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Kriegsbeile
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Kriegsbeile

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About this ebook

Das Buch erzählt das unglaubliche Leben von Vitaliano Ravagli, des "Vietcong aus der Romagna", und weitere Geschichten aus dem Widerstand gegen Faschismus, Kolonisierung und Unterdrückung. Ravagli ging, angetrieben durch die Erinnerung an die Kämpfe der Partisanen der Resistenza und die vergebliche Suche nach Gerechtigkeit im Nachkriegsitalien, nach Indochina. Mit einer Gruppe von Italienern, Spaniern und Deutschen traf er in Saigon ein, um auf der Seite der Vietminh zu kämpfen. Wir begegnen Ho Chi Minh, dem weltgewandten, genialischen Anführer der Vietminh. Wir erleben den Indochinakrieg der 1950er-Jahre hautnah – den Krieg vor dem "Vietnamkrieg". Das Buch führt uns mitten in den Dschungel mit all seinen Grausamkeiten: Hitze, Schmutz, Schlangen, Mücken und den gnadenlosen Feinden, die aus der Luft mit Kampfhubschraubern angreifen und Bomben abwerfen.
LanguageDeutsch
PublisherAssoziation A
Release dateAug 25, 2017
ISBN9783862416257
Kriegsbeile
Author

Wu Ming

Wu Ming es el seudónimo de un grupo de narradores italianos que trabajan de forma colectiva desde hace años. En 1999, con el nombre de Luther Blissett, publicaron la novela Q. En 2003, ya con su nuevo nombre, publicaron 54, a la que han seguido Manituana, Altai  y El Ejército de los Sonámbulos, esta última publicada por Anagrama, además de las colecciones de relatos Anatra all’arancia meccanica y L’invisibile ovunque y de algunos ensayos, así como de algunos «objetos narrativos no identificados» (Asce di guerra) y de los libros para niños de la serie Cantalamappa. También han escrito con el cineasta Guido Chiesa el guión de la película Lavorare con lentezza. Además, varios miembros del colectivo han publicado diversas obras de manera individual.

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    Kriegsbeile - Wu Ming

    Minh.

    ERSTER TEIL

    Habt ihr versucht, ohne Mythen zu leben? Ist das Erwachen nicht vielleicht unangenehmer, sind die Arbeitstage nicht härter, ist die Liebe nicht trauriger, die Zukunft nicht vorhersehbarer?

    PACO IGNACIO TAIBO II

    Wir wünschen uns von ganzem Herzen, dass die Revolutionen, die Kriege und die Aufstände in den Kolonien dazu führen werden, dass diese westliche Zivilisation, deren Parasiten von ihnen bis in den Osten geschützt und gefördert werden, ausgelöscht wird, und wir bitten inständig um ihre Zerstörung als einen Zustand, der für den Geist weniger unannehmbar ist.

    BRIEF DER SURREALISTEN AN PAUL CLAUDEL, POET UND FRANZÖSISCHER BOTSCHAFTER IN JAPAN, 1925.

    1. FLUGHAFEN PUNTA RAISI, 18. JANUAR 2000, 18:00 UHR

    Der Wartesaal ist nicht sehr voll.

    Mir gegenüber zieht eine dicke Frau Brotstückchen aus einer Papiertüte und schiebt sie sich mit fettigen Fingern in den Mund. Ihr lächerlicher Hut ist so auffällig, man könnte sie für verrückt halten. Niemand schaut.

    Zwei Reihen weiter liest ein Mann mittleren Alters im Giornale della Sicilia. Er sieht aus wie ein Manager oder ein Parlamentsabgeordneter.

    Eine junge Mutter mit ihrem Neugeborenen mit Schnuller.

    Zwei Polizisten laufen gelangweilt herum.

    Ein Typ mit schwarzer tropfenförmiger Brille sieht aus wie die Karikatur eines Mafioso.

    Zwei Kinder rennen hintereinander her und lachen.

    Ich habe Durst.

    Meine Füße brennen, die Haare fallen mir dauernd in die Stirn.

    Als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen, dabei bin ich erst heute Morgen losgefahren.

    Die Dicke hat das Brötchen aufgegessen, das Geräusch der zusammengeknüllten Tüte hallt durch den Saal.

    Jemand dreht sich um.

    Morgen muss ich Kadisha anrufen und ihr sagen, was Sache ist. Ich würde das am liebsten von jemand anderem erledigen lassen, aber nach mir kommen nur die Aktenträger der Kanzlei.

    Ich muss es selbst tun.

    Ich muss ihr sagen, dass ich zu spät gekommen bin. Dass Said inzwischen weit weg ist, niemand weiß, wann sie ihn wiedersehen wird.

    Das dumme Gesicht des Polizisten war schlimmer als ein gebrochenes Versprechen, es sagte schon alles.

    Endlose, sinnlos vergeudete Stunden. Abwesende Blicke gleichgültiger Aufseher. Leere Blicke spionieren deinem vorhersehbaren Versagen nach. Und dann Papier. Immer höhere Berge von Papier. Das ganze Glück der Welt versteckt in gebührenpflichtigem Papier und Ausweisen mit den Passfotos Inhaftierter.

    »Wie schon gesagt, es war ein Fehler, das Polizeipräsidium Bologna hat die Dokumente nicht nach Trapani geschickt. Ich habe sie hier.«

    Und die Gitterstäbe. Ich werde mich nie daran gewöhnen. Hunderte, Tausende von Gitterstäben. Dahinter die finsteren Blicke betrogener Tiere. Als sich das Gerücht verbreitet, du seist ein Anwalt, kommen sie alle näher und betteln um Hilfe, schreien irgendwas, überreichen dir einen Brief, einen Zettel.

    »Wir halten uns an die Anordnungen des Polizeipräsidiums, Herr Doktor. Wir können nicht einfach irgendwas erfinden … Theoretisch könnten die Dokumente in Ordnung sein, aber ohne die Zustimmung des Polizeipräsidiums von Trapani geht das nicht. Außerdem gilt Murcabèlsaìd als rückfällig …«.

    »Hören Sie zu! Dieser Mensch hat eine Frau und einen Sohn in Bologna, und das Verfahren gegen ihn läuft noch. Er ist nicht verurteilt. Es ist doch klar, wenn sie ihn wegschicken …«.

    »Herr Anwalt, dafür bin ich nicht zuständig. Sehen Sie das endlich ein! Ich kann Ihnen doch keinen Gefallen tun, nur weil Sie Anwalt sind, oder?«

    Fünf Stunden. Um festzustellen, dass er schon weg ist. Vor sechsunddreißig Stunden zurückgeschickt.

    Ich bin zu spät gekommen.

    Viele Grüße an Said Moukharbel.

    Eine freudlos blickende Hostess stellt sich an den Durchgang zum Einchecken.

    Der Flug nach Bologna wird aufgerufen.

    Das Meer. In der Ferne die Lichter von Fischerbooten. Während die Pille gegen Übelkeit ihre Wirkung entfaltet, schaue ich aus dem Fenster. Meine Lider werden schwer. Zwei Flüge an einem Tag sind zu viel für jemanden, der seit seiner Kindheit an Flugangst leidet.

    Ich war noch nie auf Sizilien, die Insel auf diese Weise kennenzulernen, hatte ich nicht erwartet.

    Morgen früh Kadisha anrufen. Ihr sagen, dass ihr Mann verschwunden ist, in einem Flugzeug nach Tunesien, und dass niemand weiß, was aus ihm werden wird.

    Scheiße.

    Ich müsste persönlich zu ihr gehen. Was soll aus ihr und Nidal werden? Es scheint schon etwas Großartiges zu sein, sie in einem Aufnahmezentrum untergebracht zu haben. Das kotzt mich an.

    Ich rufe sie an, es ist einfacher am Telefon. Vielleicht spreche ich mit den Verantwortlichen des Zentrums.

    Aber was soll ich ihnen sagen?

    Ein sprachloser Anwalt. Sehr schön. Paradox. Glückwunsch, Herr Rechtsanwalt, tolle Leistung. Du hast deinen Schutzbefohlenen irgendwo in Italien verloren, und als du ihn gefunden hast, war es zu spät; ausgewiesen, ohne dass du etwas tun konntest.

    Was für ein Scheißanwalt bist du? Du zerbrichst dir hier in diesem Flugzeug den Kopf, wie du einer Frau gegenübertreten sollst, die mit ihrem Sohn in einem fremden Land ohne jede Perspektive ist.

    Ich kann mich nicht einmal an den Anfang dieser Geschichte erinnern. Aber es gab einen. Der Anruf von Meco. Wie lange ist das her?

    »Hör zu, Daniele, einer von denen aus dem Maghreb hat wegen der Hausbesetzung eine Strafanzeige erhalten, er braucht einen Anwalt.«

    So fing es an. Das Vorzimmer des Versagens.

    Ich bin müde und stinksauer.

    Ich muss schlafen. Vielleicht geht morgen alles besser.

    Nein, morgen ist Kadisha. Habe ich den falschen Beruf?

    Scheiße. Nie wieder werde ich mich in so etwas reinziehen lassen.

    Die sollen mich alle am Arsch lecken.

    Ich brauche Urlaub, ein paar Tage bei meiner Mutter, mich vollfressen und bis Mittag schlafen. Den Kopf leer kriegen, an was anderes denken.

    Sie sollen mich alle am Arsch lecken.

    2. RIOLO TERME (RAVENNA), 20. JANUAR 2000, 00:45 UHR

    Dichtes Dunkel, überall Zähne.

    Ich schließe die Augen, ich höre sie schleichen.

    Die Angst überfällt mich jede Nacht wie ein Kind. Ich kämpfe dagegen an, mich schlafen zu legen.

    Dann überwältigt mich die Müdigkeit, und ich falle in einen unruhigen Schlaf, niemals länger als drei bis vier Stunden. Versteckt in den Falten der Erinnerung warten die Albträume schon auf mich. Sobald das Licht erlischt, erwachen sie zum Leben.

    Glühende Dolche, Folter, zerfetzte Körper.

    Den mir liebsten Menschen werden die schrecklichsten Grausamkeiten zugefügt.

    Ich will vergessen. Nicht weil ich das, was ich damals tat, um das Elend zu rächen und aus Hass auf die Faschisten, bereue, ich würde es mit noch größerer Entschlossenheit immer wieder tun. Es geht nicht um das, was ich getan habe. Manchmal ist es einfacher, zu handeln als sich zu erinnern. Das Bild, das aus der Erinnerung aufsteigt, zeigt nur Horror, nicht die Wut und Verzweiflung, die zu ihm geführt haben. Nach all diesen Jahren verfüge ich nicht mehr über die gleichen Kräfte.

    Ich habe meinen Wunsch, zu reagieren und zu kämpfen, mit Grausamkeiten befriedigt. Aber der schwerste Brocken ist noch nicht verdaut.

    Das Gesicht des vergewaltigten Mädchens, in der Gewalt von Beinen und Messern, stumm, das Gesicht meiner Tochter. Ich bin gefesselt, unfähig einzugreifen, erwarte ich die Qual.

    Gebrüll. Schreie, die zum Wahnsinn treiben.

    Die Bestie Mensch packt eine Schlange, um mein Kind weiter zu quälen. Dann kommt er zu mir und stößt sie mir in den Hals, der Körper windet sich, um dem Biss der Zähne zu entkommen.

    Hunderte Schlangen jeder Größe kriechen zischelnd auf mich zu, bis sie mich ganz bedecken. Sie suchen nach Öffnungen, um in mich einzudringen. Von oben, von unten, von hinten. Ich stehe kurz vor dem Ersticken.

    Dann wandelt sich die Szene. Der Dschungel verschwindet augenblicklich. An seiner Stelle das Innere eines großen Gebäudes, unheimlich.

    Durch riesige Säle und lange Korridore verfolgt mich unaufhaltsam der Tod. Ich fliehe durch Türen, die ich hinter mir schließe, in der Hoffnung, ihn aufzuhalten.

    Die Zimmer werden immer kleiner, je weiter ich vordringe. Die Türen werden niedriger und enger.

    Ich renne, von Horror gepackt. Ich habe viele getötet, aber die Leiche, an die ich mich mit dem größten Horror erinnere, ist die erste, die ich sah, die Alte auf dem Bett mit offenen Augen.

    Das vorletzte Zimmer ist nicht viel größer als ich. Die letzte Tür ist so breit wie mein Kopf. Ich versuche auf die andere Seite zu kommen, aber ich stecke fest. Es gelingt mir, mich zu befreien, aber der Tod kommt über mich, die Skelettarme hoch erhoben, bereit, mich zu packen.

    Plötzlich halte ich ein schwarzes Kreuz in Händen, das Kreuz von dem Tag, an dem wir der Alten die letzte Ölung gaben.

    Der Tod bleibt stehen, und ich stürze in einen Abgrund.

    An dieser Stelle reiße ich normalerweise schlagartig die Augen auf, meine Haut ist mit kaltem Schweiß bedeckt.

    Zu meinem Glück liegt eine Frau an meiner Seite, die noch schläft. Ich umarme sie innig und beruhige mich.

    Aber oft genügt das nicht, um die Nacht zu besänftigen. Im Dunkel des Zimmers warten die Albträume nur auf die nächste Gelegenheit. Ich spüre ihre Gegenwart, sie sind bereit zurückzukehren, und die Angst vertreibt erneut den Schlaf.

    Ich muss aufstehen, mich ankleiden, den Mantel nehmen und rausgehen.

    Gespenst, ich selbst bin ein Albtraum.

    Leere Straßen, leichter Nebel, das entfernte Geräusch eines Autos auf der Straße; unbewegte, unschuldige Welt.

    Stille.

    Ich atme die Feuchtigkeit der Nacht und zwinge mich, an nichts zu denken. Der Kopf wird leer wie dieser Ort.

    Als ich nach Hause zurückkehre, sind meine Beine müde, aber ich will nicht wieder ins Bett. Ich blättere in einem Buch, ohne zu lesen. Ich schalte den Fernseher ein und stelle ihn ganz leise. Über den Schirm flimmert der Titel eines alten Schwarzweißfilms: La banda Casaroli mit Renato Salvatori. Einer in meinem Alter, ein richtig guter. Eine Schrift erscheint: »Bologna, Dezember 1950«. Schleudernde Autos, ein Jeep der Celere, Fußgängergruppen. Unter den Arkaden geht ein Junge mit hochgeschlagenem Jackenkragen, er ist vielleicht 20 Jahre alt.

    3. BOLOGNA, 20. JANUAR 2000, 02:00 UHR

    Das schlaflose Ende eines langen Scheißtages, der mit Kaffee, Magenschmerzen und einem frischen Hemd anfing.

    Ankunft in der Kanzlei, drei Begrüßungen, dann die Entscheidung ohne Nachdenken: kein Telefon, ich gehe hin.

    Via Siepelunga, Aufnahmezentrum Monte Donato. Das Zusammentreffen mit Kadisha, grüne Augen unter kastanienbraunem, leicht rostrot gefärbtem Haar, ist wie ein Theaterstück mit Masken. Die Maske der Angst, der Unterwerfung und Resignation angesichts von Entscheidungen, die andere treffen, seien sie noch so bizarr und verrückt.

    »Said war nicht untergetaucht«, sagt die Maske Kadisha mit Nidal im Arm und beißt sich auf die Lippen.

    Die Maske des Anwalts, meine, stößt nacheinander pathetische Sätze des Bedauerns aus, Flüche über die »mörderische Bürokratie«, genau das habe ich gesagt, Aufforderungen, den Kopf nicht hängen zulassen, und sie schafft es nicht, ihrem Blick standzuhalten, bevor sie fast überstürzt und befreit flieht.

    Zurück in der Kanzlei: Telefongespräche, Zeitungen, zwei Termine. Erbärmlicher Abend mit blöden Witzen und dämlichen Vorträgen bei der Versammlung der Demokratischen Juristen. Dann nach Hause.

    Nahaufnahmen von Chronographen und fleischigen Lippen, Schlagzeilen der Zeitungen von morgen und Horoskope, TV-Wiederholungen und Direktübertragungen von Sportereignissen auf der anderen Seite des Globus, protestantische Sektenprediger und Techniklektionen. Ich zappe wild und lande schließlich bei einem unbekannten Film, Titelsequenz in Schwarzweiß.

    Renato Salvatori, der aus Arm, aber schön von Dino Risi und Diebe haben’s schwer von Mario Monicelli, zusammen mit Tomas Milian, der in die kollektive Vorstellungswelt in der Rolle des Er Monnezza (ein römischer Dieb, Spitzname der fiktiven Figur des Sergio Marazzi) eingegangen ist. Die beiden Namen sind vielversprechend, ich lege die Fernbedienung aus der Hand und mache es mir auf dem Sofa bequem. Regie führt Florestano Vancini, derselbe von Die lange Nacht von 43 und Die Ermordung Matteottis – noch einer, der schwer in Ordnung ist.

    Die Casaroli-Bande. Reminiszenzen aus der Zeit meines Großvaters. Eine wahre Geschichte.

    Bologna, Dezember 1950. Ein noch sehr junger Tomas Milian treibt sich an der Kreuzung Santo Stefano und Via Dante herum. In der Szene sieht man viele Fotografen, Polizisten, Journalisten und Neugierige. Der Junge muss in das soeben Geschehene verwickelt sein. Er denkt über das Schicksal zweier Freunde nach, Paolo und Corrado, was Ausgangspunkt für einen Flashback ist, der das frühere Geschehen illustriert.

    Die Bilder flimmern vorüber und die Spannung steigt. Ein erbitterter, ungelöster Konflikt befeuert die kriminellen Taten der Casaroli-Bande, die sich dem Bankraub und dem guten Leben verschrieben haben. Schwer zu sagen, woher der Eindruck kommt, aber der Film ist ganz anders als die üblichen Fünfziger-Jahre-Streifen.

    Bologna ist düster, gespenstisch und leer, immer in Nebel gehüllt. »Riecht ihr diesen Geruch? Der ist nicht wegzukriegen!«, sagt an einer bestimmten Stelle der frisch geduschte Casaroli und riecht an seinem neuen Mantel. »Wisst ihr, was das ist? Das ist Bologna!«

    Milian/Gabriele wohnt in einem heruntergekommenen Wohnhaus für Flüchtlinge aus Istrien; keinerlei Konzessionen an eine falsche Ästhetik der Armut. Salvatori/Casaroli zeigt ein irres, satanisches Grinsen, das ich an ihm nicht mal in der Vergewaltigungsszene aus Rocco und seine Brüder gesehen habe. Seine Lebensmanie hat nichts mit dem Rumlümmeln der Müßiggänger von Fellini oder dem römischen Dolce Vita zu tun. Es ist wütendes Fieber, Ausbruch, Sehnsucht nach Welt, auch wenn die Reise nicht weiter geht als bis Venedig oder Genua, das mit Schanghai verglichen wird. Er schluckt Sympamin, um seine Reflexe zu verbessern, er schreit heraus, die Welt lasse sich in zwei Kategorien von Menschen einteilen, die auf der einen Seite müssen die Hände heben, die auf anderen brüllen: Hände hoch. Er besteht darauf, dass es im Leben um Mumm und Hirn gehe, er vermengt wieder auflebenden Faschismus mit wirren Theorien vom Übermenschen. Dann schreit er: »Wir werden niemals zu den Armen gehören!« Er, der aus Arm, aber schön.

    Am Ende gibt es für die Bande keinen Ausweg, zu viel Naivität. Aber nichts, was an Diebe haben’s schwer erinnert. Das Finale ist eine Wildwestszene im Zentrum von Bologna. Schüsse, Leichen, Verfolgung, Gewalt im Überfluss, bewaffnete Vigili Urbani

    Einer der Banditen schießt sich während des Feuergefechts in den Kopf, Casaroli wird verletzt, Gabriele schaut machtlos zu, ohne hineingezogen zu werden. Am nächsten Tag, von Angst zerfressen, tötet er sich mit einem Schuss ins Herz in einem Kino im Zentrum während der Aufführung eines Films mit Fernandel.

    Der Giornale dell’Emilia bzw. Il Resto del Carlino verbreiten unter falschem Namen den Tod Casarolis. Der Chef der Bande lebt aber noch, er liegt im Krankenhaus. Ein jämmerlicher Chronist stellt idiotische Fragen und will den Lesern unbedingt den Grund für all die Gewalt erklären, er interviewt ihn. Der Kriminelle kann auf Fassade nicht verzichten:

    »Besser ein Tag Casaroli als das Elend einer Arbeit.«

    4. BOLOGNA, 20. JANUAR 2000, 03:55 UHR

    Die Nachkriegszeit. Die fünfziger Jahre.

    Schon immer wollte ich meinen Großvater befragen, schob es aber immer wieder auf, bis es zu spät war. Mit dreißig hast du dann das Gefühl, dass dir etwas entglitten ist, so wie wenn man beim Plädoyer den Faden verliert, das ist dasselbe Gefühl.

    Die fünfziger Jahre.

    Das Kino zieht mich in ein schwarzes Loch.

    Gibt es noch andere Filme wie Die Casaroli-Bande? Bestimmt nicht viele.

    Gespenster.

    Der politische Gebrauch der Erinnerung hat uns ein plattes, verzerrtes, weit entrücktes Bild dieses Jahrzehnts hinterlassen.

    Es war die unschuldige, tatenhungrige Dekade der Poveri ma belli.

    Der einfältigen, auf die Tränendrüsen drückenden Filme von Matarazzo mit Amedeo Nazzari und Yvonne Sanson.

    Das nette, ehrliche, arbeitssame kleine Italien, das glaubt, der Alliierte der großen westlichen Mächte zu sein, während es in Wirklichkeit nur deren Kolonie ist.

    Dummes kleines Italien! Noch immer mit einem Bein im Faschismus (dieselben Regeln, dieselben Präfekten, dieselben Polizeichefs) und dem anderen in der Luft, am Rande neuer Abgründe, die man »Modernität« nennt.

    Hübsches Postkartenitalien! Nur die Anwesenheit der Kommunisten verpestet ein wenig die Luft, diese Spielverderber stören die Atmosphäre allumfassender Einheit. Aber auch sie lassen sich ins klebrig süße Wohlgefallen einfügen, man denke an Genosse Peppone aus Brescello. Der gesamte Zyklus des Don Camillo wird in jedem Wahlkampf hartnäckig und in regelmäßigen Abständen auf allen Kanälen wiederholt. Nur ein Zufall? Explizit antikommunistische Absicht? Vielleicht. Aber die empfangene Nachricht lautet anders, sie ist noch reaktionärer, wenn das überhaupt möglich ist. Wie einfach gestrickt, wie gutherzig war er doch, der Konflikt. So … rustikal! Mit einem Glas Lambrusco in der Osteria ließ sich der Kalte Krieg immer wieder anheizen. Die Ideologien kommen und gehen, aber wir Italiener, immer brave Menschen, die Mamma, die Familie, die Bar und gleich nebenan der Priester, egal welcher zusammengewürfelte Haufen gerade an der Regierung ist.

    Don Camillo und Peppone sieht man immer wieder gern. Sie sind einfach lustig.

    Von 1948 bis 1954 töteten die Ordnungskräfte ungefähr hundert Menschen (zum größten Teil Streikende und Demonstranten, aber auch einfache Passanten), sie verletzten Tausende, sie inhaftierten und setzten mehr als hunderttausend fest. Davon verurteilten die Gerichte ungefähr die Hälfte zu einer Gesamtstrafe von mehreren zehntausend Jahren Freiheitsstrafe, darunter viele Zuchthausstrafen.

    Es war das Bedürfnis nach Ruhe, nach vertrauenerweckenden Figuren, nach sozialem und politischem Frieden, das sich im Kino verdichtete, während alles, was diesem Ziel nicht dienlich war, verdrängt wurde, zensiert wurde.

    Es war nicht das Italien Peppones und Don Camillos, sondern das Italien »mit mehr Waffen unter der Erde als Kartoffeln«. Ein Land, das sich Peppone erträumte, in dem jedoch die Toten auf der Straße lagen, das sich Don Camillo erträumte, während es die Kommunisten exkommunizierte.

    Das Kino bediente diese Träume und ignorierte alles andere; zu hart die Realität, die es zu leben galt, als dass das Publikum gewünscht hätte, dass man ihm von ihr auch noch im Kino erzählte.

    Sicher, die kirchliche und staatliche Zensur griff hart durch: Totò e Carolina von Monicelli durfte nicht gezeigt werden, weil man ihm vorwarf, die Polizeikräfte zu verunglimpfen. Es war nicht einfach, seine Meinung kundzutun.

    Es gab satirische Komödien, aber mit der Zeit verlor die Satire ihren Biss und auch die bissigsten Filme gehören inzwischen zum sogenannten gemeinsamen Fundament der allgegenwärtigen, vertrauenerweckenden Brave-Leute-Italiener.

    Zeigt man mir Konflikte, fällt es mir schwer, sie zu erkennen. Der »Neorealismus«. Ich denke an die Filme von Rossellini, De Sica und Gefolge. Sie sind Teil der Filmgeschichte, einverstanden, aber sie zeigen nichts von dem Wilden Westen, den ich in den Zeitungschroniken finde. Das Elend, das in Szene gesetzt wird, erscheint heute poetisch, mit Glamour überzuckert. Armut hat nichts Poetisches. Sie ist erbärmlich, antiästhetisch und stinkt. Franziskanerkultur und stalinistischer Schdanowismus haben die Vorstellungswelt vergiftet.

    Nicht nur. Auch die Zeit verändert den Sinn der Aussagen. Dolce Vita ist heute ein Synonym für Sorglosigkeit. Aber Fellinis Film ist sicher keine Liebeserklärung an eine gelangweilte, verlogene Gesellschaft, und Rom ist nur eine Hure vierten Ranges.

    Also was? Also geschah, dass diejenigen, die in jenem Jahrzehnt jung waren, sich in nostalgische Erinnerungen flüchteten. Im Alter erscheinen die Jahre der Jugend immer im schönsten Licht, man trauert ihnen nach, egal, was wirklich geschah. Deshalb erzählten uns unsere Großeltern und Eltern unter Seufzern eine andere Geschichte, und kein Film und nur selten ein Buch widersprachen ihnen. Auch deshalb ist das Interview mit dem Vater meines Vaters eine verpasste Gelegenheit. Denn das, was uns die Alten erzählen, hängt auch von den Fragen ab, die wir ihnen stellen. »Hat man wirklich Mambo getanzt? Stimmt es, dass ihr alle zusammen unten in der Bar Fernsehen geguckt habt? Stimmt es, dass man sich in der Öffentlichkeit nicht küssen durfte?« Es fehlen die Fragen, an die sie vielleicht weniger schmerzliche Erinnerungen hatten. »Stimmt es, dass die Polizei auf Streikende schoss? Stimmt es, dass ein Kommunist keinen Pass erhielt? Stimmt es, dass die Amerikaner eine Atombombe über Indochina abwerfen wollten?«

    Im nachfolgenden Jahrzehnt brach im Land die Zementierungswut aus, für deren Folgen es noch heute zahlt. Das christdemokratische Land musste ein positives Bild von sich zeichnen, es musste auf den wirtschaftlichen Boom ausgerichtet werden, den Blick nach vorne gerichtet.

    Aber sehr viele lebten noch immer in elenden Behausungen ohne Bad, viele hatten kein fließendes Wasser. Aber man baute Autobahnen.

    Schließen wir die Augen, stellen wir uns das Ehepaar vor, das sich angesichts der monatlichen Kosten gegenseitig Mut macht: Wir werden es schaffen, in ein paar Jahren werden wir das Geld für einen Seicento zusammenhaben. Die bürgerliche Vorstellungswelt hat uns diese kleinen Helden überliefert.

    Die anderen hat niemand ans Licht geholt, aus der schweigenden Masse der Verlierer.

    Man müsste Blutströme sehen, Wut, ins menschliche Gekröse hinabsteigen, bis an die Knie, um zu verstehen, was man uns entzogen hat, was verdrängt wurde, was an einem bestimmten Punkt nicht ausgesprochen werden durfte und immer noch und vor allem heute nicht gesagt werden darf.

    Im Grunde haben die Bösen gesiegt, also »die Guten«.

    Bevor ich ins Bett gehe und versuche einzuschlafen, nehme ich ein Blatt Papier. Ich schreibe an meine zukünftigen Enkel: Sollte ich eines Tages gut über die achtziger Jahre reden, versucht, mir andere Fragen zu stellen. Wenn ich darauf bestehe, sagt der Mama, dass der Opa nicht mehr ganz dicht ist.

    Ich lege den Umschlag zur Seite und lösche das Licht.

    Ich wälze mich im Bett hin und her.

    Vor meinen Augen sehe ich wieder die Gitter. Harte Gesichter von müden Halsabschneidern, armseligen, ausgestoßenen Bestien. »Gefährliche« Tiere im Käfig.

    Und der unerträgliche Blick Kadishas, der mein Inneres erforscht.

    Was haben wir getan? Womit haben wir diese Scheiße verdient? Worin besteht der »Große Verrat«? Oder handelt es sich vielmehr um eine im Laufe der Zeit gewachsene Ansammlung von Verrat kleineren Ausmaßes, jeder einzelne leicht zu rechtfertigen, auch wenn das Endergebnis nur Horror ist?

    Wo liegt der Ursprung? Lässt sich ein Ausgangspunkt feststellen? Irgendeiner, der hilft zu verstehen?

    Das sind wohl die Fragen, die ich dem alten »Sowjet« hätte stellen müssen.

    5. DIE GESCHICHTE VON »SOWJET« (1948–50)

    Aus den Berichten des Feldwebels der Carabinieri Gavino Garau.

    »Im Jahr neunzehnhundertachtundvierzig, am 21. Tag des Monats September, um 09:15 Uhr, in diesem Büro des Postens der Carabinieri von Castelfiorino, Legion Bologna, zeige ich, der unterzeichnende Gavino Garau, Feldwebel, den zuständigen Stellen das Folgende an: Um 19:30 Uhr des 20. Septembers 1948 versteckten Unbekannte eine Bombe hinter einer Kastenbank im Pfarrhaus der Kirche Pietro e Paolo, Ortschaft Ca’ del Rovere, Ortsteil von Castelfiorino, Provinz Bologna. Es handelte sich um ein mit Nägeln und Schießpulver gefülltes Blechrohr von ungefähr 30 cm Länge und 10 cm Durchmesser, dessen Enden verschlossen waren. Nachdem sie die Zündschnur angesteckt hatten, entfernten sich die Unbekannten, ohne gesehen zu werden. Wenige Minuten später betraten Don Gelindo Fantini, Jahrgang 1894, Pfarrer von Ca’ del Rovere, Alfredo Pancaldi, Jahrgang 1939 […], Messdiener, und Dolores Ferlini, Jahrgang 1930 […], Tagelöhnerin in der Landwirtschaft, das Pfarrhaus, weil Letztere die Absicht hatte zu beichten. In diesem Augenblick explodierte der Sprengkörper und zerstörte die Kastenbank, sodass der Pfarrer durch Holzsplitter am rechten Arm und die Ferlini im Gesicht verletzt wurden. Der kleine Pancaldi wurde von einem spitzen Holzstück an der Kehle getroffen und starb durch Ersticken, bevor ihm Hilfe geleistet werden konnte. Der Unterzeichnete verhörte die Nachbarn, die bestätigten, niemanden gesehen zu haben, der sich entfernt hätte, denn zum Zeitpunkt der Detonation war es bereits dunkel […].«

    »Im Jahr neunzehnhundertachtundvierzig, am 3. Tag des Monats Oktober, um 10:40 Uhr, in diesem Büro des Postens der Carabinieri von Castelfiorino, Legion Bologna, zeige ich, der unterzeichnende Gavino Garau, Feldwebel, den zuständigen Stellen das Folgende an: […] der Polizeispitzel G. A. erklärt, dass sofort am Tag nach dem kriminellen Akt ein gewisser Francesco Golinelli, Jahrgang 1912 […], Schreiner und Kommunist von bekanntem gewalttätigen Charakter und zweifelhafter moralischer Lebensführung (von der Ehefrau getrennt, lebt er mit einer anderen Frau zusammen) vor mehreren Zeugen vor seiner Werkstatt gesagt habe, er wundere sich, dass der Sprengkörper ›weniger Schaden angerichtet hat, als man hätte erwarten können‹. G. A. berichtet außerdem, dass am Tag vor der Explosion ein gewisser Gerardo Beltrami, Klasse 1921 […], arbeitslos, im Pfarrhaus von Ca’ del Rovere erschien und den Pfarrer um einen Katechismus bat; eine äußerst merkwürdige Angelegenheit, da Beltrami nicht als gläubige Person bekannt ist, sondern im Gegenteil sich bekanntermaßen mit Kommunisten trifft […].«

    »Im Jahr neunzehnhundertneunundvierzig, am 20. Tag des Monats Januar, um 18:00 Uhr, in diesem Büro des Postens der Carabinieri von Castelfiorino, Legion Bologna, zeige ich, der unterzeichnende Gavino Garau, Feldwebel, den zuständigen Stellen das Folgende an: […] am heutigen Tag hat der Unterzeichnende in Begleitung des Unteroffiziers Raffaele Santoro und des Gefreiten Pietro Annichiarico persönlich die Verhaftung von Francesco Golinelli […] und Gerardo Beltrami […] durchgeführt. Die beiden Verhafteten sind nachweislich Anhänger des Kommunismus. Nach langem Verhör in diesem Posten gestand Beltrami, dass er an dem Dynamitattentat vom 20.09.1948 beteiligt war, in der Art, dass er das Pfarrhaus unter einem Vorwand besuchte, um festzustellen, wo man den Sprengkörper verstecken könnte, dass das vorgenannte Attentat politisch motiviert war und Don Gelindo bestrafen sollte, da man ihn für einen ›Spion der Schwarzen Brigaden‹ hielt, dass der Sprengkörper von Golinelli versteckt und scharf gemacht wurde, dass die Bombe von einem dritten Komplizen gebaut wurde, und zwar von Sergio Zani, genannt ›Sowjet‹, Jahrgang 1919 […]. Dieser war Rebell der sogenannten Brigade Garibaldi, danach Gewerkschaftsvertreter der Tagelöhner; der genannte Zani ist dem Unterzeichnenden wohlbekannt, da er sich in den letzten beiden Jahren bei der Organisation von nicht genehmigten Streiks und Kundgebungen hervorgetan hat. Nach Angaben des geständigen Schuldigen Beltrami war Zani das ›Gehirn‹ des kriminellen Akts. Der Unterzeichnende hat den Haftbefehl für Zani übermittelt, der jedoch seit dem vergangenen 8. Januar untergetaucht ist. Nach dem Verhör, das in einem anderen Raum stattfand, bestätigte auch Golinelli […].«

    Aus dem Widerruf Gerardo Beltramis, abgegeben vor dem Leutnant Alberto Rizzi, im Posten der Carabinieri von Castelfiorino am 16. März 1949.

    »Ich widerrufe das Geständnis, das ich gegenüber dem Feldwebel Garau am vergangenen 20. Januar gemacht habe, da es nicht der Wahrheit entspricht und mir durch Gewalt und Folter abgepresst wurde. Nachdem ich mich nackt ausziehen musste und mir die Hände hinter dem Rücken gefesselt wurden, musste ich mich auf Befehl des Feldwebels Garau bäuchlings auf den Boden legen. Dann schlug er mir lange mit einem knotigen Stock auf Beine und Fußsohlen. Anschließend musste ich mich hinknien, und er zwang mich, eine Art Gasmaske anzulegen, an der anstelle des Filters ein langer Schlauch befestigt war. Der Schlauch endete in einem Eimer mit einer Lösung aus Wasser und Salz aus Canale, einem bekannten Abführmittel für Pferde. Ich war gezwungen die Abführlösung einzuatmen und zu schlucken, und nach kurzer Zeit stellten sich starke Übelkeit und heftige Magenschmerzen ein. Während dieses Vorgangs forderte Garau mich immer wieder auf zu gestehen, dass ich der ›Bombenleger‹ und ein ›Mörder‹ sei, und die ›Namen‹ meiner ›Komplizen‹ zu nennen. Vor allem bestand er darauf, dass ich Sergio Zani, genannt ›Sowjet‹, als Komplize angab. Als ich mich weigerte, jene Person zu beschuldigen, der mein Freund ist und für die Freiheit des Landes gegen die Faschisten gekämpft und dafür die silberne Medaille erhalten hat, setzte mir Garau einen Revolver an die Schläfe und sagte, er töte mich, wenn ich Sowjet nicht beschuldige, weil ›ein Bolschewist weniger‹ in jedem Fall ein großer Vorteil sei. Ich gab schließlich nach. Garau zwang mich auch, zu erklären, ich sei am Tag vor der Explosion im Pfarrhaus gewesen, was unwahr ist, denn ich bin nicht gläubig und habe seit meiner Firmung keine Messe mehr besucht […].«

    Aus dem Widerruf von Francesco Golinelli, abgegeben vor dem Leutnant Alberto Rizzi im Posten der Carabinieri von Castelfiorino am 16. März 1949.

    »Durch Garau erlitt ich unsägliche Misshandlungen: Ausreißen von Haaren am Hoden, Spucken in den Mund, Schläge mit einem knotigen Stock, wodurch mir Verletzungen am Arm und am Bein zugefügt wurden und mir Blut aus den Ohren lief. Die Verletzungen wurden von Doktor Argentesi bestätigt […].«

    Aus dem Memorandum des Leutnants Alberto Rizzi über das Verhalten seines direkten Untergebenen, des Feldwebels Gavino Garau, übergeben dem Generalkommando der Carabinieri am 2. Juli 1949.

    »Unter der Leitung von Malagodi (eines großen lokalen Gutsbesitzers) und Pettenati (Parteisekretär der Democrazia Cristiana) führte Garau auf dem Land Aktionen im Stil der Faschisten durch. […] Im Frühling dieses Jahres fand in diesem Gebiet ein Streik der Tagelöhner statt. Kurz nachdem er die Nachgiebigkeit der für die öffentliche Sicherheit zuständigen Stellen kritisiert hatte, weil sie nicht mit der nötigen Härte gegen die Agitatoren vorgingen, wies mich Malagodi darauf hin, dass es sehr wohl eine Möglichkeit gäbe, sie ins Gefängnis zu stecken. Und zwar solle man eine Bombe im Heu irgendeines Landwirts entdecken lassen. In der Annahme, er mache einen Scherz, antwortete ich, ein solcher Trick sei wohl zu naiv, woraufhin er mir sagte, die Sache sei sehr viel einfacher, als ich glaube, und er habe sogar schon mit meinem Feldwebel darüber gesprochen, also mit Garau, der seinerseits bereits das geeignete Individuum gefunden habe, das die Bombe legen könne. Ich befragte daraufhin Garau, der mich im Glauben ließ, das Gespräch mit Malagodi habe rein hypothetischen Charakter gehabt. Aber am 14. Mai gegen Abend stieß ein Arbeiter in Manzolino beim Mähen auf eine am Boden deponierte explosive Ladung unbekannter Art. Garau machte dies unverzüglich öffentlich und erstattete Bericht über den Fund an alle vorgesetzten Stellen, anschließend führte er erste Festnahmen durch, darunter die des Bürgermeisters von Castelfiorino und seiner ganzen Familie, des Sekretärs der Kommunistischen Partei, der Leitung der Arbeitskammer sowie weiterer verdächtiger Personen, die bei den Gutsbesitzern und bei Garau unbeliebt waren. Letzterer konnte es gar nicht fassen, dass er auf diese Weise einen Vorwand gefunden hatte, seinen ganz persönlichen Groll auszuleben […]« (Seiten 114-15, Kopie).

    Aus dem Beschluss über die Versetzung des Leutnants Alberto Rizzi, übermittelt von der Legion der Carabinieri von Bologna an den Posten in Castelfiorino vom 11. November 1949.

    »Wegen offensichtlicher Unverträglichkeit mit den Verhältnissen […], weil er Misstrauen in der Truppe säte und ihrer Glaubwürdigkeit schadete, indem er gegen einen seiner Untergebenen Verdächtigungen äußerte, und die anderen Carabinieri, die in dem Posten Dienst taten, zu feindlichem Verhalten gegenüber diesem Untergebenen anstiftete, und weil er die angeblichen Fakten mit Kräften der Opposition besprach und sich den Justizbehörden zur Verfügung stellte, ohne den Dienstweg einzuhalten und ohne die Erlaubnis des Generalkommandos der Truppe einzuholen […], weil er seine Pflichten als Gebietskommandeur verletzte, indem er es unterließ, nach einem untergetauchten Verdächtigen zu fahnden, der beschuldigt wurde, ein grausames Verbrechen begangen zu haben […] zehn Tage verschärfter Arrest, nach Abbüßung desselben er zu dem Posten der Carabinieri von Strongoli in der Provinz Catanzaro versetzt wurde […].«

    Aus dem Giornale dell’Emilia vom 16. Februar 1950

    Castelfiorino, haarsträubende Bluttat

    CARABINIERIOFFIZIER VON EHEMALIGEM GEWERKSCHAFTER ATTACKIERT UND MASSAKRIERT

    Er wurde verdächtigt, das Massaker von Ca’ del Rovere verübt zu haben – die Bombe tötete einen 9 Jahre alten Messdiener

    Castelfiorino. Gestern Nachmittag wurde vor den Augen einer entsetzten Menge der Feldwebel der Carabinieri Gavino Garau, 42 Jahre, aus Oristano, von dem 30-jährigen ehemaligen Gewerkschafter Sergio Zani, wohnhaft in Castelfiorino, seit längerer Zeit im Untergrund, angegriffen und zu Tode geprügelt.

    Zani wurde wegen eines vor zwei Jahren verübten feigen Attentats, bei dem eine Bombenexplosion in der Kirche von Ca’ del Rovere den neunjährigen Messdiener Alfredo Pancaldi tötete und den Pfarrer und eine Frau aus der Gemeinde verletzte, von der Justiz gesucht. Garau hatte erfolgreich ermittelt und in kurzer Zeit die Attentäter ausfindig gemacht, Francesco Golinelli und Gerardo Beltrami, zurzeit im Gefängnis in Modena, wo sie auf ihren Prozess warten. Beltrami und Golinelli hatten ein Geständnis abgelegt und den Namen Zanis genannt, der aufgrund seiner kommunistischen Militanz besser unter dem Namen »Sowjet« bekannt war. Zani, verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern, hatte sich seiner Verhaftung durch Flucht entzogen und war spurlos verschwunden. Erst gestern tauchte Zani, mit einem Revolver bewaffnet, unerwartet im Dorf auf und erwartete vor der Bar Trattoria Da Giudo den Feldwebel Garau. Wie mehrere Zeugen bestätigten, forderte Zani Garau zum Duell auf, der das jedoch ablehnte, da ihm die Militärgesetze so etwas verbieten. Zani habe daraufhin die Waffe auf den Boden geworfen, sich auf den Feldwebel gestürzt und ihn mit Faustschlägen und Tritten besinnungslos geschlagen. Er habe auch weiter gegen ihn gewütet, als dieser bereits das Bewusstsein verloren hatte, und damit seinen Tod verursacht. Keiner der Zeugen hat irgendetwas unternommen, um den Feldwebel zu retten. Auf die Frage, warum sie nicht eingegriffen hätten, erwiderten die Besucher der Trattoria beim Verhör durch die Carabinieri, Zani »schien völlig durchgedreht zu sein, man konnte sich ihm nicht nähern«. Nachdem er seinen Racheakt vollzogen hatte, begab sich der Ex-Gewerkschafter spontan zum Posten der Carabinieri und stellte sich.

    Der Leichnam Garaus wird morgen über Livorno nach Sardinien eingeschifft. Er wird in Oristano mit militärischen Ehren und einer Ehrenwache beigesetzt. Sein Mörder wurde ins Gefängnis nach Modena überstellt, wo er auf seine beiden Komplizen trifft.

    Kurz nach dem tragischen Ereignis gab die Arbeitskammer von Castelfiorino bekannt, sie habe nur wenige Tage zuvor bei der Staatsanwaltschaft Bologna Strafanzeige gegen Garau gestellt. Man habe ihn wegen mehrerer Straftaten angezeigt, von der Vortäuschung von Straftaten bis hin zu schwerer Körperverletzung, die er mehreren Verdächtigen zugefügt habe. In einer Mitteilung sprach Floridano Pettenati, Sekretär der lokalen Democrazia Cristiana, von »purer Leichenfledderei durch die Kommunisten und ihre Verbündeten, die mit vulgären Verleumdungen den noch warmen Körper eines verdienstvollen Staatsdieners schänden«, außerdem wies er auf »das Klima von Einschüchterung und Gewalt in Castelfiorino [hin], für das professionelle Aufwiegler wie Sergio Zani verantwortlich sind«. (B. M.)

    Brief von Guido Cortesi an Caterina Mengoli, verheiratete Zani, 16. Februar 1950

    Liebe Caterina,

    du darfst nicht glauben, was in der Zeitung steht. Auch wenn sie aus Scham den Namen geändert hat, bleibt sie doch die Zeitung der SS und der Schwarzen Brigaden, der Gutsbesitzer und der Polizei. Es war nicht so, wie sie schreiben.

    Sowjet ist zurückgekommen, weil er es nicht mehr ertrug, in seinem Versteck auszuharren, während der verfluchte, verrückte Garau dich weiter belästigte und die Genossen bedrohte. Wer, wie Leutnant Rizzi, die Missetaten dieser Bestie anklagte, wurde isoliert und bestraft, während er selbst Ruhm einheimste, weil er gegen die rote Gefahr kämpfte. Sowjet war niemals feige, und er hat das getan, was ein Mann tun muss, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Du kannst immer stolz auf ihn sein und den Kindern erzählen, dass ihr Papa nicht in einem Loch verrecken wollte, ohne etwas getan zu haben.

    Ich weiß nicht, wo er die ganze Zeit gewesen ist, aber vor drei Nächten hat er an mein Fenster geklopft, ich bin aufgewacht und habe die Fensterläden geöffnet. Mir standen die Haare zu Berge, ich glaubte ein Gespenst zu sehen. Er hatte einen langen Bart, wie zu der Zeit, als wir bei den Brigaden waren. Er hat mich gefragt, ob ich ihm zu essen geben und ob er ein oder zwei Tage bei mir bleiben könne. Ich habe keine Fragen gestellt. Ich wusste, warum er zurückgekommen war, ohne dass er es mir hätte sagen müssen. Im Leben eines Menschen kommt der Augenblick, da muss man sagen: Schluss damit, und das tun, was richtig ist, ohne daran zu denken, was es dich kosten könnte.

    Er war bei mir im Haus, im Zimmer über der Bar, bis gestern gegen Mittag, als Garau auftauchte, der hin und wieder kam, um hier zu essen. Er wusste, dass wir anderen alle Genossen sind, und als der Bastard, der er nun einmal war, machte es ihm Spaß, uns mit seiner Gegenwart zu ärgern, und das sagte er uns auch! Er sagte, unser Hass mache ihn noch stärker. Er wusste, dass ihn die Uniform schützte. Ich konnte ihn nicht rauswerfen und niemand konnte die Hand gegen ihn erheben. Niemand außer Sowjet. Als er den sardischen Tonfall hörte, kam er mit dem Revolver in der Hand die Treppe herunter. Ich habe es ja schon gesagt, aber es war, als erscheine ein Geist. Als sie ihn erkannten, verstummten die Gäste, einer nach dem anderen. Ein paar haben gelächelt, einer hat ihn mit der geschlossenen Faust begrüßt, und auch er hat gelächelt.

    Hättest du das Gesicht Garaus sehen können, als er plötzlich vor ihm stand! Sein Kehlkopf hüpfte auf und ab, und er brachte keinen Ton heraus. Sowjet hat sich an seinen Tisch gesetzt und mit dem Revolver auf sein Gesicht gezielt. Er hat ihn entwaffnet und leise mit ihm geredet, so leise, dass niemand etwas verstehen konnte. Dann sind sie aufgestanden und auf den Platz gegangen, und wir alle hinterher. Sowjet hat die beiden Pistolen gezeigt, die er in der Hand hatte, und dann gesagt: »Die brauche ich nicht, dieser Verbrecher verdient es nicht, dass man auch nur ein Gramm Pulver an ihn verschwendet«, und hat die Pistolen auf den Boden geworfen. Dann hat er Garau angeschaut und gesagt: »Ich werde dich mit bloßen Händen töten.« Garau hat sich brüllend auf ihn geworfen und ein großes Schnappmesser gezogen, so ein Messer, das man in der Gegend benutzt, aus der er stammt. Sowjet hat sein Handgelenk gepackt und ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst, dann noch einen und noch einen. Er hat ihm weiter ins Gesicht geschlagen und ihn dabei auf den Beinen gehalten. Alle haben ihn angefeuert, während er diesem Tier die Nase zertrümmerte und die Zähne ausschlug. Dann hat er seinen Arm losgelassen, und Garau ist zusammengesackt wie ein leerer Sack, tot. Es stimmt nicht, dass Sowjet sich noch über ihn hergemacht hat, als er schon auf dem Boden lag.

    Nachdem er Atem geschöpft hatte, ließ Sowjet sich ein Glas Rotwein bringen, dann bat er uns, ihn zur Kaserne zu begleiten, denn wenn wir ihn begleiteten, würden die Carabinieri ihn nicht sofort umbringen.

    In der Zeitung steht, dass sie ihn in dasselbe Gefängnis stecken wie Checo und Jerry. Sie werden ihn mit offenen Armen aufnehmen, und sie werden ihn dafür beglückwünschen, dass er diesen Folterknecht aus dem Verkehr gezogen hat. Ich bin sicher, dass sie auch in der Partei und in der Gewerkschaft so denken. Aber das sind delikate Angelegenheiten, und man darf das nicht überall herumerzählen und riskieren, dass uns die Reaktionäre als blutrünstige Monster hinstellen! Aber alle denken so, da kannst du sicher sein, und wir fühlen uns alle mit dir verbunden, und wenn nötig, sind alle bereit, dir zu helfen. Es wird nicht einfach für eine Frau, die Kinder großzuziehen, mit dem Mann im Gefängnis, noch dazu einem Genossen, der einen Carabiniere umgebracht hat. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich brauche eine Bedienung. Wenn du zu mir kommst, kannst du die Kinder mitbringen und sie im Auge behalten, wenn du weiterhin auf dem Land arbeitest, geht das nicht. Mich würden sie nicht stören, für die Kinder von Sowjet würde ich mich in Stücke reißen lassen. Du wirst schon sehen, wir werden es schaffen, wir werden es so gut machen, dass auch Sowjet stolz auf uns sein wird, genauso stolz wie wir auf ihn.

    Es umarmt dich,

    Guido

    6. WEGE DES HASSES (DIE FORNI)

    1936 verließ mein Vater den armseligen Hof auf einem Hügel in der Nähe von Imola und zog in die Stadt. Auch wenn er kein Mitglied der faschistischen Partei war, gelang es ihm, bei der Cogne eingestellt zu werden. Sein Glück war, dass der erste Direktor der neuen Waffenfabrik der Hauptmann war, unter dem er im Krieg von 1915–18 als Artillerist des Jahrgangs ’99 gedient hatte.

    Der Bürgermeister brachte uns provisorisch in einer ehemaligen, nicht mehr benutzten Kaserne der Königlichen Kavallerie in der Nähe der Kirche San Domenico unter. Nach fast einem Jahr zogen wir in eine größere Wohnung, weil wir schon acht Kinder waren. Es handelte sich um einen Häuserblock in der Via Callegherie, der I Forni, die Öfen, genannt wurde, weil hier vor zweihundert Jahren die größte Bäckerei der Stadt untergebracht war. Das gemeindeeigene Gebäude wurde mittellosen Familien, die keine Miete zahlen konnten, zur Verfügung gestellt.

    In diesem Häuserblock hatte die Stadtverwaltung Ställe für die Pferde der Müllabfuhr eingerichtet, sowie einen Hundezwinger, in dem herrenlose Hunde mit vergiftetem Fleisch aus der Welt geschafft wurden. Man hörte sie stundenlang jaulen, bevor sie verendeten.

    Im ersten Stock befand sich ein Schlafsaal für Obdachlose, und im oberen Stockwerk wohnten die Verzweifelten, die am sozialen Leben nicht mehr teilnahmen.

    Es gab nur zwei Toiletten. Eine war im mittleren Stockwerk, auf einem schmalen Gang ohne Dach, und durfte nur von den Bewohnern dieses und der darüber liegenden Stockwerke benutzt werden, einschließlich der Älteren aus dem Schlafsaal, die häufig auf den Boden kackten. Man musste aufpassen, wohin man trat. Die zweite Toilette befand sich im Erdgeschoss und stand allen anderen zur Verfügung, einschließlich besonders beherzten Fremden. Im Hof, der immer mit Pferdeäpfeln übersät war, gab es einen Wasserhahn für das ganze Gebäude.

    Gestank und Fliegen waren im Sommer unerträglich. Bei einbrechender Dunkelheit kamen Hunderte Küchenschaben unter dem Fußboden hervor, und sobald man das Licht einschaltete, zogen sie sich blitzartig unter lautem Geraschel wieder zurück.

    Alle drei, vier Tage kam ein Angestellter der Stadtverwaltung mit Kreolin, einem flüssigen Desinfektionsmittel, das den Gestank etwas dämpfte.

    Wir lebten schlecht, sehr schlecht, und wir schämten uns, an einem Ort zu wohnen,

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