Die ersten drei Jahre des Kindes: Erwerb des aufrechten Ganges, Erlernen der Muttersprache, Erwachen des Denkens.
By Karl König and Georg Soldner
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Karl König
Karl König, geboren am 25. September 1902 in Wien, gestorben am 27. März 1966 am Bodensee, studierte Medizin in Wien, begegnete 1921 der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners und war in der anthroposophischen Heilpädagogik tätig. 1938 emigrierte er und baute im schottischen Exil die Camphill-Gemeinschaft auf, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine internationale Ausbreitung erfuhr. Karl König war zeitlebens als Arzt und Heilpädagoge tätig und verfügte über zahlreiche schöpferische Begabungen. Er war einer der kreativsten, spirituell fortgeschrittensten und eigenständigsten Schüler Rudolf Steiners.
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Die ersten drei Jahre des Kindes - Karl König
KARL KÖNIG
DIE ERSTEN
DREI JAHRE
DES KINDES
Erwerb des aufrechten Ganges
Erlernen der Muttersprache
Erwachen des Denkens
VERLAG FREIES GEISTESLEBEN
Inhalt
Vorwort von Georg Soldner
Vorwort zur 1. Auflage von Karl König
Einleitung
Der Erwerb des aufrechten Ganges
Allgemeine Charakteristik der Bewegungsvorgänge
Herausbildung des menschlichen Ganges
Trennung zwischen Selbst und Welt
Erbmotorik und Erwerbmotorik
Der Jahreslauf und die Stufen des aufrechten Ganges
Das Erlernen der Muttersprache
Die Sprache als Ausdruck, als Namengeben und als Sprechen
Die Gliederung des Sprachorganismus
Sagen, Nennen, Reden
Die Stufen der Sprachentfaltung
Die Dreigliederung des Sprachprozesses
Das Erwachen des Denkens
Die Voraussetzungen für das Erwachen des Denkens
Das Denken im Menschen
Erste Voraussetzungen für das Denken
Merken, Besinnen, Erinnern
Die kindliche Fantasie
Die frühesten Denkleistungen des Kindes
Die Erweckung des Ichs
Die erste Trotzperiode des Kindes
Die Entfaltung der drei höchsten Sinne
Über den Wort- und Denk-Sinn
Die schrittweise Ausbildung des Wort-Sinnes oder: Das Erwachen des Wort-Sinnes beim Kind
Helen Kellers Weltenaugenblick
Das physische Organ des Wort-Sinnes
Der Ich-Sinn
Anmerkungen
Literatur
Über den Autor
Impressum
Leseprobe
Newsletter
Vorwort
Sechzig Jahre nach der Erstausgabe erscheint der vielfach aufgelegte Klassiker Die ersten drei Jahre des Kindes von Karl König in neuer Auflage. Für ein Werk dieser Thematik ist allein diese Tatsache bereits sehr ungewöhnlich und spricht für eine außerordentliche geistige Leistung des Autors. Denn Schwangerschaft und frühe Kindheit sind seit 1957 immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt, unser Verständnis dieser biografischen Epoche ist dadurch sehr bereichert worden und gewachsen. Auf der anderen Seite haben die Fortschritte in der medizinischen Technik, zum Beispiel in der Diagnostik des Ungeborenen, die fortschreitende Industrialisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche die frühe Kindheit nachhaltig verändert. Was hat uns König heute, im 21. Jahrhundert, noch zu sagen? Warum lohnt es sich auch heute noch, seine Darstellung der ersten drei Lebensjahre des Kindes zu lesen?
Karl König, Arzt und Heilpädagoge, Gründer vorbildlicher Einrichtungen während der
NS-Zeit
für Menschen mit Entwicklungsstörungen und besonderen Bedürfnissen in Großbritannien, gelingt es, einen Überblick über die ersten drei Lebensjahre zu vermitteln, der sehr tragfähig, der für viele verständlich ist und zugleich offen bleibt für den Wandel, der mit den wachsenden Einsichten in die frühkindliche Entwicklung verbunden ist. König vermittelt sehr nachvollziehbar einen Einblick in die wesentlichen Entwicklungsschritte des Kindes. Schritte, die für die menschliche Entwicklung spezifisch sind, die wir nicht mit «Bruder Tier» teilen – ein Begriff, der ebenfalls auf ihn zurückgeht. Er schildert nicht «Meilensteine» des «Normalen», die man rasch wieder vergisst und nachlesen muss, sondern charakterisiert eine dreigegliederte Aufeinanderfolge, in der sich der Mensch als Mensch zu enthüllen, zu zeigen beginnt: Im Erwerb des aufrechten Gangs, im Erlernen der Muttersprache und im Erwachen des Denkens. In jedem der drei Jahre steht einer dieser Schritte im Vordergrund, jeder dieser Schritte beansprucht in etwa ein Jahr. Jeder dieser Schritte ist an die Anwesenheit anderer Menschen gebunden, an deren Gegenwart und Vorbild gerade die spezifisch menschliche Entwicklung erwacht. Und jede dieser Qualitäten: Aufrechte, Sprache, Denken charakterisiert den Menschen lebenslang.
Bereits der erste Schritt, die Aufrichte, bedeutet eine Transformation, eine durchgreifend andere Orientierung im Vergleich zur tierischen Bewegungsorganisation. Der Mensch balanciert zwischen Ferse und Ballen seiner Füße und nicht auf vier Beinen. So charakterisiert schon den menschlichen Fuß eine einzigartige Gestalt; mit der Ferse, die auf dem Boden aufsetzt, dem Fußgewölbe, über dem wir balancieren, und indem wir uns dieser Qualitäten bewusst werden, gewinnen wir zur ganzen menschlichen Gestalt eine andere Beziehung. Und achten als Eltern und Erzieher vielleicht anders darauf, wie sich ein Kind aufrichtet – und wie wir selbst in der Aufrechten leben, denn an unserem Vorbild orientiert sich das Kind. König stellt die Frage, ob der Erwerb der Aufrechtheit nicht noch viel weitergehende Bedeutung hat. Etwa auf die Balancierung des Gefühlslebens, die Kindern mit gestörter Aufrichte und Regulation der Bewegung (z. B. Athetose) nicht so leicht gelingt. Kein Zweifel, Karl König geht in seiner Darlegung der Entwicklungsepochen des Kindes manchmal sehr weit, wenn er bei Fehlen der Aufrichte sich beispielsweise zur Regulationsfähigkeit von Gefühlen und Stimmungen generell skeptisch äußert. Aber er macht darauf aufmerksam, wie sehr leibliche, seelische und geistige Aspekte miteinander in Verbindung stehen und sich wechselseitig beeinflussen. Etwa in welchem Maß ein Kind mit spastischer Lähmung (oft nach Geburtstrauma, frühkindlicher Hirnblutung etc.) seinen Sinneseindrücken ausgeliefert ist und sich ihrer manchmal kaum erwehren kann. All das ist in hohem Maße praxisrelevant und heute noch so aktuell wie vor sechzig Jahren.
Der Leser wird nicht von einer Fülle von Fakten erdrückt, sondern erfährt vor allem Orientierung: Worauf kommt es in welcher Entwicklungsphase des Kleinkindes an? Dabei entwickelt Karl König noch wenig den Bindungsaspekt, der heute – durchaus zu Recht – sehr in den Mittelpunkt gerückt ist, in einer Zeit, in der die Eltern-Kind-Bindung oft sehr fragil geworden ist. Der Aspekt, der in diesem Buch im Vordergrund steht, ist die kindliche Entwicklung zur Autonomie, die am deutlichsten im eigenständigen Denken lebt, und zur aktiven Beziehungsfähigkeit des Kindes, die die Sprache ermöglicht: «Denn der Erwerb der Aufrechtheit brachte die Trennung zwischen Welt und Selbst zustande. Durch das Geschenk der Sprache erobert sich das Selbst als Person die Welt zurück.»
Die Sprache verwandelt und prägt nicht nur das Atmungssystem, sondern den ganzen menschlichen Organismus so, «dass der Mensch auf der gegenwärtigen Stufe gleichsam eine weitere Ausführung seiner Sprachwerkzeuge ist» (Steiner 1984, S. 24). So wird ab dem sprachfähigen Alter von zweieinhalb Jahren das Wachstum der Zwischenkieferregion eingestellt (ganz im Gegensatz etwa zur Schnauze des Hundes, aber auch noch im Gegensatz zum Primaten) – eine wesentliche und für den Menschen spezifische Voraussetzung dafür, dass die menschliche Sprachfähigkeit sich über die ganze Biografie hinweg auf die anatomischen Voraussetzungen stützen kann, wie sie sich im Alter des Spracherwerbs ausgebildet haben. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die entscheidende Entdeckung hier von einem großen Dichter – und großen Anatomen – gemacht wurde, Johann Wolfgang von Goethe, der nicht nur Dichter war, sondern als Schüler des damals in Deutschland bedeutendsten Anatomen, Justus Christian Loder, an embryonalen Präparaten den Zwischenkiefer des Menschen entdeckte, der im Zuge des Spracherwerbs «nahtlos» in den Oberkiefer eingegliedert wird.
König entwickelt sehr überzeugend eine Dreigliederung der Sprache, als emotional-animalischer Ausdruck, als Fähigkeit, alle Dinge der Welt zu benennen und schließlich als Möglichkeit, im Dialog den anderen zu verstehen und sich selbst zu begegnen, sich selbst auszusprechen. Und er stellt dem eine entsprechende leibliche Dreigliederung zur Seite, etwa in der Beziehung des Benennens im Substantiv (Hauptwort) zum Kopf, der Beziehung des dialogischen Prinzips zur atmenden Mitte, der die qualitative Charakterisierung durch Adjektive entspricht, und der Beziehung des emotions- und willensgeprägten Aspekts der Sprache zu den Gliedmaßen, dem die Tätigkeitswörter, die Verben entsprechen. – Insgesamt bildet die Sprache die Mitte zwischen der Aufrichtung, einem ganz willensmäßigen, nahezu unbewussten Akt, und dem Einsetzen eigenen Denkens im kindlichen Bewusstsein. Karl König schildert sehr anschaulich und luzide die Sprachentwicklung vom kindlichen Lallen bis hin zum ausgebauten Satz, den Weg von der «Weltsprache» des Neugeborenen bis in die «Muttersprache», er macht den halb bewussten Charakter der Sprache bewusst – das Ausgesprochene kann den Sprechenden überraschen! – und er zieht scharf die Grenze zwischen den geistigen Leistungen des Kindes, die aus der Sprache heraus fließen, und dem wirklichen Einsetzen eigenen Denkens.
Dieser Aspekt: Was ist Denken? ist heute durchaus sehr aktuell. Die neurobiologische Forschung der letzten zwanzig Jahre hat bei vielen die Versuchung aufkommen lassen, menschliches Denken als Folge biologischer Gehirnprozesse aufzufassen – nach der (Fehl)interpretation der berühmten Libetschen Experimente: Das Gehirn (als biologische Maschine aufgefasst) kommt zuerst! Wir wissen heute – das hat u. a. Thomas Fuchs deutlich herausgearbeitet (2016) –, dass das zum einen nicht stimmt, zum anderen diagnostisch und therapeutisch zum Beispiel in der Psychiatrie weitgehend unfruchtbar geblieben ist. Vielleicht sind die Abschnitte des Buches besonders aktuell, die verdeutlichen, was wir Denken und Selbstbewusstsein nennen können, gipfelnd in dem inneren geistigen Ich-Erleben des vielleicht dreijährigen Kindes, das wir von außen in der Regel nicht erfahren, das aber viele selbst erinnern können.
Schließlich wendet sich Karl König einem Gebiet zu, das 1957 noch als rein spekulativ gelten musste, nämlich der Frage, wie der Mensch Sprache, Denken und menschliche Individualität überhaupt wahrnimmt. Ganz im Gegensatz zu einer «Theory of Mind», einem indirekten Erschließen von Wortbedeutungen, Gedanken und der Gegenwart eines anderen Ichs, vertritt Karl König als Schüler Rudolf Steiners die Auffassung, dass das Kind, der Mensch Sprache, Denken, das Du im Anderen im Grunde ebenso wahrnehmen kann, wie er Farben und Töne wahrnimmt. Dass wir einen «Wort-Sinn», einen «Gedanken-Sinn», einen «Ich-Sinn» ausbilden. Und er geht im Gefolge Steiners so weit, dafür auch konkrete leibliche Strukturen zu nennen, die als «Sinnesorgane» für diese Qualitäten fungieren. – Die Forschung hat inzwischen einen Bereich, den «Wort-Sinn», weitgehend empirisch bestätigen können, genau in dem Sinne, wie es König schildert. Die menschliche Bewegungsorganisation, das neuromuskuläre System, bewegt sich in Mikrobewegungen mit, wenn ein anderer in unserer Gegenwart, in der Gegenwart des Kindes spricht. Peter Lutzker hat die entsprechenden Forschungsarbeiten bereits vor mehr als zwanzig Jahren zusammengefasst (1996), die Entdeckung der Spiegelneurone durch Giacomo Rizzolatti hat uns weitere Einsichten in dieses Gebiet verschafft (Rizzolatti & Sinigaglia 2008). Man könnte es so zusammenfassen: Wenn wir uns nicht in ganz feiner, unbewusst bleibender Weise unmittelbar mitbewegen würden in Gegenwart eines Sprechenden, könnten wir ihn nicht verstehen. Mit anderen Worten: Die eigenen Mitbewegungen fungieren äquivalent zu einem Sinnesorgan (so wie wir nur Töne hören können, wenn sich im Innenohr, in der Schnecke, feinste Eigenbewegungen abspielen, die von den Höreindrücken angeregt werden). Mit diesen Worten sei nur darauf hingewiesen, dass Königs Ausführungen im letzten Kapitel durchaus eine Beziehung aufweisen zum heutigen Stand der Forschung, was hier nur kurz einleitend angedeutet werden soll.
So hoffen wir, dass die Leserin, der Leser von heute durch dieses Buch, seine innere Klarheit, durch seine forschende Haltung und geistige Kraft sich ebenso angeregt fühlt, wie dies vor sechzig Jahren der Fall war.
Im Dezember 2016
Georg Soldner,
Facharzt für Kinderheilkunde, stellv. Leitung der Medizinischen Sektion, Goetheanum, Hochschule für Geisteswissenschaft, Dornach/Schweiz
Vorwort zur 1. Auflage
Die drei ersten der hier folgenden Aufsätze wurden zuerst in der Zeitschrift für Heilpädagogik, Das Seelenpflege-bedürftige Kind, veröffentlicht und sollten aus diesem Blickpunkt her verstanden werden. Dem Verfasser standen bei der Darstellung des großen und einheitlichen Menschenbildes die ihm in Hunderten von Einzelfällen bekannten Verzerrungen und Verbildungen vor Augen. Dadurch aber konnte der Blick auf das Urbild der ersten drei Jahre des Kindes besonders klar gerichtet werden.
Dabei war es ein wesentliches Anliegen, auf die drei Gaben hinzuweisen, die jedes Kind durch das Tor der Geburt sich mitbringt: Der Erwerb des aufrechten Ganges, des Sprechens und des Denkens werden hier untersucht. Denn es geht dem Verfasser dieser Schrift um die Schritte, die der geistige Teil des Menschen bei seiner Entfaltung in der frühesten Kindheit vollzieht. Nicht aber geht es hier um die Darstellung der Entwickelung der animalischen und vegetativen Natur. Damit soll aber keineswegs mit Verachtung auf jene Seite der menschlichen Existenz geblickt werden. Deren Werden während der Jahre des Kindseins ist jedoch schon öfter dargestellt worden und bedarf nicht einer erneuten Beschreibung.
Gehen, Sprechen und Denken hingegen sind ihrer Würde gemäß noch kaum untersucht worden. Es gibt darüber zwar viele Einzelbeobachtungen und eine große Menge von Darstellungen; aber der «Würde» des Ganges, der Sprache und des Gedankenbildens, so wie sie Rudolf Steiner als «spirituelle Gaben» beschrieben hat, ist noch kaum Gerechtigkeit widerfahren. Und doch sind es diese drei königlichen Gaben, die den Menschen erst zu dem machen, was er wirklich werden kann: ein erkennendes und sich selbst erfragendes Wesen.
Deshalb hat es der Verfasser auch für angebracht gehalten, einen vierten, größeren Beitrag den ersten drei hinzuzufügen. In diesem wird die Entwickelung der erstmals von Rudolf Steiner beschriebenen höchsten Sinne des Menschen, des Wort-, Gedanken- und Ich-Sinns, dargestellt. Denn erst wenn diese Sinne als Ergebnis der Entfaltung von Gehen, Sprechen und Denken erkannt werden, kann ein wirkliches Verständnis für das Erwachen des Menschengeistes während der ersten drei Lebensjahre gewonnen werden.
Damit aber wird ein Beitrag geleistet, der ein neues Licht in die verborgenen Gründe des kindlichen Werdens wirft. Dem Verfasser war es, als wäre es erst jetzt «an der Zeit», diese Gedanken und Überlegungen einem weiteren Kreis von Lesern mitzuteilen. Er hofft auf ein mitgehendes Verstehen.
Im Januar 1957 Karl König
Einleitung
In den ersten drei Jahren seiner kindlichen Existenz erwirbt der Mensch diejenigen Fähigkeiten, die ihm hier auf der Erde die Möglichkeit seines Menschseins vermitteln. Er lernt im Ablauf des ersten Lebensjahres zu gehen, erwirbt im zweiten Lebensjahr das Sprechen und erlebt im dritten Jahre das Erwachen des Denkens.
Als hilfloser Säugling wird er geboren und wird erst durch den Erwerb dieser drei Eigenschaften ein Wesen, das sich selbst benennen kann, das eine freie Beweglichkeit erwirbt und mithilfe der Sprache in bewusste Kommunikation mit der Umwelt der anderen Menschen tritt. Eine Art von dreifachem Wunder vollzieht sich dabei, denn es ist mehr als Instinkt,