Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Die achte Todsünde
Die achte Todsünde
Die achte Todsünde
Ebook365 pages4 hours

Die achte Todsünde

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Weihnachten steht vor der Tür. Sonja Zorn hat ihre Stelle in der Redaktion in Hamburg gekündigt und ist probeweise zu Commissario Gennaro Gentilini nach Neapel gezogen – beide haben die Nase voll vom aufreibenden Wechsel zwischen Nähe und Distanz in einer Fernbeziehung.

Doch auch zur besinnlichen Adventszeit macht das Verbrechen in Neapel keine Pause: Zwei Kinderschänder, nach kurzer Haft wieder auf freiem Fuß, werden erschossen. Ein Geschäft mit Krippenfiguren geht in Flammen auf – es gehörte der Mutter eines der fünf missbrauchten Jungen. Am Fest der Liebe stehen Sonja, Gentilini und die Kollegen aus dem Kommissariat für Sexualdelikte vor verzwickten Fragen nach Gerechtigkeit, Strafe, Selbstjustiz – und Blutrache hat in Neapel Tradition…
LanguageDeutsch
PublisherVirulent
Release dateDec 4, 2008
ISBN9783864740251
Die achte Todsünde

Read more from Barbara Krohn

Related to Die achte Todsünde

Titles in the series (4)

View More

Related ebooks

General Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Die achte Todsünde

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Die achte Todsünde - Barbara Krohn

    42

    1

    Es gab einfach alles. Die Verkaufstische draußen vor den vielen kleinen Läden zu beiden Seiten der Gasse waren beladen mit allen Köstlichkeiten, die je nach Saison auf den Märkten Neapels zu finden waren: saftige aufgeschnittene Wassermelonenhälften, Körbe voll mattglänzender Maronen, ganze Hügellandschaften aus frisch gepflückten Orangen und Zitronen, Artischocken, Zucchini, Auberginen in Hülle und Fülle, Salatköpfe, Tomaten, Bananen, Feigen und Kaktusfrüchte, Granatäpfel, Körbe mit Eiern, Schälchen mit Waldbeeren, einladende Käsesorten, Caciotta, Parmesan, Provolone in unterschiedlichen Reifegraden. Gleich daneben ein Stand mit Schinken, Mortadella, Salami und appetitlich um die Aufbauten gewundenen Wurstketten, dann wieder Platten voll hellroter Schalentiere, Langusten, Krebse und Hummer nebst flachen Schüsseln voll silberglitzernder Fische in diversen Größen und Formen, Miesmuscheln, Herzmuscheln, Taschenmuscheln, Schnecken, Calamari, Verkaufsstände für Tripa, aufgeschichtetes Weißbrot, ofenfrische Pizzen, reichverzierte Torten – was immer das Herz begehrte.

    Was aber fehlte, war der unverkennbare, derbe, zuweilen übelkeiterregende Geruch nach Meer und Salz und Fisch, auf den Märkten ein verlässlicher Vorbote der Stände der Fischverkäufer. Was nicht in der Luft lag, war das gelborange, säuerlich prickelnde Aroma der Zitrusfrüchte, der köstliche, durch nichts zu ersetzende Duft nach frisch gebackenem Brot, der beißende Rauch aus dem mit Kohlen befeuerten Öfchen, auf dem Esskastanien geröstet wurden. Eine ganze Dimension mediterranen Marktgeschehens, die dem Besucher das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ, die Lust weckte, die Waren in die Hand zu nehmen und gleich zu verspeisen, oder aber zu waschen, zu putzen, zu schneiden, zu würzen, zu braten, zu kochen, zu backen – fehlte. Ja, es gab alles: aber ohne Geruch und in Miniaturformat.

    Via San Gregorio Armeno. Die Weihnachtsgasse. Die Krippengasse. Hier wurden die neapolitanischen Weihnachtskrippen bestückt. Sonja war überwältigt. Konnte sich kaum sattsehen, während sie sich neben Livia im Schneckentempo an den Ständen entlangschob, immer wieder angerempelt wurde, sich gegen den Druck der Menschenmenge stemmte. Fülle des Südens.

    Es war Samstag, an diesem Wochenende waren Gennaros Kinder bei ihnen, gegen Mittag war überraschend Livia aufgetaucht. Sie war Gennaros älteste Freundin und seit ein paar Jahren auch Kollegin bei der Kripo, nur dass Livia Picone für die »abhandengekommene schöne Kunst« zuständig war und Gennaro Gentilini für die »aufgetauchten hässlichen Leichen«, wie sie es spaßeshalber nannten. Beim Essen hatte Gennaro vorgeschlagen, sie könnten alle fünf gemeinsam in die historische Altstadt gehen, sich in ein paar Kirchen die Weihnachtskrippen ansehen und danach durch die Via San Gregorio Armeno schlendern.

    Ein Sturm des Protests.

    »Nur über meine Leiche!« Isabella, seit einer Woche siebzehn, war mit zwei Freundinnen verabredet, der Rest der Welt ging sie nichts an.

    Giorgio, Gennaros vierzehnjähriger Sohn, hatte gemault, sein Vater habe schon seit Ewigkeiten versprochen, mit ihm zu einem Ligaspiel des SSC Napoli zu gehen. Und Sonja hatte ebenso spontan wie entgeistert gemurmelt: »Weihnachtskrippen? Wieso das denn?«

    Sollten der Rummel in den Straßen, die sich in jeder Kaffeebar stapelnden Panettone-Packungen, die batteriebetriebenen, jinglebells-quäkenden Weihnachtsmänner, die einen in der Via Roma gnadenlos in Empfang nahmen, sobald man das Gassengeflecht der Quartieri Spagnoli verließ, auch in ihrem geliebten Gennaro eine Art Vorweihnachtsmann geweckt haben? Den Romantiker, der einmal im Jahr süße Kindheitserinnerungen ins harte Kriminalerleben einließ? – lasst mich ein, ihr Kinder, ist so kalt der Winter –, wozu Weihnachten sich doch anbot, glöckchensüße Erinnerungen an in der Familie verbrachte Stunden, an Melodien von Weihnachtsliedern, deren Texte (meistens nur der Refrain und die erste Strophe) ebenso urplötzlich aus den Tiefen des Gedächtnisses auftauchten wie Fragmente aus einem der vier Evangelien – und es begab sich aber zu der Zeit ...

    »Wieso nicht?«, hatte Gennaro herausfordernd in die Runde gefragt. Isabella war mit gezücktem Handy in ihrem Zimmer verschwunden. Livia zeigte sich zu allen Schandtaten bereit, wie sie es nannte.

    Sonja, stirnrunzelnd: »Eine Ausstellung mit Dutzenden von Jesussen und ebenso vielen Marias und Josefs und noch mehr Stallgetier?«

    Gennaro, auflachend: »Was wären wir ohne unsere Vorurteile, oh nordische Geliebte aus dem Lande der Barbaren. Lass dich überraschen!«

    »Aber Papa, heute spielen sie doch gegen Pisa ...«, hatte Giorgio heftig protestiert und mit dem Fuß aufgestampft, »versprochen ist versprochen, du hast sonst sowieso nie Zeit, immer kommen irgendwelche blöden Leichen dazwischen, aber heute ...«

    Dagegen ließ sich nichts einwenden. Zu oft waren Wochenendunternehmungen in letzter Sekunde vereitelt worden, weil ein Anruf aus der Questura kam und Commissario Gennaro Gentilini dringend am Tatort gebraucht wurde. Auch Sonja und Livia fanden, dass Vater und Sohn unter den ausnahmsweise einmal günstigen Umständen ins Stadion gehörten. Gennaro, der kein Fußballfan war und Menschenmassen hasste, musste sich geschlagen geben, unterfütterte diese Schlappe aber mit einem längeren Monolog darüber, wie anders das alles früher gewesen war: als er noch ein Junge war, da hätte er wer-weiß-was dafür gegeben, mit den Eltern über den Weihnachtsmarkt zu schlendern, den ganzen November hätten er und seine Brüder sich darauf gefreut, etceterapepe. Blieben nur Sonja und Livia übrig.

    Als die beiden Männer aus dem Haus waren, hatte Livia gesagt: »Beschreib mir deine Krippe.«

    »Wieso meine?«

    »Wie sieht sie aus, was ist drin?«

    »In meinem Kopf?«

    »In deinem Kopf, in deiner Krippe.«

    Vor Sonjas innerem Auge nahm ein Stall Gestalt an, aus Holz und strohgedeckt, darin Maria, Joseph, Ochs und Esel und in der Krippe das Jesuskind, zusätzlich ein paar Schafe, ein, zwei Hirten, eventuell auch, zwecks kirchenkalenderlichem Zeitraffer, die Weisen aus dem Morgenland.

    »Mehr nicht?« Livia wirkte enttäuscht, beinahe empört.

    »Mehr nicht. Das heißt, eigentlich ...«

    Als Sonja mit siebzehn zu Hause auszog, hatte sie geglaubt, der Weihnachtsrummel liege für immer hinter ihr. Ihretwegen sollte keine Tanne dran glauben müssen, sie würde nie wieder im Leben eine einzige Weihnachtskugel kaufen, Engel, Lametta, das ganze Glitzerzeug, womöglich auch noch Krippenfiguren, im Brustton der Überzeugung: Nie! Aber als Luzie auf die Welt kam und zwei oder drei Jahre alt war, hatte Oma Hilde ungefragt die Krippe wieder eingeführt, guck mal, Luzielein, was für schöne Püppchen, und Luzies Kinderhand hatte nach dem Schaf gegrabscht und ihr Mund hatte sssaaf gesagt und ihre Augen hatten gestrahlt, und seither gehörte die Weihnachtskrippe wieder dazu. Und mit ihr der Baum, denn eine Krippe gehörte unter einen Baum, und ein Baum war ohne Ausstattung langweilig und ungeschminkt. Und alle Supermärkte, Baumärkte, Kaufhäuser überboten sich in Farbe und Glitzer, wie sollte ein Kind da widerstehen können? Irgendwann hatte Luzie die Krippenlandschaft mit Gummitieren bestückt: Elefanten, Löwen, Kamelen, Zebras, Kängurus, Affen sowie jede Menge Pferde und Hunde und Katzen marschierten auf den Stall zu, drängten sich um die Krippe, hockten auf dem Dach, Wolf und Schaf, Tiger und Antilope, Seite an Seite als Demonstration des Weltfriedens, Arche Noah meets Bethlehem. In einer dritten Phase waren die Bewohner der Luft dazugestoßen, blaue, rote, grüne, mit Silber-oder Goldglitzer verzierte, kleine, mittlere, große Vögel, kunstvoll in hauchdünnes Glas geblasen und prächtig herausgeputzt mit goldenen oder silbernen Schnäbeln und bunt gefiederter Schwanzpracht, die auf den Zweigen hockten.

    Die Vögel waren geblieben, der jährliche Nadelbaum ebenfalls, Oma Hildes solide Krippe aber wurde in den Keller abgeschoben.

    Livia hatte nachsichtig gelächelt. »0 presebbio ...«

    Die Krippe – sie hatte das Wort fast wehmütig in den Mund genommen, gedreht und gewendet – il presepe napoletano war ein ganzer Kosmos für sich.

    Jede Familie hat zu Hause ihre eigene Krippenlandschaft. Anfang Dezember wird sie aufgestellt und immer wieder umgebaut und erweitert. Nicht Bethlehem ist der Mittelpunkt der Welt, sondern Neapel. Mit all seinen Schätzen und all seinen Widersprüchen.«

    »Gennaro hat keine.«

    »Die Familienkrippe wird bei der Scheidung in Rosarias Besitztum übergegangen sein.«

    »Und du?«

    »Ich habe auch keine. Ich lebe ja allein. Aber meine Familie, meine Eltern, meine Geschwister mit ihren Kindern, sie haben alle eine riesige Krippe.«

    Livia war ins Schwärmen geraten: über weite Landschaften aus Pappmache, Pappe, Kork mit Dutzenden, ja Hunderten von Figuren aus dem neapolitanischen Alltag, Pizzabäcker mit in den Fels gebauten Öfen, Weinhändler, Bettler, Fischer, Konditoren, Kartenspieler, Musikanten, Pulcinellas, Mägde, Hirten mit Schafen über den Schultern. Zu den historischen Figuren kamen jedes Jahr neue hinzu, Politiker wie Berlusconi, Bush, sogar Osama bin Laden, bekannte Sportler, Filmstars. Im Jahr zuvor hatten zwanzig neapolitanische Konditoren gemeinsam eine riesige Weihnachtskrippe aus Schokolade hergestellt.

    »Die größte Schokokrippe der Welt. Aus drei Tonnen Schokolade!« Sie fuhr fort: »In der Via San Gregorio Armeno sind die besten Krippenbauer der Stadt, ihre Läden und Werkstätten, dort gibt es alles, was das Herz begehrt. Das musst du dir unbedingt ansehen, Sonja, das sind ganz andere Dimensionen als die Krippen, die du kennst. Ich wette, du wirst begeistert sein!«

    Ja, Sonja war tatsächlich begeistert. Was für eine Vielfalt! Was für eine Fülle! In der Krippengasse war die Hölle los. Einheimische und Touristen drängelten und schoben sich an den Verkaufstischen und Vitrinen vorbei, aus denen dicht an dicht Abertausende tongewordener Figuren jeden Standes und Berufs zurückstarrten, unbeeindruckt, farbenfroh, lackiert, unlackiert, fein gearbeitet, Massenware. Die Gasse war überfüllt, in jeder Hinsicht. Es roch nach Schweiß in diversen Ablagerungsgraden, nach After Shave und Parfüm, menschlichen Ausdünstungen. Nach Zigarettenrauch, Abgasen, muffigen Winterjacken. Nach einem viel zu warmen Dezember.

    Achtzehn Grad, Sonja schwitzte selbst in ihrer leichten Lederjacke. Sie fühlte sich in diesem Moment deutlich stärker zu den plätschernden Miniaturbrunnen hingezogen als zu den mit roten Lämpchen künstlich lodernden Pizzaöfen.

    Sie zog Livia zu einem Stand, an dem Brunnen in verschiedenen Varianten feilgeboten wurden: von der stilecht nachgebauten barocken Felsenkaskade von der Größe eines mittelgroßen Playmobil-Drachenfelsens bis hin zu Mini-Brunnen in Zigarettenschachtelformat. Sie nahm einen mittelgroßen Brunnen in die Hand und begutachtete ihn. Aus einem Miniaturrohr, das aus einer grüngrauen Mauer hervorragte, floss ein Strahl Wasser über zwei Stufen in ein kleines, hellblau ausgemaltes Becken. Das Wasser wurde mithilfe einer Pumpe zurückgeleitet.

    »Solo dieci Euro, Signora«, sagte eine heisere Männerstimme. »Quasi niente.«

    Zehn Euro waren zehn Euro. Das konnte viel oder wenig sein. Wenn der Brunnen funktionierte, kein schlechter Preis, dachte Sonja. Und wenn er nicht funktionierte ...

    »Funziona, Signora, e come!«, sagte der Verkäufer, als habe er ihren Gedanken gelesen. »Sehen Sie!«

    Der Verkäufer, ein Mann mittleren Alters in einem Trainingsanzug und mit Zehntagebart, griff nach einem Monstrum von Mehrfachsteckdose, fummelte einen der darin befindlichen acht bis zehn Stecker heraus, erwischte den falschen, fluchte, porcamiseria, probierte es mit einem anderen, fluchte, managgia, wollte nach einem dritten greifen, als hinter seinem Rücken eine kleine Hand auftauchte, die geschickt und zielsicher den zweiten Stecker von rechts herauszog, was zum Teufel?! – die Pumpe im Brunnen hörte auf zu arbeiten, der Brunnen versiegte ... Ecco

    »Sehen Sie, Signora, ganz einfach, Sie ziehen den Stecker, der Brunnen stoppt, Sie tun den Stecker rein, der Brunnen läuft wieder. So einfach ist das.« Er breitete die Arme aus, lachte. »Das Leben ist einfach. Vero? Stimmt’s?«

    »Schön wär’s«, sagte Livia.

    Das Kind, dem das Einfache gelungen war, nämlich den richtigen Stecker zu finden, war ein etwa zehnjähriger Junge, den der Mann jetzt in die Backe zwickte.

    »Ihr Sohn?«, fragte Sonja.

    »Mein Neffe.«

    Der Junge entwand sich und kauerte sich am Eingang des Ladens auf einen Hocker. Er trug ein gefälschtes Markentrikot des SSC Neapel und wie sein Onkel eine Trainingshose. Neben ihm stand ein Transistorradio, das den Strom aus derselben Steckdose bezog. Während er die Sportübertragung hörte, behielt er das Geschehen in der Menge aufmerksam im Blick.

    »Wie sieht’s aus, gewinnen wir heute?«, fragte Livia.

    Er sah zu ihr hoch, reckte das Kinn. »E come! Aber klar!«

    »Wie steht’s denn?«

    »Eins eins. Aber das wird noch.«

    »Warum bist du nicht im Stadion?« Er legte den Kopf schief. »Ich muss im Laden helfen. Nächstes Mal.«

    Sein Onkel legte ihm die Hand auf den Kopf. »Im Januar gehen wir zusammen hin, du und ich. Abgemacht?«

    Im vorsichtigen Lächeln des Jungen mischten sich Hoffnung und Skepsis. Als eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm sich mit dem suchenden Blick der potentiellen Käuferin näherte, sprang er auf.

    Sonja stellte sich bereits plastisch vor, wie der Brunnen in Gentilinis Wohnung auf dem kleinen Tisch am Fenster stand und den ganzen Tag lang munter vor sich hinplätscherte. Ein Zimmerspringbrunnen auf Neapolitanisch. Nachts könnten sie ihn neben dem Bett installieren und sich einbilden, sie lägen unter dem Sternenhimmel im Moos, gleich neben einer Quelle. Hauptsache, der Brunnen funktionierte auch zu Hause und war nicht undicht.

    »Eine gute Wahl!«, setzte der Mann nach. »Seien wir ehrlich, das Leben ist einfach, es sind die Menschen, die es kompliziert machen.«

    Livia puffte ihr mit dem Ellbogen leicht in die Seite.

    Sonja sah sie fragend an.

    »Sechs«, zischte Livia. »Sag sechs Euro.«

    Der Mann hatte sie gehört und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Er zog den Stecker aus dem Brunnen, der augenblicklich verstummte. »Soll ich Ihnen verraten, wie viele von diesen Brunnen ich heute schon verkauft habe? Über ein Dutzend. Dies hier ist das letzte Exemplar, Signora. Aber sechs Euro ... Niente!« Eine wegwerfende Handbewegung.

    Livia zog Sonja einen Meter von dem Stand weg.

    »Ich gebe Ihnen auf diesen Brunnen eine Garantie«, rief der Mann hinterher, als würde er ihr die Bank von Neapel zum Geschenk machen.

    Sie blieben stehen, drehten sich um.

    »Wenn der Brunnen nicht läuft, bringen Sie ihn zurück und Sie bekommen einen anderen. Ganz einfach.« Er legte die Hand auf die linke Brust: »Wir verkaufen nur beste Qualität, Signora. Zu zehn Euro. Festpreis. Mit Garantie. Ist das ein Wort?«

    Sonja griff in die Vordertasche ihrer Jeans und zählte ein paar Geldstücke ab. »Ich biete neun.«

    Der Verkäufer schnalzte wie bedauernd mit der Zunge, ließ sich aber auf den Handel ein. »Siete duri, voi tedeschi. Duri e furbi. Hart und schlau seid ihr Deutschen.«

    Sonja lächelte verschmitzt. »Was das Handeln angeht, bin ich in Neapel in die Lehre gegangen.«

    Mit einem unhandlichen Paket unter dem Arm schoben Sonja und Livia sich weiter die Gasse hinauf in Richtung der Kirche San Lorenzo Maggiore. Alle paar Schritte blieben sie stehen, betraten einen Laden, sahen sich unter den hoffnungsvoll-misstrauischen Blicken der Verkäufer die angebotenen Krippenfiguren an, die minutiös gestalteten Gesichter, Frisuren, Kleider der Frauen, die Männer mit weißer Kochmütze, Kniebundhosen, Schürze, schlank, wohlbeleibt, ärmlich, reich, die Marktstände voller Käse-, Wurst-, Fisch-, Gemüsesorten. In einer Vitrine stand die Prominenz: Monica Lewinsky und Bill Clinton, Berlusconi, Madonna, Maradona, der Papst. Sonja gefielen die traditionellen Figuren besser. Sie erkundigte sich nach den Preisen. Manche Figurengruppen wurden spottbillig angeboten, andere waren sehr teuer. Diese Farben, diese Vielfalt. Sonja sah keine Unterschiede mehr. Es war wie bei einem IKEA-Besuch an einem Samstag: zu bunt, zu voll, zu warm, zu viel.

    Sie kamen mit einer Ladenbesitzerin ins Gespräch, deren Schwester in Berlin lebte. Die Frau war etwas jünger als Sonja. Sie wirkte herzlich. Sie schien nicht nur am Geschäft interessiert zu sein. Die Figuren in dem Laden hatten etwas Eigenes, Besonderes. Auf den ersten Blick war klar, dass es sich hier nicht um Massenware handelte. In dem Gespräch, das sich entspann, stellte sich heraus, dass Caterina, so hieß die Frau, ursprünglich Kunstgeschichte studiert hatte, worauf Livia sagte, sie sei eigentlich Malerin. Sie hielten sich noch eine Weile in dem Laden auf, plauderten über dies und das, schließlich kaufte Sonja einen Taralli-Verkäufer mitsamt seinem Stand. Ohne zu handeln. Und erhielt trotzdem zwanzig Prozent Preisnachlass.

    Als Sonja und Livia nach einigen weiteren Pausen und Begutachtungen endlich die Piazza San Lorenzo erreicht hatten, war vom unteren Ende der Gasse her Tumult zu hören, Rufe, Schreie. Sie blieben stehen.

    »Was ist da los?«

    Beide lauschten. Der neapolitanische Dialekt war eine Art gutturaler Rufgesang, der in der Luft lag wie das Knattern der Zweiräder, das Röhren der Espressomaschinen. Sonja verstand nach wie vor nur Bruchteile dessen, was die Leute sagten.

    Livia zuckte die Achseln. »Anscheinend ein Raubüberfall.«

    »Am helllichten Tag?«

    Sonja fror plötzlich. Diese verfluchte Stadt mit ihrer nicht endenden Gewalt, dachte sie. Livia zog sie weiter. »Das geht uns nichts an.«

    2

    Die Sache war sonnenklar: Das Opfer war ein Schwein gewesen. Gennaro Gentilini starrte durch die verdreckte Fensterscheibe auf einen Streifen Hafen, Meer, Großstadt. Die Wintersonne hatte das Gebäude vom Südwesten aus im Visier und knallte unbarmherzig auf alles, was sich bewegte – und was sich nicht bewegte. Wie um die letzte Munition loszuwerden. Zu warm, viel zu warm, dieser Dezember. Wenn der Kalender Winter proklamierte und das Klima sich einen Teufel drum scherte. Die Zeitungen hatten ein neues Lieblingsthema entdeckt, die Klimakatastrophe. Ob Katastrophe oder nicht – Kopfschmerzwetter war es allemal.

    Der Commissario spürte in sich eine große Müdigkeit. Sie saß in den Gliedern, in den Poren, in den Adern, im Hirn, sie hatte sich eingenistet im Zentrum des logischen Denkens, drückte schwer auf die Augenlider und vor allem auf die Motivation, etwas zu tun. Irgendetwas. Etwas zu tun gab es immer. Sein Arbeitstag bestand schließlich aus Nachdenken und Kombinieren.

    Wozu? Das Schwein war tot. Sollte Gentilini dessen Mörder jagen? Porcamiseria ...

    Er legte den Kopf in die Hände. Der Kopf war schwer. Er stellte sich Sonjas Hände vor, die ihm diesen schweren Kopf abnahmen und in ihren Schoß betteten, und sie nahm ihm nicht nur den Kopf ab, sondern auch alles Schwere, das sich darin befand, schwarzen Gedankenfilz, bösartige Informationsknäuel, zu Verdruss geronnene Wut. Mit ihren kühlen Fingern begann Sonja seine Kopfhaut zu massieren, Punkte zu setzen: Grüppchen von Fingerkuppen wie Blütenblätter, immer fünf auf einmal, ein schönes Muster, ein Pünktchenmuster hoch oben, wo er, Gentilini, ein Ende hatte, gleich unter dem Himmel. Die Melodie von Polkadots and Moonbeams fiel ihm ein und verflog gleich wieder, denn mit jeder Berührung der Finger wurde sein Kopf leerer und leichter, bis Gennaro das Gefühl hatte, gar keinen mehr zu besitzen – der kopflose Commissario Gentilini: das war dann meistens der Moment, an dem er jäh zusammenzuckte, sich mit einem Ruck aus Sonjas Händen löste. Basta, Schluss mit der Entspannung.

    Wo waren wir stehengeblieben?

    Piscitelli, die Sau.

    Gennaro, verdammt, wie redest du? Bei deinen Kindern würdest du dir diese Ausdrucksweise verbieten. Einen Euro in die Kasse für unflätige Flüche, Sprüche und Beschimpfungen! Die cassa bestemmia e parolacce war in einer Phase entstanden, als Giorgio kopfüber in die Untiefen der Pubertät abgetaucht war, um mit einem Riesenvorrat an Schimpfwörtern und Diffamierungen wieder aufzutauchen, mit dem er hauptsächlich die ältere Schwester traktierte, die sich, was das betraf, als unanfechtbar ebenbürtig erwies. An den Wochenenden, die Giorgio und Isabella bei ihrem Vater verbrachten, hatte die Kasse sich zunächst recht schnell gefüllt. Mit der Zeit aber begann es den beiden dann doch um jeden vom Taschengeld fehlenden Euro leid zu tun. Mittlerweile stagnierten die Einnahmen, man kam offenbar auch ohne Dauerunflätigkeiten zurecht. Sollte diese Unsitte womöglich in umgekehrter Erblinie auf den Vater übergegangen sein?

    Cazzate. Der Commissario rieb sich die Stirn, gab sich einen Ruck, griff zum Hörer, wählte eine kurze Nummer.

    »Hier Gentilini. Hör mal, ich hab deinen Bericht bekommen, ja, üble Sache, so ein A ... – Du sagst es. – Ja, das sollten wir. Magst du raufkommen oder ich runter zu dir? – Va bene. Caffè? Fra dieci minuti? Daccordociao.«

    Er wählte ein zweites Mal.

    »Hier Gentilini, das Übliche, aber doppelt – Wie? –Non ho capito, wie doppelt? – Na, zweifach eben. – Nein, nicht nur ein doppelter Espresso, sondern zwei. – Nein, nicht zwei normale, zwei doppelte, ci siamo, eh? Si, vierter Stock, esatto, grazieciao.«

    Wie schwer es doch manchmal war, sich über einfachste Dinge zu verständigen.

    Er stand auf, reckte sich, ging zum Waschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Frisch werden, hieß die Devise. Noch hielten die Kopfschmerzen sich in Grenzen.

    Sein Kollege Stefano hatte gegen halb zwei die Segel gestrichen, nachdem er sich mit mehreren Aspirin über den Vormittag geschleppt hatte. Und das wollte etwas heißen, wenn Stefano Di Maio die vergleichsweise Windstille im Polizeipräsidium gegen das Tosen und Toben des familiären Wirbelsturms eintauschte, den fünf Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren unablässig anfachten. Und ab März gab es Verstärkung durch ein weiteres Kind, das konnte heiter werden.

    Gut, dass Stefano schon weg war. So hatte er nicht mehr mitbekommen, was für einen Bericht Armando Nocera aus dem Dezernat für Sexualdelikte ihnen raufgeschickt hatte. Mit ein paar neuen Informationen zum Mord an Ernesto Piscitelli. Mannomann. Wenn Stefano diesen Dreck gelesen hätte, wäre er rot angelaufen, hätte getobt und rumgeschrien, dass man es den ganzen Flur hinunter gehört hätte, bis zu den Fahrstühlen, in jedem Zimmer, und die Kollegen hätten ein paar Witze gerissen – »o pateterno« explodiert, Leute, bleibt in Deckung, das Außenministerium erlässt dringende Reisewarnung in die Hoheitsgebiete der Ermittler Di Maio und Gentilini. Hoffentlich zerreißt es ihn nicht eines Tages ...«

    Dass Stefano der Kragen platzte, passierte nicht oft, ein oder zweimal im Jahr, und nie grundlos. Stefano war kein Choleriker, sondern ein gutmütiger Mensch, ein kinderliebender Familienvater, aber was zuviel war, war zuviel.

    Auch Gentilini war wütend, sehr sogar, aber seine Wut lähmte ihn heute eher. Sie kroch ihm in die Glieder, setzte sich dort fest, schnürte ihm die Zufuhr an Vitalität ab und verbündete sich mit seiner Müdigkeit. Übrig blieben dann nur noch hilflose Verwünschungen. ’A vita storta te porta ’a morte. Wer Gewalt sät, wird Tod ernten.

    Bis vor gut zwei Jahren war Ernesto Piscitelli ein unbescholtener Mann gewesen. Zumindest hatte er keine Vorstrafen gehabt. Keine Körperverletzung, kein Verkehrsdelikt, jedenfalls nichts, was aktenkundig geworden war. Was nichts heißen musste. In dieser Stadt fand vieles niemals den Weg in eine Polizeiakte. Jeder konnte Dreck am Stecken haben, wirklich jeder. Piscitelli hatte vor vier Jahren eine Videothek im Centro Storico eröffnet. Wie in den meisten Videotheken gab es einen Eingang für den Normalverbraucher und einen zweiten für Leute über achtzehn, die es in die Horror-Gewalt-Porno-Ecke zog. Alles nach Vorschrift. Keine Auffälligkeiten.

    Piscitellis letztes Stündlein hatte am Sonntagnachmittag geschlagen – und Gentilini aus seinem wohlverdienten Familienwochenende herausgerissen. Er war zum Tatort in die Via Duomo gefahren, hatte die Ermittlungen aufgenommen. Ein einziger Schuss durchs Fenster. Die Videothek hatte mehrere Hinterzimmer. Eins davon war ein kleiner Büroraum mit vergittertem Fenster, Tresor, Schreibtisch, Computer, Aktenschränken, einem Kalender der Salumeria Sannazzaro. Piscitelli war offenbar nicht allein gewesen. Er hatte kurz zuvor Besuch gehabt. Der schon wieder gegangen war, als der Schuss fiel. Oder auch nicht. Auf dem Tisch standen außer einem randvollen Aschenbecher zwei halbvolle Sektgläser und eine fast leere Flasche Spumante. Vielleicht hatte der Videothekenbesitzer seine Haftentlassung gefeiert.

    Denn vor gut zwei Jahren war Piscitelli verhaftet worden.

    Neben dem Büro lagen zwei weitere Räume. Einer davon wurde als Lager benutzt. Der zweite privat. Das stand alles in Noceras Akte.

    Privat hieß, mit Dämmplatten verkleidete Wände, mit weichen Teppichen ausgelegter Boden. Privat hieß, ein überdimensioniertes Bett und ein riesiger Bildschirm mitsamt DVD-Gerät.

    Privat hieß, laut Piscitellis damaliger Aussage, er habe den Raum untervermietet. An gute Bekannte. Das sei sein gutes Recht. Ein Zimmer in einem Laden, der ihm gehört, unterzuvermieten. An einen Kunden, der ihm gutes Geld dafür bezahle.

    Privat hieß, wie sich herausstellte, dort gingen Männer ein und aus. – Dagegen sei ja wohl nichts einzuwenden, seit wann sei es in diesem Lande strafbar, dass Männer sich privat in einem Hinterzimmer trafen. Um Karten zu spielen. Bei einem Glas Wein. Nicht einmal verbotene Glücksspiele. Na also.

    Auf dem Bett?

    Privat hieß, dort seine Ruhe zu haben. Sich in aller Ruhe einen Film reinzuziehen. – Das sei ja wohl nicht verboten. Ohne dass die Frauen einen störten. Oder die Kinder mit ihrem Geschrei.

    Die Kinder? Piscitelli hatte gar keine Kinder. Er war nicht einmal verheiratet. Anders als einige der Männer, die sich dort vergnügten.

    Privat hieß, die Männer brachten Jungens mit. Ragazzi. Scugnizzi. Scuola elementare, Grundschulalter. – Woher hätte er bitteschön wissen sollen, dass das nicht die Söhne, Neffen, Enkel dieser Männer waren? Er könne seine Augen doch wirklich nicht überall haben, hatte Piscitelli sich zu rechtfertigen versucht, zumal in einer Videothek ...

    Er war in Untersuchungshaft gelandet, ebenso wie die Männer, die fünf Jungen aus der Nachbarschaft im Alter zwischen sieben und neun Jahren über Wochen hinweg sexuell missbraucht hatten. Im Hinterzimmer einer Videothek mitten in der historischen Altstadt von Neapel, keine hundert Meter vom Dom entfernt. Und letzten Donnerstag waren sie alle aus der Haft entlassen worden. Nicht etwa, weil sich nachträglich ihre Unschuld erwiesen hätte, sondern weil die Fristen der Untersuchungshaft wieder einmal abgelaufen waren, was schon so manchem Mafioso und manchem Mörder die Freiheit beschert hatte.

    Gentilini erinnerte sich nur sehr undeutlich an diesen Fall, der laut dem Presseüberblick, den Armando beigelegt hatte, vor

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1