkennbar wird, ein Spielraum möglicher anderer Antworten, unter denen die vorliegende ihren besondern Wert, ihren Grund hat, wiewohl sie nicht die einzig mögliche war. Die reale Antwort sollte den Blick auf diese anderen Möglichkeiten nicht versperren, dann wird ihre besondere Funktion im Spektrum der Möglichkeiten einsichtig. Aber natürlich lässt sich die methodische Tautologie nicht wirklich aufheben; dies ist auch nicht erforderlich.8

    (2) Die ursprüngliche Situation, die Frage vor der Antwort, ist offen, dynamisch, in ihrem Fortgang unabsehbar. Eine Frage ruft eine Vielzahl möglicher Antworten herauf, unter denen sich schließlich diese eine, die uns überliefert ist, durchsetzt. Deren besonderer Vorzug lässt sich nun aber nicht mehr unmittelbar abschätzen, fehlt uns doch die Möglichkeit des Vergleichs aller denkbaren, nie verwirklichten Antworten untereinander; wir müssen die Fülle dieser anderen Möglichkeiten imaginieren. Das erinnert an die Phänomenologie der Protention, der zwar thematisch motivierten, aber noch unentschiedenen Vorerwartungen: In die Zukunft hinein baut sich ein ganzes Bündel von Möglichkeiten des Kommenden auf, und es schrumpft jäh zusammen, wenn daraus die eine Möglichkeit wirklich wird und alle anderen verschwinden. Diese Lage, in der sich die noch unentschiedenen Möglichkeiten anstauten, kann man, nachdem die Antwort auf die Frage nun artikuliert ist, nicht mehr wirklich greifen, man kann sie nur noch hypothetisch rekonstruieren, fingieren. Da die eine Antwort, nachdem sie einmal real geworden ist, alle Alternativen abgeblendet hat, droht die Frage engstirnig zu wirken, so als habe sie nur diese eine Antwort ‚gewollt‘. Das aber ist nicht der Fall. Eine gehaltvolle Frage verträgt mehrere Antworten.

    (3) Was passiert eigentlich, wenn die — sei es eng umgrenzte, sei es epochale — Frage befriedigend beantwortet wurde? A question answered causes another question to arise.9 Aber wie kommt es zu neuen Fragen? Spielt hierbei die Kongruenz oder Inkongruenz zwischen Frage und Antwort eine Rolle? Fragen und Antworten sind situiert; d.h. sie bilden keine abgezirkelten 1–1–Formationen, sondern sie gehören einem Kontext zu. Aus der Entzifferung der richtigen Frage durch die Antwort hindurch müssen neue Frage–Antwort–Korrelationen erwachsen, dafür muss die historische Phantasie sorgen. Das kann nun unterschiedlich erfolgen. Die Antwort könnte den Skopus der Frage unterbieten, es bliebe ein unerledigter Rest, der sich nach erteilter Antwort weiter entwickelt, sich auswächst zu einer neuen Problemsituation, die neue Antworten anfordert. Es könnte auch so sein, dass die Antwort viel zu umfassend ausfällt, einen Überschuss erzeugt, zu dem gleichsam nachträglich Fragen beigebracht werden müssen; das könnte bei literarischen Antworten gut der Fall sein. Oder die Antwort fällt so aus, dass sich die Frage qualitativ verändert, aus ihrer alten, unzulänglichen Form heraus zu expandieren beginnt, aber doch in dieser Modifikation weiter virulent bleibt. Wie auch immer: Das Verhältnis zwischen Frage und Antwort ist kein statisches, sondern ein Verhältnis wechselseitiger Modifikation oder Adaptation, Über– und Unterbietung. Die Antworten ‚machen‘ die Fragen, die Fragen bleiben auf der Suche nach immer noch anderen Antworten, je nach ihrem Gewicht und ihrer Reichweite.

    Warum beschäftigt uns dieses Frage–Antwort–Verhältnis, über ein pures antiquarisches Interesse hinaus? Nicht alle Fragen sind noch relevant, einige aber sehr wohl; nicht alle Antworten sind noch adäquat, vielleicht nicht einmal mehr verständlich. Nicht alles, was wir historisch vorfinden, lässt sich sinnvoll als erteilte Antwort fassen; und es mag Fragen geben, die diesseits jeder Beantwortbarkeit bleiben, also von vermeintlichen Antworten her gar nicht oder nur verzerrt in den Blick treten können. Vielleicht öffnet sich in solchem Fall anhand der historischen Antwort, die die Frage gar nicht recht trifft, der Blick auf eine fortbestehende Problematik, die paradigmatisch unzählige Antworten bündelt. Oder wir lesen umgekehrt einer überdimensionierten Antwort ab, welches Bündel von Fragen dahinter verborgen liegt. Hier wäre eine ganze detaillierte Kasuistik auszuarbeiten — eine Blaupause für (literar–)historische Exempla.

    Ein zweites, mit dieser Frage–Antwort–Logik eng verbundenes bekanntes Lehrstück Collingwoods behandelt die ‚Einkapselung‘. Die Frage nach der historischen Frage, auf die ein Dokument oder eine Handlung die Antwort bildeten, kommt überhaupt nur auf, wenn die Antwort–Vergangenheit in der Gegenwart enthalten ist, wenn es eine Spur, ein Indiz, einen gegenwärtigen Anhaltspunkt gibt, nach der historischen Fragesituation zu fragen.10 Denn wir müssen ja in die Frageposition zurück kommen können. Eine historische Antwort ist umso aktueller, je erkennbarer das alte Problem in der späteren (also heutigen) Situation eingekapselt, als es selber auffindbar ist, wie verwandelt auch immer; wenn wir uns also die alte Frage, auf welche die Antwort vorliegt, selber stellen und dann die Antwort als Antwort erkennen können (die wir evtl. zuvor positivistisch außerhalb des Frage–Antwort–Systems als einen bloßen Sachverhalt wahrgenommen hatten); oder wenn wir sehen, dass die Antwort auf ein altes Problem gut und gerne immer noch eine Antwort auf ein ähnliches aktuelles sein könnte oder ist. Geschichte besteht nicht aus gegeneinander abgegrenzten Ereignissen, sondern aus Prozessen, die transformierend ineinander übergehen, ohne identifizierbaren Anfang und ohne Ende. Deshalb können wir den alten Prozess P1, den wir verstehen wollen in seiner Frage–Antwort–Logik, verwandelt im heutigen historischen Geschehen P2 wiederfinden, als Spur:

    If P1 has left traces of itself in P2 so that an historian living in P2 can discover by the interpretation of evidence that what is now P2 was once P1, it follows that the ‚traces‘ of P1 in the present are not, so to speak, the corpse of a dead P1 but rather the real P1 itself, living and active though incapsulated within the other form of itself P2. And P2 is not opaque, it is transparent, so that P1 shines through it and their colours combine into one.11

    Es gibt keine scharfen historischen Trennlinien, sondern transformierende Verläufe und Kontinuitäten. Die prozesshafte Situation P2, in der der Historiker arbeitet, ist niemals nur rein diese P2, sondern in ihr ist ein Rest von P1 ‚eingekapselt‘. Wir können dann die Antwort, die einmal auf oder in P1 gegeben wurde, so auch (partiell) als aktuell für P2 betrachten. Eingekapselt heißt aber auch: markiert als historisches, insofern gesondertes, fremdes Element. Deshalb ja setzt hier die historische Frage nach der Frage an. Diesem Problem werden wir später noch einige Aufmerksamkeit widmen müssen, ist doch vorderhand nicht recht ersichtlich, wie eine funktionale Literaturgeschichte hier ihren methodischen Ort finden sollte.

    Gadamer hat in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe der Autobiographie darauf hingewiesen, dass Collinwoods radikale Historisierung der Fragen, auf die (philosophische, literarische, historische) ‚Sätze‘ antworten, auch die alte Problemgeschichte erledigt.12 Denn man kann nicht mehr behaupten, es gäbe einen Kanon immer gleicher Probleme (Fragen im Sinne der berüchtigten anthropologischen Konstanten), die historisch wechselnd beantwortet würden. Wenn die Frage nur von der historischen Antwort her zugänglich ist, dann ist sie auch nur als besondere historische Frage (be)greifbar; und ihre Einkapselung in einem späteren Horizont ist ja auch nicht zu verstehen als Konservierung, sondern als Fortwirken unter gewandelten Umständen. Die Frage, deren Beantwortung uns vorliegt, erhält ihren Sinn im gleichen Maße von dieser Antwort, wie der Sinn der Antwort sich von der Frage her erhellt. Löste man diesen historischen Bedingungszusammenhang auf, endete man bei einer Liste banalisierter, schematischer Probleme.

    In Wahrheit und Methode hat Gadamer Collingwood noch etwas anders dargestellt und damit das Konzept der Logik von Frage und Antwort jedenfalls in Deutschland für lange Zeit festgelegt — H. R. Jauß bietet dafür, wie wir schon sahen, ein repräsentatives Beispiel. Gadamer erweitert jetzt die Frage–Antwort–Konstellation so, dass die historische Tatsache oder der Text (also die überlieferte alte Antwort auf eine Frage) selber zu einer Frage wird, die sich an uns richtet; und unser Verstehen ist dann die Antwort auf diese Frage. „Daß ein überlieferter Text Gegenstand der Auslegung wird, heißt bereits, daß er eine Frage an den Interpreten stellt. Auslegung enthält insofern stets den Wesensbezug auf die Frage, die einem gestellt ist. Einen Text verstehen, heißt diese Frage verstehen."13 Nun stellt uns der Text keine beliebige Frage, auf die wir mit einem beliebigen Verstehen, irgendeiner Sinnzuweisung, antworten könnten. Seine Frage, den Text als Frage, verstehen wir nur, wenn wir ihn in einen „Fragehorizont" stellen.14 Das ist der Anschlusspunkt für Collingwood: Man muss den Horizont, aus dem heraus der Text sich als Frage an uns wendet, gewinnen; und das heißt, dass wir den Text, der uns fragt, selber auf eine Frage zurückführen, auf die er die Antwort darstellt. Wenn wir den Text als eine solche Antwort verstehen, haben wir ihn in seinem historischen Horizont platziert und können dann unsererseits die Antwort auf seine Frage geben; also unsere verstehende, auslegende Antwortversion jener Antwort, die der Text gab, die aber nichts objektiv Feststehendes sein kann, weil er uns sonst ja gar nicht als Frage begegnete. Die Horizont–Metapher hält gut (phänomenologisch) fest, wie hier mit wechselnden Perspektiven, labilen Bezügen und offenen Übergängen zu rechnen ist. Die Frage, auf die der Text reagierte und die er — als Antwort — nun an uns weiterreicht, wie verdeckt auch immer, steht nicht in einem stabilen System. Sie muss von uns, indem wir eine Antwort auf die Text–Frage geben, rekonstruiert werden. Wir antworten auf den Text und begreifen ihn genau damit selber als eine Antwort, eine Antwort in beweglichen Horizonten. „Die Rekonstruktion der Frage, auf die der Text die Antwort sein soll, steht selbst innerhalb eines Fragens, durch das wir die Antwort auf die uns von der Überlieferung gestellte Frage suchen. Eine rekonstruierte Frage kann eben niemals in ihrem ursprünglichen Horizont stehen."15

    Diese schon längst klassisch gewordene hermeneutische Argumentation ist in sich einleuchtend, aber es fällt nicht leicht, konkretes literaturwissenschaftliches Arbeiten in ihr wiederzuerkennen. Hier wird doch eher eine Substruktur dessen beschrieben, was wir tun, wenn wir lesen und das Gelesene in seinen historischen Horizont stellen, indem wir eben vom Text in einen historischen Horizont verwiesen werden. Die Frage, die der Text an uns richtet, ist doch ganz konkret: Was für eine Welt wird hier, zwischen Anfang und Ende des Textes, ausgeformt? Und warum ist das so, was zeigt sich darin an? Dies ist die Frage des Textes, weil es unsere Frage an ihn ist, weil wir im Lesevorgang beteiligt sind an der Konstitution einer Welt, die immer wieder die Frage nach ihrer Beschaffenheit und deren Grund aufwirft. Wenn wir diesen Sinnkonstitutionsprozess insgesamt als Rekonstruktion jener Antwort verstehen, die der Text auf eine Frage erteilte, dann muss gezeigt werden können, inwiefern die Text–Welt in genau der von uns konkretisierten Form auf eine Problemlage (eine Frage) replizierte; und das heißt: in was für eine Weltform der Text die Welt, die ihn zur Antwort motivierte, brachte, um aus ihr jene andere extra–textuelle Welt in besonderer Weise in den Blick zu bringen. Oder noch anders: Die Welt als Frage, auf die die Literatur mit ihrer Weltmodellproduktion antwortet, ist kein irgendwie amorph gegebener Horizont, sondern ein bewusstseinsmäßig konstituierter Horizont; und auch die Texte mit ihren Welten sind Korrelate von Akten des Bewusstseins. Nur so können sie in ein Antwort–Frage–Verhältnis eintreten, das sie an uns, historisch viel später, übermitteln und uns nun selber in ein Fragen nach der Frage hinter der manifesten Antwort versetzen.

    In seinem Speculum Mentis hat Collingwood, wie eingangs angedeutet, eine dialektisch–hegelianisch anmutende, im Kern aber phänomenologische Entwicklungslogik der Grundformen menschlicher Welterfahrung ausgearbeitet.16 Kunst, Religion, Wissenschaft, Geschichte sind Namen für die historisch manifest gewordenen wichtigsten Bewusstseinshaltungen.17 Sie bringen die Welt in eine bestimmte Gestalt, bestreiten einander den Wahrheitsanspruch, den sie für sich selber freilich reklamieren; und sie neigen zur dogmatischen Verfestigung in theoretischen Selbstbegründungen — Kunst wird in Ästhetik, Religion in Theologie, Wissenschaft in Logik, Geschichte in Geschichtsphilosophie fundiert und geschlossen. Damit aber, so Collingwoods Einwand, ergibt sich ein Ensemble von Verfehlungen und Selbstverkennungen, das eine dialektische Entwicklungsdynamik freisetzt. Und es ist nach Collingwood Aufgabe der Philosophie, den Schein zu vertreiben, diese Bewusstseinslagen seien je für sich hinreichend leistungsfähig, aufzuzeigen, dass es sich hier um ‚physiognomisch‘ zwar sehr unterschiedliche, doch an ihrer Basis gleichartige Phänomene handelt. Fragt man nämlich zurück von dem, was uns als Kunst, Religion, Wissenschaft und Geschichte vorliegt, dann stößt man auf jene Konstitutionsakte des Bewusstseins, in denen diese Wissensformen fundiert sind. Die Welt kann sich nur zu Bedingungen des so und so arbeitenden Bewusstseins zeigen, sie begegnet diesem in Spiegelungen seiner selbst. All die Selbstverkennungen, denen die Vertreter der genannten ‚Disziplinen‘ Kunst, Religion, Geschichte, Wissenschaft unterliegen, beruhen auf schlechten Abstraktionen, schlechten Verdinglichungen, auf Verkennungen der basalen Konstitutionsarbeit. Das Verhältnis zwischen dem konstituierenden Bewusstsein und der Welt, die sich zu dessen Bedingungen zeigt, ist selber ganz konkret und transparent. Wissen von einem Objekt ist stets implizites Selbstwissen des Konstitutionsbewusstseins. Dieses Bewusstsein begegnet sich in seinem Tun, also in der Welt, die es wahrnimmt, imaginiert, denkt, beurteilt — mal künstlerisch, mal religiös, wissenschaftlich oder historisch. Die Welt kann das wirklich sein, als das sie uns begegnet; und in den vier großen kulturellen ‚Institutionen‘ oder Habitus begegnet sie uns jeweils so, wie sie sein kann, freilich jeweils nur in einer ihrer Möglichkeiten.

    Wenn aber Bewusstsein weltkonstituierendes Tun ist und in diesem Tun eine wahre, weil ganz konkrete Abschauung seiner gewinnt (das will die speculum–Metapher festhalten), dann ist es wichtig, viele verschiedenartige ‚Welten‘ zu konstruieren.18 Jede dieser Welten bringt das Bewusstsein in ein Verhältnis zu sich selber — es sei denn, die aufklärende Rückspiegelung werde blockiert durch eine objektivistische Verhärtung dieser Welten, die den Schein erwecken, sie seien mit der objektiven Welt selber identisch, sie hielten die Tatsachen dieser Welt in wahrer Form fest. Diesen Schein aufzulösen ist Aufgabe der Philosophie. Kunst, Religion, Wissenschaft und Geschichte verschwinden dabei nicht einfach als illusionäre Erscheinungen; sie werden nun erst in ihrer Funktion einsehbar, Welt in einer besonderen Form zu öffnen, dabei als Korrelate des konstituierenden Bewusstseins diesem zum Selbstwissen zu verhelfen und genau damit Antwort auf die Frage zu geben, was die Dinge der Welt und was diese Welt in Wirklichkeit (besser: in ihren verschiedenen Wirklichkeiten) sein mögen. Das ist nach Collingwood die letzte Stufe philosophischer Aufklärung.

    Aus der Sicht der vier Denkformen, also vor der letzten philosophischen Aufklärung ihrer Grenzen, lässt sich die hier entfaltete Lage auch ‚konstruktivistisch‘ so darstellen. Wie immer wir uns über Welt und Wirklichkeit äußern; welche Einstellung (künstlerisch, religiös, usw.) auf Welt und Wirklichkeit wir auch einnehmen; über welches Weltwissen wir zu verfügen meinen: Stets finden wir (in der Metareflexion) ein Gefälle vor zwischen der Komplexität dessen, was die Begriffe ‚Welt‘ oder ‚Wirklichkeit‘ bezeichnen, und dem, was Inhalt von Erfahrung, Wissen, Prädikation sein kann. Unsere Erfahrungen, Wahrnehmungen, Wirklichkeitshaltungen und alle darin fundierten Artikulationsweisen sind ‚nur‘ Perspektiven — perpektivierende, verkürzende Zurechtmachungen diffuser, komplex verflochtener und fluktuierender Gegebenheiten, funktional–pragmatisch motivierte und interessengebundene Selektionen aus dem, was sich jeder selektiven Verfügung entzieht, weil es gar nicht als Reservoir perspektivischer Zugriffe dasteht, sondern sich bereits in der Zuwendung vor jedem Selektionsakt verwandelt hat in etwas, das nun scheinbar für Selektionen verfügbar ist: eine Perspektivierung vor allen perspektivischen Versionen. Diese epistemologische Basiskonstellation kann man historisch und systematisch rekonstruieren, als ‚aufsteigende‘ Folge von Erkenntnis– und Artikulationsstufen, die ‚scheitern‘ und sich durch andere überboten finden, weil sie in sich eine unlösbare Spannung zwischen dem aushalten müssen, was sie leisten, und dem, was sie eben wegen dieser Leistung abblenden. Jede form of consciousness desavouiert sich, sieht sich unausweichlich überholt durch andere, die sich ihrerseits in das gleiche Dilemma von ‚Einsicht durch Blindheit‘ manövrieren; und so zeigt jede in ihrem Ungenügen beharrlich ihre Unentbehrlichkeit.

    Mögen die Defizite und blinden Stellen von Kunst oder Religion auch noch so offen zutage liegen: Ihre Leistungsstärke bleibt auch dann ungemindert, wenn von den anderen ‚Geistesbeschäftigungen‘ (Wissenschaft oder Geschichte) her die perspektivischen Limitierungen (oder, phänomenologisch gewendet, die anderen Konstitutionsweisen) dieser ‚Vorgänger‘ oder ‚Konkurrenten‘ deutlich sind. Sie alle sind ja unverzichtbar als Spiegel des sie konstituierenden, also hervorbringenden und beständig erhaltenden Bewusstseins; und sie sind unverzichtbar, weil sie Welt und Wirklichkeit in denkbar unterschiedlichen Versionen modellieren. Die Welt der Kunst ist von durchaus anderer Art als die Welt der Wissenschaft. Beide werden falsch, wenn sie sich als die Welt schlechthin zu gerieren suchen. Beide bleiben wahr, wenn sie sich transparent halten auf die Konstitutionsprozesse, aus denen sie hervorgehen und in die sie immer neu (als specula) hineinführen. Nicht zuletzt: Jede dieser ‚Wissensregionen‘ beansprucht die geistigen Vermögen (die intentionalen Modi) insgesamt, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten; jede zeigt sich und konstituiert sich vermöge eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Kräfte. Dabei dominiert mal die Imagination, mal die Urteilskraft, mal die dingliche Wahrnehmung. Aber dominieren bedeutet eben: Die anderen Vermögen bleiben mit im Spiel, und zwar keineswegs in fixer Subordination, sondern in labilen Schichtungen. Die einzelnen Perspektiven auf ‚Wirklichkeit‘ erweisen sich so nicht als feste Blicktunnel mit definiertem Tunnelblick, sondern als Korrelate der lebendigen Arbeit des Bewusstseins in beweglichen Horizonten. Und: Sie bieten zwar defizitäre, aber unersetzbare Antworten auf eine Frage, die erst im Lichte dieser Antworten in ihrer Beantwortbarkeit bzw. Unbeantwortbarkeit erkennbar wird. Von der Komplexität der Welt, aus der ständig Fragen hervorgehen, wissen wir erst, wenn uns die darauf erteilten Antworten vorliegen; und in diesen kommt, theoretisch aufgeklärt, das Konstitutionsbewusstsein, das sowohl die Weltkomplexität wie die Weltperspektiven ‚trägt‘, zum Begriff und zur Anschauung seiner selbst. Das wäre ein Grundriss von Collingwoods phänomenologischem Denken, dessen Sektionen in den folgenden Abschnitten genauer nachzugehen sein wird.

    1 Robin George Collingwood, 22.02.1889 bis 09.01.1943. Vgl. zur Vita Fred Inglis, History Man: The Life of R. G. Collingwood (Princeton: University Press, 2009).

    2 R. G. Collingwood, An Autobiography (London: Oxford University Press, 1939, 1970) 81.

    3 Collingwood, Autobiography 30.

    4 Collingwood, Autobiography 31.

    5 Collingwood, Autobiography 33.

    6 Collingwood, Autobiography 37.

    7 Collingwood, Autobiography 70.

    8 Vgl. dazu Louis O. Mink, Mind, History, and Dialectic: The Philosophy of R. G. Collingwood (Bloomington: Indiana University Press, 1969) 131–139. Thus the possibility of answers, seen from the standpoint of the question, is multivalent; but the reconstruction of the question, seen from the standpoint of a given answer, is univalent (133). Wenn wir nur die Antwort vorliegen haben, durch die hindurch die alte Frage wiederzugewinnen ist, dann besteht das methodische Problem darin, die ‚Univalenz‘ wieder in eine ‚Multivalenz‘ zu verwandeln, was natürlich nur zirkulär möglich ist; die Antwort definiert die Möglichkeiten der Frage–Rekonstruktion. Sobald man freilich plausibel machen kann, welche anderen Antworten auf die so rekonstruierte Frage möglich gewesen wären oder immer noch möglich sind, öffnet sich der Zirkel, und die schlechte Tautologie (in dem Zirkel: die Frage ist die Antwort ist die Frage – die Antwort ist die Frage ist die Antwort) wird zu einer ‚guten‘, konstruktiven, nicht zuletzt historisch belehrenden.

    9 Collingwood, Autobiography 129.

    10 Aus dieser zumindest rudimentären Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart hatte schon 1814 Walter Scott den historischen Roman begründet; vgl. Ch. 1 (Introductory) zu Waverley, or ’Tis Sixty Years Since (London: John C. Nimmo, 1892) 2-4.

    11 Collingwood, Autobiography 98.

    12 Vgl. „Einleitung" zu R. G. Collingwood, Denken: Eine Autobiographie (Stuttgart: K. F. Koehler, 1955) XI.

    13 H.–G. Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen: Mohr Siebeck, 1960) 351.

    14 Gadamer, Wahrheit und Methode 352.

    15 Gadamer, Wahrheit und Methode 356.

    16 Terminologisch dort recht zwanglos mal als chief forms of human experience, activities of the human mind, forms of consciousness, type of thought, forms of thought oder types of experience bezeichnet: R. G. Collingwood, Speculum Mentis, or The Map of Knowledge (Oxford: Clarendon, 1970) 9, 20, 219, 243, 252, 255. Es liegt nahe, auf den von André Jolles wenig später (1930) geprägten Begriff der ‚Geistesbeschäftigung‘ zu verweisen, der – kombiniert mit dem der ‚Sprachgebärde‘ – das gleiche meint wie Collingwoods forms of consciousness. Jolles definiert: „Wo also unter Herrschaft einer Geistesbeschäftigung die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens sich verdichtet und gestaltet, wo dieses von der Sprache in seinen letzten, nicht teilbaren Einheiten ergriffen, in sprachlichen Gebilden wiederum Sein und Geschehen zugleich meint und bedeutet, da reden wir von der Entstehung der Einfachen Form": A. Jolles, Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Halle: Niemeyer, 1930, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968) 45. Bei Jolles fundiert die jeweilige Geistesbeschäftigung eine der einfachen Formen, eine basale sprachliche Weltversion (die sich dann zu einer literarischen Gattung bzw. einer literarischen Schreibweise entwickeln kann), bei Collingwood eine der fünf kulturellen ‚Institutionen‘. Geistesbeschäftigung ist natürlich nur eine Metapher für die Intentionalität des Bewusstseins (activities of the human mind), die sich in diversen Modi konkretisiert. Wir werden Collingwood häufiger in diesen phänomenologischen Rahmen und, nicht zuletzt, die ihm gemäße Terminologie zu übersetzen haben: nicht als Besserwisserei, sondern zur Verdeutlichung dessen, was der Autor im Blick hat.

    17 Engl. mind oder spirit gebe ich durchweg als Bewusstsein wieder; das ist gewiss eine phänomenologische Interpretation und vielleicht Reduktion, die aber sichere Anhaltspunkte in Collingwoods Texten hat; vgl. etwa seine Definition von Intentionalität: "Fundamentally, the spirit is awareness or consciousness, which implies a prima facie distinction between the conscious spirit and the world of which it is conscious; […]": R. G. Collingwood, Outlines of a Philosophy of Art (London: Oxford University Press, 1925) 88. – Uns kann es nur um den Kern der Collingwoodschen Überlegungen gehen, nicht um seine bemerkenswerte Schreibweise mit ihren abrupten Wechseln zwischen genauen begrifflichen Distinktionen, lockeren essayistischen Abschweifungen und unverblümten Invektiven (kaum ein anderer neuerer englischer Autor dürfe das schöne Attribut idiotic so häufig verwenden wie Collingwood).

    18 "Hence the construction of external worlds – works of art, religions, sciences, structures of historical fact, codes of law, systems of philosophy and so forth ad infinitum – is the only way by which the mind can possibly come to that self–knowledge which is its end.": Collingwood, Speculum Mentis 315.

    1.2 Kunst und Religion

    1.2.1 Funktionen der Imagination

    Gadamer hat einleuchtend herausgestellt, dass die Positionen von Frage und Antwort beweglich sind. Jede Antwort auf eine Frage besitzt ihrerseits Fragecharakter — sei es wegen ihrer Asymmetrie zur gestellten Frage, die über– oder unterboten wurde, sei es wegen ihrer unausgeschöpften Dichte, die es schwer macht, den Bezug zur Frage eindeutig zu erkennen (und der deshalb ein Interpretament bleibt), sei es wegen ihres schwer kalkulierbaren Adressatenbezugs wie im Fall der Kunst. Kunstwerke sind immer Antworten mit eigenem Fragecharakter. Ihre Antworten sind fraglich, fragwürdig, befragbar. Deshalb ist die Logik von Frage und Antwort eigentlich stets ein ‚logischer‘ Dreischritt von Frage und Antwort und Frage. Gadamer stellt die Abfolge beider Positionen hier still; aber der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, diese Positionswechsel von Fragen und Antworten, die immer auch Antworten und Fragen sind, könnten ständig weitergehen, womöglich mit wachsenden metaphorischen Resonanzen. Und tatsächlich ist das bei Collingwood der Fall. Wir geraten, von unserer funktionsgeschichtlichen Problemstellung herkommend, geradezu in schwer durchdringliche Verschränkungen von Frage– und Antwortfunktionen. Man muss vorübergehend bereit sein, auf eine klare Festlegung dessen zu verzichten, was eine Frage und was eine Antwort im Bereich der Kunst sein soll, in der Hoffnung, der Zugriff einer Funktionsgeschichte bleibe dennoch plausibel und tragfähig. Und tatsächlich kommt gerade in den instabilen Positionen von Fragen und Antworten, ihrer Nicht–Feststellbarkeit, dem Kippen des einen ins andere, etwas zum Vorschein, das funktionsgeschichtlich von Belang ist.

    Zunächst zu den frühen Überlegungen Collingwoods im Speculum Mentis und in den Outlines of a Philosophy of Art, die die Orte von Frage und Antwort gleich mehrfach besetzen.

    Kunst oder besser: das Kunstbewusstsein bietet, wie die anderen Bewusstseinshaltungen auch, zwei Seiten dar: eine Binnensicht, die Sicht der lebendigen produktiven und rezeptiven ästhetischen Erfahrung, und eine Außensicht, die Sicht der kritischen theoretischen Analyse. Collingwood diskutiert sie im Speculum Mentis separat nacheinander. — Zunächst: In Kunst wird nichts behauptet, es werden keine Urteile gefällt und keine Gedanken elaboriert. Für die Kunst existieren Unterscheidungen wie wahr vs. falsch oder real vs. irreal nicht. Das kunstproduzierende Bewusstsein ist allein gerichtet auf die Konsistenz des Werkes, die innere Stimmigkeit dessen, was die Imagination da konstituiert (wie immer diese Stimmigkeit näherhin aussehen mag). Die Welt wird allein imaginativ (oder imaginierend) erfasst: also nicht zunächst hinsichtlich ihrer Faktizität, als Erfahrung der wirklichen Dinge dieser Welt, die in einem zweiten Schritt dann imaginativ irrealisiert und transformiert würden. Für das Kunstbewusstsein erscheint alles Wirkliche von vornherein in einem neuen, anderen, in sich geschlossenen Modus des Sehens–als. Die Welt wird imaginiert als etwas so und so Beschaffenes; sie kommt gar nicht anders in den Blick, kann nicht in verschiedenen Versionen kritisch durchgespielt werden: das käme einer Aufhebung der ästhetischen Erfahrung gleich. "Everything we imagine either is so or is not so: but to imagine it means refraining from asking which it is."1 Wir sind gänzlich im Horizont des sich voranbringenden und vollendenden Werkes; jedes Werk ist, so lange eben die ästhetische Erfahrung besteht und durchgehalten wird, eine abgeschlossene Welt, eine Welt zu Bedingungen einer so und nicht anders verfahrenden Imagination. Natürlich zählt das Werk, auch in der rezeptiven Haltung, als realer Bestandteil zur realen Welt, es ist eine Tatsache unter allen anderen Tatsachen, mit denen es verglichen werden kann. Aber das spielt im Horizont der arbeitenden Imagination keine Rolle; diese andere mögliche Einstellung wird hier schlichtweg abgeblendet.

    Eine weitere Konsequenz der imaginativen Haltung, aus der Kunst hervorgeht, ist die Diskontinuität zwischen den Kunstwerken. Die produktiv und rezeptiv arbeitende Imagination bewegt sich in einer kohärenten Immanenz, Werk für Werk, ohne Rückblicke oder Vorwegnahmen. Dem kritisch analysierenden Blick (z.B. dem der Kunstgeschichte) sind gerade diese Verkettungen, die historischen Reihen mit ihren Transformationen und intertextuellen Resonanzen wichtig; dem aktiven ästhetischen Bewusstsein sind sie gänzlich fremd. Es ist an historischen Kontexten des Werkes so wenig interessiert wie an einer Reflexion auf den Akt des Imaginierens selber; denn sogleich würde dieser in Kontrast treten zu anderen Bewusstseinsmodi und so nicht mehr jene fraglose Orientierung gewähren können, in der sich die ästhetische Erfahrung bewegt. Im Imaginieren sind alle anderen möglichen Akte neutralisiert, insbesondere wahrheitsfähige Akte des Behauptens und Negierens (assertorische Akte).

    Noch anders gewendet: Kunstwerke sind Annahmen über die Welt; sie erkunden, je einzeln, die Welt im Modus des Als–ob. Sie stellen eine Hypothese auf: die nämlich, dass die Welt so beschaffen sein könnte, wie hier gezeigt und ausgeführt wird, verbunden mit der (meist implizit) mitlaufenden Überlegung, worin der Vorzug gerade dieser Beschaffenheit liegen könnte. Die Hypothese wird mit Gehalt gefüllt, insoweit das Werk in der Tat die Welt in einem imaginativen Modus des ‚Welt–als–X‘ darbietet und ggf. überzeugend darbietet; sie bleibt aber offen, weil jede Auseinandersetzung mit der Hypothese eine Preisgabe der imaginativen Immanenz erforderte, einen Blick auf die Kunstwelt von einem Weltwissen her, das die je besondere Welt–Kunstversion von außen einschätzte. Für Collingwood ist diese Drinnen–Draußen–Opposition grundlegend. Das ästhetische Bewusstsein stellt sich, so lange es auf seine imaginäre Gegenständlichkeit gerichtet ist — also wahrhaft lebendiges ästhetisches Bewusstsein ist —, die Realitätsfrage nicht; es kennt keinen Gegensatz zwischen imaginären und realen Dingen; Reales und Fiktives stehen gänzlich indifferent zueinander, sie unterhalten überhaupt keine Beziehung. Aber natürlich ist der Wechsel aus der Binnen– in die Außenorientierung jederzeit mühelos möglich und ereignet sich auch tatsächlich; denn jeder Gedanke an andere Werke, jede assoziative (intertextuelle) Resonanz von jenseits der Werkgrenzen, jeder Blick in den außerliterarischen Kontext beendet die rein ästhetische Bewusstseinshaltung, die über solch öffnende Zäsuren hinweg sich immer wieder neu einpegeln muss. Dass sie derart unterbrochen wird, mag sogar ihr faktischer Normalzustand in Prozessen der Kunstrezeption sein; das kann aber nicht daran hindern, sie zunächst in ihrer ‚puren‘ besonderen Intentionalität zu charakterisieren.

    So weit Collingwoods idealtypische Erläuterung des Kunstbewusstseins von innen. Diese Perspektive muss nun, in einem zweiten Schritt, geöffnet werden. Und da zeigt sich, dass der Akt des Imaginierens gleichermaßen ein Akt des Fragens und ein Akt des Behauptens oder Antwortens ist. Kunstwerke sind keineswegs selbstgenügsame Spielwelten, Refugien entlasteter und entlastender Imagination, Trauminseln (oder Tagträume) in der Flut pragmatischer Zwänge. Eine kurze Blickwendung genügt, um konstatieren zu können: Auch als Produkte (Korrelate) ‚reiner‘ Imaginationsarbeit besitzen Kunstwerke einen realen Welthintergrund — den der Erfahrungswelt der konkret imaginierenden Person. Sie bleibt beständig präsent. Das impliziert noch keine These hinsichtlich der Herkunft und Bearbeitung des ‚Materials‘ von Kunst. Aber es lässt erkennen, wie und als was der Bewusstseinsmodus des Imaginierens fungiert. Dieser Modus nutzt das Kunstwerk zur hypothetischen Exploration von Weltmöglichkeiten, und zwar von einer bestimmten Ausgangsposition her. Die Imagination greift aus von dem je Gegebenen ins Offene, Unbekannte, Andere. Sie fragt, indem sie anders und anderes vergegenwärtigt, nach dem, was uns noch nicht vertraut ist. Begreift man aber das Imaginieren und mit ihm die Produktion und Rezeption von Kunst als konstruktives (konstruierendes) Fragen ins Offene, dann sieht man leicht, dass eine derartige fragende Öffnung Ingrediens allen lebendigen Wissens ist. Die Imagination als Fragen zielt zwar nicht ab auf eine bestimmte Antwort, aber sie öffnet doch einen Raum möglicher Antworten, sie evoziert Beantwortbarkeit. Die Imagination nimmt immer ein gewisses, vielleicht ganz diffuses Weltwissen in Anspruch, von dem aus sie innovativ fragt; solches Wissen bliebe totes Archivmaterial, wäre es nicht immer wieder geöffnet durch imaginative Ausgriffe. "Imagination does not exist in the free state, and itself requires a basis of fact. This basis of fact in turn requires a basis of imagination, for no fact can be known until it has been sought by the imaginative act

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