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Kaffeekochen für Millionen: Die spektakulärsten Ereignisse im World Wide Web
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Ebook249 pages2 hours

Kaffeekochen für Millionen: Die spektakulärsten Ereignisse im World Wide Web

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Eine Kaffeemaschine der Cambridge University war das erste Live-Bild im Internet: Zehn Jahre lang lasen die Wissenschaftler des Computer Science Department daran ab, ob sich ein Gang in die Küche lohnte. 2,5 Millionen weitere Besucher aus aller Welt schauten per Mausklick oder persönlich vorbei – die Krups Pro Aroma erlangte Weltruhm und wurde Kult.
LanguageDeutsch
PublisherCampus Verlag
Release dateMar 13, 2006
ISBN9783593402383
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    Book preview

    Kaffeekochen für Millionen - Mathias Mertens

    www.campus.de

    Mertens, Mathias

    Kaffeekochen für Millionen

    Die spektakulärsten Ereignisse im World Wide Web

    Impressum

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

    Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

    E-Book ISBN: 978-3-593-40238-3

    »Das Web ist eher ein gesellschaftliches als ein technisches Produkt. Ich wollte die Zusammenarbeit erleichtern – und nicht ein technisches Spielzeug entwickeln. Das höchste Ziel des Webs ist die Unterstützung und Verbesserung einer netzartigen Lebensform. Wir schließen uns in Familien, Vereinigungen und Unternehmen zusammen. Wir entwickeln Vertrauen über Meilen hinweg und Misstrauen gegenüber Dingen, die in der Nachbarschaft geschehen. Was wir glauben, bewundern, akzeptieren und wovon wir abhängen ist im Web darstellbar und dort auch zunehmend zu finden.«

    Tim Berners-Lee

    Für mista_conni, Lucky Fragger, Felix und alle anderen Brickfilmer

    Einleitung: Die Mondlandungen des Internets

    Im Jahr 2006 wird das Internet in der uns bekannten Form des World Wide Web gerade mal fünfzehn Jahre alt. Zu früh, um wirklich schon als ausdifferenziertes Medium betrachtet zu werden, zu früh wohl auch, um neben sozialpsychologischen Nutzerstudien oder schamanistischen Beschwörungen à la Sherry Turkles Life on the Screen oder J. C. Herz’ Surfing on the Internet fundierte kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen zu erwarten. Während die technischen Ursprünge im Arpanet schon gut dokumentiert worden sind, etwa in Where Wizards Stay Up Late von Katie Hafner und Matthew Lyon, ist wohl im WWW bisher zu wenig passiert, um Paradigmen, Entwicklungslinien, Wendepunkte aufzuspüren.

    Wenn man sich andererseits die steil exponentiell erfolgende Entwicklung der Nutzerzahlen ansieht, die Schaffung völlig neuer Wirtschaftssparten, die (zeitweilige) Einrichtung eines eigenständigen Börsensegments, die politischen Initiativen zur Vernetzung der Schulen oder die drastische Umstrukturierung von Kommunikationsgewohnheiten, dann ist in diesen fünfzehn Jahren beinahe mehr geschehen, als in den ersten zweihundert Jahren nach Erfindung des Buchdrucks. Wir sind Zeugen und Teilnehmer einer Explosion, die aber, wenn überhaupt, als ein Schleichen wahrgenommen wird.

    Das ist hauptsächlich auf den transzendenten und geschichtslosen Charakter des Mediums selbst zurückzuführen. Viel stärker noch als beim Fernsehen – dessen Geschichtsschreibung erst seit ein paar Jahren systematisch erfolgt und noch nicht sehr weit fortgeschritten ist, bei dem zumindest aber auf die Magnetband-Archive und auf private Videomitschnitte zurückgegriffen werden kann – ist der Inhalt des WWW ein flüchtiger. Die allermeisten Internetseiten verschwinden, wenn ihre aktuelle Relevanz nachgelassen hat. Die Nicht-Materialität des Mediums produziert keinen Abfall, der im Laufe der Zeit dann zu historischen Artefakten und Quellen werden kann. In der Rückschau gibt es also nichts, woran man Entwicklungen festmachen kann, weshalb einem das Internet immer in seiner aktuellen Form als etwas Selbstverständliches erscheint. Die Rückschau lässt sich nicht an Konkretem festmachen, an dem man Entwicklungsstufen ablesen könnte, so dass sich keine Erzählung, keine Historie ergibt.

    Diesem Buch liegt die These zugrunde, dass das Internet wegen seiner Transzendenz und Nicht-Materialität stärker als andere Medien auf Ereignisse angewiesen war und ist, um sich als Massenkommunikationsmittel zu etablieren. Während ein Buch auch nach seinem ereignishaften Erscheinen materiell vorhanden bleibt, jenseits aller Bestsellerlistenplatzierungen, Skandale oder Feuilletondebatten, die es vielleicht mit sich brachte, während Filme immer wieder gezeigt werden können, und sei es nur in Programmkinos, im Fernsehen oder auf Video, während Zeitungen in Archiven zu historischen Quellen heranreifen, ist das Internet einfach nur oder es ist nicht. Nur in Ereignissen gewinnt es eine momentane Dinglichkeit als Gegenstand der Kommunikation an anderen Orten. Nur das Ereignis lässt aus Millionen von vereinzelten Internetnutzern plötzlich eine Öffentlichkeit werden, die auf sich selbst reflektieren kann.

    Anders formuliert: Anlässlich bestimmter Ereignisse war mir als Internetnutzer bewusst, dass ich vor meinem Bildschirm nicht meine private Kommunikation betrieb, sondern dass ich im selben Moment das tat, was Millionen anderer Menschen auch taten. So konnte ich mir sicher sein, dass ich das Medium auf die richtige Art und Weise benutzte. Die Frage, die diesem Buch voranging, lautet: Wann war das Internet also ein Massenmedium und nicht nur eine Kommunikationstechnik? Und weiter gefragt: Was war das Besondere an diesen Ereignissen, dass sie im Medium Internet geschahen, beziehungsweise was am Medium Internet ließ sie sich ereignen? Gegenstände des Buches sind also doppelte Medienereignisse. Zum einen ist es das jeweilige Geschehen, das durch das Internet dargestellt wurde, zum anderen das Internet selbst, das sich mittels dieser Ereignisse selbst ereignen konnte.

    1969 saß »die Welt« vor dem Fernseher, um die ersten Schritte Neil Armstrongs auf dem Mond live zu verfolgen. Das Miterleben dieses Moments war so bedeutsam, dass noch heute die Allermeisten wissen, wo sie sich damals befunden und mit wem zusammen sie es gesehen haben. »Die Globalisierung der Medien, die eine Medienwelt, war seitdem Realität, natürlich nicht nur durch das spezielle Ereignis verursacht, aber in der Mondlandung zum übertragbaren Symbol geworden.«

    1

    Das schreibt der Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen in einem Buch, das er Die Mondlandung des Internets genannt hat, weil ihm die politischen Ereignisse des Jahres 1998 für das Internet so bedeutsam erschienen, wie es der 20. Juli 1969 für das Fernsehen gewesen ist. Auch mein Buch hätte Die Mondlandungen des Internets heißen können, aufgrund derselben Überlegung wie jenes von Kuhlen, aber in Abgrenzung zu seinem anfechtbaren Singular. Denn es war eher so, dass der rapide Anstieg der Nutzerzahlen von wenigen Tausend 1991 auf fast eine Milliarde heute nicht stetig verlief, wie Frank Patalong auf Spiegel Online betonte. »Immer wieder gab es Ereignisse, die Massen von Menschen ins Web lockten. Und immer geschah dasselbe: Einmal dort, blieben die meisten dabei.«

    2

    Es soll in diesem Buch um solche Momente gehen, in denen Menschen vom Internet erfahren haben und sich eine Vorstellung von seinem Nutzen machen konnten. Im Untertitel heißt es, hier seien die »spektakulärsten« davon versammelt. Das ist natürlich subjektiv; die Auswahl spiegelt meine persönliche Netzsozialisation wider und ist nur bedingt repräsentativ wäre. »Spektakel« bezeichnet aber ursprünglich ein Schauspiel, das etwas ausstellt und veranschaulicht. Die Auswahl in diesem Buch ist sicherlich nicht vollständig, aber diskussionswürdig. Sie versammelt solche Spektakel, in denen massenwirksam gezeigt werden konnte, was das Internet sein kann und was dort konkret geschieht.

    Dieses Buch ist nicht der erste Versuch einer Geschichtsschreibung des Internets, es gibt schon zahlreiche und sehr gute Veröffentlichungen. Man findet sie im Buchhandel in den Regalen, die mit »Computer« beschriftet sind und Hunderte von Einführungen in das Programmieren mit C+, Java und Perl oder das Arbeiten mit Photoshop oder Office XP versammeln. Ihr Inhalt beschäftigt sich dementsprechend mit den technischen Gegebenheiten des WWW. Als Medienwissenschaftler befriedigen mich diese Darstellungen nicht. Sie wirken auf mich so, als würde man eine Filmgeschichte schreiben, in der es nur um das Prinzip des Malteserkreuz-Antriebs des Projektors und um den Aufbau der Kinosäle im Wandel der Jahrzehnte geht; oder eine Literaturgeschichte, die sich nur mit der Entwicklung der Druck- und Bindeverfahren und der Entstehung des Großhändlersystems im Buchvertrieb beschäftigt. Als hätte es keine Filme und keine literarischen Werke gegeben. Den Erfolg als Massenmedium kann das Internet aber nicht aufgrund seiner faszinierenden Technik gehabt haben. Sondern weil irgendetwas in ihm passiert ist, was die Menschen bewegt.

    Es soll also darum gehen, die Eigenheiten und die Entwicklung des Mediums zu erfassen, und zwar nicht anhand der unvermeidlichen Technikgeschichte, sondern im Sinne von Marshall McLuhan anhand der »Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die [das Medium] der Situation des Menschen bringt«.

    3

    Es soll nicht darum gehen, technische Details zu klären. Wie die Namensvergabe im Internet genau funktioniert, wie sich der Programmcode von Viren, Würmern und Trojanern im Einzelnen unterscheidet oder wie Napster genau gearbeitet hat – das alles ist nicht Gegenstand dieses Buches, weil es auch nicht Gegenstand der Medienereignisse ICANN-Wahl, I love you-Virus respektive Napster gewesen ist. Dabei haben andere, narrative, spektakuläre Aspekte eine Rolle gespielt, in denen sich die abschreckende und unverständliche Technik gewissermaßen verstecken konnte, um akzeptiert zu werden. Was Musik ist, welchen Genuss man aus ihr ziehen kann und wie viel es kostet, sie zuhause spielen zu können, wusste jeder; als mit Napster plötzlich ein simples Programm im Internet auftauchte, mit dem praktisch jedes nur erdenkliche Musikstück umsonst auf den eigenen PC befördert werden konnte, war seine Relevanz schlagartig klar. Und dass sich zudem die spannende Geschichte eines respektlosen Davids damit verband, der sich monatelang gegen den übermächtigen Goliath Unterhaltungsindustrie behaupten konnte, verlieh dem Ganzen auch noch ein attraktives Image. Was das Peer-to-Peer-Verfahren ist, können wahrscheinlich immer noch die Wenigsten – mich eingeschlossen – präzise erklären, intuitiv verstanden haben es durch Napster allerdings die Allermeisten.

    Bevor das erste Kapitel mit dem ersten Internetereignis »Trojan-Room-Coffee-Machine« beginnt, gibt es deshalb auch ein Kapitel Null, um zu verdeutlichen, wie schwer es gefallen ist, vom Internet zu erzählen, bevor es etwas gab, das man erzählen konnte – eine literaturwissenschaftliche Abschweifung, die zum Verständnis der nachfolgenden Kapitel nicht nötig ist, die aber auf andere Weise verdeutlichen soll, wie wichtig Ereignisse gewesen sind, damit sich die Öffentlichkeit ein überzeugendes Bild vom Internet machen konnte.

    Bei der Auswahl der hier versammelten Ereignisse fällt auf, dass es um 1999/2000 herum einen Kulminationspunkt gibt und danach nur noch ein paar Ereignisse beschrieben werden. Das spiegelt nicht meine eigene Nutzerhistorie wider, sondern hat mit dem Dilemma der Geschichtsschreibung zu tun, dass Gegenwärtiges nicht als historisch wahrgenommen und damit schwer eingeordnet werden kann. Man denke nur an das Urteil der literarischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, wonach Kotzebue als bedeutendster Dramatiker seiner Zeit galt, und vergleiche es mit heutigen Literaturgeschichten und Theaterspielplänen. Als historisch relevant erweist sich etwas erst, wenn es eine Historie gibt, in der es sich zeigen kann. Vielleicht wird man in zehn Jahren den Kopf darüber schütteln, dass die Machinima-Serie Red vs. Blue in diesem Buch als Ereignis gefeiert wird, andere Netzinhalte aus derselben Zeit dagegen keine Erwähnung finden, die dann längst als kulturelle Meilensteine kanonisiert sind. Vielleicht wird die Trojan-Room-Coffee-Machine in dreißig Jahren bloß noch als Kaffeekochen für Millionen wahrgenommen und nicht als signifikanter Moment in der Entwicklung des WWW. Das ist sehr wahrscheinlich. Der Fokus dieses Buchs liegt aber auf den Medienereignissen, die diese Ereignisse hervorriefen, also der Aufmerksamkeit, die sie in der zeitgenössischen Öffentlichkeit erregt haben. Es soll Beispiele für die öffentlich betriebene Erzählung vom Internet liefern; ob dadurch (hoffentlich) ein Beitrag zu einer Geschichte des Internets geleistet wird, kann erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten entschieden werden.

    Das ist auch der Grund dafür, dass hier so ausführlich auf Medienberichte Bezug genommen und so ausführlich zitiert wird. Denn nur so kommt zum Ausdruck, was die Öffentlichkeit zum damaligen Zeitpunkt anlässlich der Ereignisse vom Internet dachte und wie seine Möglichkeiten verstanden wurden. Dadurch ist es allerdings auch – stärker als ich es vorher gedacht hätte – ein Buch über Journalismus und Journalisten geworden. Es wäre eine eigene Studie und Würdigung wert, wie sich der Stand der Journalisten innerhalb weniger Jahre gegen die Entprivilegisierung durch Netzberichterstattung zur Wehr setzen musste und neu behaupten konnte. Hier wird das nur ansatzweise versucht. Bei aller Kritik an den Unzulänglichkeiten, den Eitelkeiten und den professionellen Deformationen der Journalisten, zeigt das Buch aber hoffentlich, wie groß der Beitrag ist, den, um stellvertretend zwei zu nennen, Frank Patalong von Spiegel Online oder Florian Rötzer von Telepolis geleistet haben, um dem Internet zum Durchbruch zu verhelfen.

    0. Ein verschwommenes, fragmentarisches Mandala

    Wie vom Internet geredet wurde, als es noch nichts gab

    »Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen. Und wer waren alle?«

    Bertolt Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«

    Seit 1991 gibt es das Internet. Stimmt nicht. Das Internet gibt es schon seit 1969, als die ersten Server an Universitäten in Massachusetts, Kalifornien und Utah aufgestellt, miteinander verbunden und danach kontinuierlich weiter vernetzt worden sind.

    Stimmt doch. Denn was damals das Internet war, ging nur eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Technik-Freaks etwas an, die per Telnet, Usenet, FTP oder irgendwann auch E-Mail miteinander kommunizierten und Daten austauschten. Das Internet – also das, was wir seit einigen Jahren ganz selbstverständlich in Gesprächen so bezeichnen und was in Zeitungsartikeln und Fernsehberichten genauso allumfassend verwendet wird – gibt es dagegen erst, seit Tim Berners-Lee 1991 einen neuen Bereich im Internet kreierte: das »World Wide Web«. Hier wurden nicht mehr nur schnöde Textwüsten verschickt und kryptische Dateienverzeichnisse durchwühlt, sondern hier konnten Bilder angezeigt und mit dem Text in einem sinnvollen Layout zusammen präsentiert werden. Erst so konnte das Internet auch Menschen ansprechen, deren ästhetische und kommunikative Bedürfnisse über die Präsentation von grünen, pixeligen Buchstabenkolonnen auf schwarzem Hintergrund hinausgingen.

    Die wichtigste Eigenschaft, die Berners-Lee dem World Wide Web verlieh, war die Möglichkeit, »Links« zu setzen. Mit einem »Link« wird von einer Stelle im WWW auf eine andere verwiesen, und durch einen Klick darauf gelangt man sofort dorthin. Auf diese Weise gibt es nicht nur das Netz von Servern und Telefonleitungen zwischen ihnen; über dieses physikalische legt sich ein zweites Netz der gesamten Querverbindungen zwischen allen Inhalten, die im World Wide Web zu finden sind. Das Internet meint auch dieses assoziativ und explosionsartig wuchernde Gemenge an Information, das sich aus der Verbindung von Informationen ergibt.

    Schon der vorangegangene Absatz aber klingt so blumig, dass der Erfolg des WWW verwundern muss. Wie kann etwas so viele Menschen ansprechen, über das man entweder nur technologisch-verwirrend oder idealistisch-abstrakt reden kann? Man sehe sich zum Beispiel einen Bestseller aus den neunziger Jahren über das Thema an, Sherry Turkles Leben im Netz, und frage sich, wann man dergleichen mal selbst beim Surfen erlebt hat:

    »Als User wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt zwar immer nur einem der Fenster auf Ihrem Bildschirm zu, aber in gewissem Sinne sind Sie fortwährend in allen präsent. [...] Ihre Identität am Computer ist die Summe Ihrer aufgeteilten Präsenz. [...] [I]n der alltäglichen Praxis vieler User sind Fenster zu einer starken Metapher für die Annahme geworden, dass das Selbst ein multiples, dezentriertes System ist. Das Selbst spielt nicht mehr bloß verschiedene Rollen in verschiedenen Kontexten zu verschiedenen Zeitpunkten, etwa bei einer Frau, die sich beim Aufwachen als Geliebte, bei der Zubereitung des Frühstücks als Mutter und bei der Fahrt zur Arbeit als Anwältin erlebt. Die Fenster nötigen uns vielmehr die Lebenspraxis eines dezentrierten Selbst auf, das in vielen Welten existiert und viele Rollen gleichzeitig spielt. [...] Die Erfahrung dieses Parallelismus bestärkt einen darin, das Leben ›on-screen‹ und ›off-screen‹ in erstaunlichem Maße gleich zu behandeln. Erfahrungen im Internet erweitern die metaphorische Bedeutung der Fenster – nunmehr kann RL [Real Life] selbst, wie Doug sagte, zu ›einem Fenster unter vielen‹ werden. MUDs [Multi User Dungeons] sind besonders anschauliche Beispiele dafür, wie die computervermittelte Kommunikation als ein Ort der Konstruktion und Rekonstruktion von Identität dienen kann.«

    4

    Zunächst einmal klingt das wie eine gewisse poststrukturalistische Wissenschaftsprosa, der man mehr oder weniger Erkenntnisinteresse und Erkenntnisgewinn zuschreibt. Tatsächlich fungiert Turkles Buch ja auch als sozialpsychologische Studie. Eine genauere Untersuchung der Einzelaussagen zeigt aber die große Affinität zu künstlerischen Phantasien. Die technische Apparatur übt einen Zwang auf die Benutzer aus, »nötigt« eine »Lebenspraxis« auf. Dadurch beginnen sich Körper- und Geistgrenzen aufzulösen, man kann nicht mehr zwischen »on-screen« und »off-screen« unterscheiden, weil diese Trennung für den Alltag irrelevant geworden ist. Das Raum-Zeit-Kontinuum wird aufgelöst, wenn man

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