Mein Leben mit den Asylanten: Deutsche Zeitgeschichte
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Mein Leben mit den Asylanten - Julia Remmers
Manuela
Kapitel 1
Heute ist Samstag. Bis jetzt ist alles ruhig im Haus. Komisch, am Wochenende ist es ruhiger als unter der Woche. Kann sein, dass sie es spüren. Ich glaube, sie achten viel mehr auf Gefühle als wir. Die Energie ist jedenfalls gut. Ich kann es fühlen. Wie immer läuft der Staubsauger. Radhey ist wie jeden Tag am Saugen. Er saugt und saugt, bis das Gerät heiß läuft. Wir nennen ihn liebevoll Spider-Man. Wenn er nichts mehr zum Saugen findet (nach ungefähr drei Stunden), schnappt er sich einen Staubwedel und geht auf Spinnen-Jagd. Da unser Haus abseits vom Trubel auf einer Anhöhe liegt, findet er natürlich auch jeden Tag welche. Das sind seine Erfolgserlebnisse. Er ist Afghane, mit seiner Familie geflohen – man merkt, er kommt aus einer guten Familie. Er kann nie mehr zurück. Als Hindu in Afghanistan droht ihm die Todesstrafe. Denke jetzt öfter darüber nach. Ein paar Stunden mit dem Flugzeug – eine ganz andere Welt – morden und ermordet werden ist an der Tagesordnung. Ein bildschöner Mann mit einer hübschen Frau und zwei ganz süßen Kindern. Seine Mutter lebt auch bei ihnen. Er raucht und trinkt niemals in Gegenwart seiner Kinder. Er möchte ihnen wirklich ein Vorbild sein. Er weiß ganz genau, Kinder sind ein Spiegel der Eltern und leben das nach, was wir Ihnen vorleben. Sie wohnen nicht mehr bei uns im Hotel, sie haben im Dorf durch das Landratsamt eine kleine Wohnung gefunden. Aber jeden Tag ist er hier. Es ist Abend geworden, Spider-Man hat noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Wir alle sitzen auf der Terrasse und genießen die Abendsonne. Auch Spider-Man trinkt eine Feierabend-Halbe. Es schmeckt ihm heute besonders gut. Jody, seine Frau, hat schon zwei Mal angerufen, er soll endlich nach Hause kommen. Aber er mag und mag heute nicht heimgehen. Ist nicht viel anders als in Bayern, wenn die Männer im Wirtshaus sitzen. Ein drittes Mal klingelt das Telefon. Diesmal ist es nicht seine Frau, es ist seine Mama. Und husch, ist er verschwunden. Alles lacht und lästert, aber auch in den anderen Ländern wird es nicht anders sein. Jetzt im Sommer spielt sich das Leben im Biergarten und auf den Balkonen ab. Langsam kommt die Nacht und wir als Familie hören noch dem fremden Stimmengewirr zu. Es ist eigenartig und faszinierend. Mitten im tiefsten Bayern leben wir. Meine Tochter und ich, ihr Vater und ungefähr dreißig Asylanten in einem Haus. Und es funktioniert. Trotz der Sprachschwierigkeiten können wir uns immer irgendwie verständigen. Arabisch, deutsch, englisch, irgendwie klappt das immer.
Und morgen gibt es wieder viel zu erleben. Jeden Tag passieren viele lustige kleine Geschichten. Unser Leben ist so richtig bunt geworden.
Montagmorgen. Einige dürfen in den Gemeinden arbeiten. Sie werden bereits um sieben Uhr abgeholt. Montag, Dienstag und Mittwoch. Dazu gehört unser Spezialist Vedat. Vedat ist Kurde und mag am liebsten schlafen. Er wollte aber unbedingt auch arbeiten. Aber die Regeln macht er. Er weiß am Abend noch nicht, ob er am nächsten Tag noch müde ist, dann kann er doch nicht arbeiten. Er ist der Ansicht, Schlaf ist wichtiger als Arbeit. Und so gibt es kleine Reibereien mit der Gemeinde. Vedat, du musst morgen aufstehen. Ich weiß noch nicht, ob ich noch müde bin. Wir müssen lachen, der Gemeindearbeiter, der ihn einteilt, lacht nicht mehr. Am nächsten Tag steht Vedat auf, obwohl er noch müde ist. Die Arbeit ruft. Um neun Uhr ist Pause – auf einmal ist Vedat verschwunden. Er war so müde, er ging heim. Ab in die Flohkiste. Die Gemeine findet das gar nicht lustig. Er braucht gar nicht mehr kommen. Das hatten wir noch nie – der Kommentar der Ausländerbehörde. Im Allgemeinen sind die Gemeinden froh, es sind doch billige Arbeitskräfte. So ist halt das Leben in Deutschland. Vedat versteht die Welt nicht mehr. Warum sind die Deutschen nur so kleinlich. Und er schläft sich erst mal richtig aus. Eine Woche später möchte Vedat unbedingt wieder arbeiten. Das Nein der Gemeinde interessiert ihn erst einmal gar nicht. Er geht einfach fröhlich hin und siehe da, er wird nicht heimgeschickt. Ganz stolz kommt er heim und erzählt, er darf wieder arbeiten, aber nur, wenn er auch arbeitet, wenn der müde ist. Er versteht nicht, dass wir in Deutschland nicht auf unseren Körper hören, aber er sagt, er gibt sein Bestes. Mal schauen, wie lange das jetzt gut geht. Aber er kommt ja aus einem anderen Land. Andere Länder, andere Sitten. Und wir hoffen, dass wir noch lange was zum Lachen haben. Eben ist er ganz stolz an mir vorbei gegangen – in Arbeitskleidung – er macht gerade Mittag. Er lacht mich ganz stolz an – Vedat ist super, Vedat heute in Arbeit. Und irgendwie bin ich ein bisschen stolz auf ihn. Sie sind mir schon alle richtig ans Herz gewachsen.
Morgen kommen wieder acht Neue. Sie bleiben aber nur für zehn Tage. Dann wird in Garmisch etwas Neues eröffnet. Man muss helfen, soviel man helfen kann. Überlegen, wie bringt man sie unter. Betten müssen umgebaut werden.
Meine Tochter ist nach Garmisch gefahren, um das Auto anzumelden. Wir haben uns einen Freelander-Jeep geleistet, natürlich gebraucht. Wir benötigen für den Winter ein Allrad-Auto, damit wir den Berg hochkommen. Bei so vielen Leuten ein absolutes Muss. Einkaufen, jemand kann krank werden, vielleicht bekommt eine der Frauen ein Baby, ein Hotel-Baby haben wir schon. Das ist eine sehr traurige Geschichte, die leider kein Happy End haben wird. Familie Arift lebt jetzt seit ungefähr fünf Monaten bei uns. Eine ganz liebe Familie. Vor allen Dingen Senada, die Ehefrau, ist sehr in sich gekehrt. Selten sieht man sie lächeln. Wenn sie lächelt, freue ich mich. Sie hat Schreckliches erlebt. Ihr Mann möchte Dani genannt werden, heißt aber Ardijan. Sie kommen aus dem Kosovo. Und da ist offiziell kein Krieg, darum werden sie heim geschickt. Dani geht auch arbeiten – er ist sehr fleißig, sagt die Gemeinde. Er würde alles tun, wenn er in Deutschland bleiben dürfte. Aber so sind halt die Gesetze. Er meint immer noch, dass wir da irgendwie Einfluss haben, versteht nicht, dass wir nur das Hotel sind. Die kleine Sophie, gerade mal drei Jahre alt, ist ein auffälliges Kind, so sagt man in Deutschland. Schreit und weint viel, kratzt sich selber blutig. Ich glaube ganz einfach, sie fühlt die Angst der Mutter.
Senada war schwanger, als sie kamen und darum durften sie bleiben. Aber irgendwann ist das jetzt vorbei. Sie hatte eine schwere und lange Geburt, nicht normal für das dritte Kind. Sie wollte das Kind nicht gebären, sie wusste, dass sie dann nicht mehr bleiben kann. Am 08. Juli kam ich vom Abendspaziergang mit meinem Hund Icy zurück, Dani wartete schon aufgeregt. Senada. Sofort lief ich in ihr Zimmer. Sie hatte Fruchtwasser verloren. Krankenwagen anrufen – die Bergwacht war sofort da. Ich hielt ihre Hand und sah in ihren Augen die Angst. Aber ich konnte nicht mit, sonst wäre meine Manuela ganz alleine gewesen. Und so brachte man sie nach Garmisch. Dani musste ja bei Migel und Sophie bleiben. Nach Garmisch ins gleiche Krankenhaus, in dem vor 42 Jahren, am 26. Februar meine Tochter Manuela geboren wurde. Der Arzt meinte, beim dritten Kind ist das ganz schnell vorbei. Am nächsten Morgen rief ich gleich an. Die Hebamme beruhigte mich, sie hat noch keine Wehen, die Geburt wird jetzt eingeleitet. Jede Stunde anrufen, in Gedanken immer bei Senada. Um 21.34 Uhr brachte sie dann endlich ihr Baby zur Welt. Sie hatten noch nicht einmal einen Namen für ihn. Erst am nächsten Tag hatten sie sich entschieden. Unser Hotel-Baby heißt Andreas. Ein deutscher Name. Er ist ein ganz braves, süßes Kind. Und ich bemühe mich, ihn nicht so oft zu streicheln. Denn dieses kleine unschuldige Wesen geht einer ganz ungewissen Zukunft entgegen. Einer Zukunft, die wir uns gar nicht vorstellen können. Es macht mich sehr traurig. Denn wir leben in einer sehr sicheren Welt.
Bin ich dankbar genug, dass ich in diesem Land geboren wurde? Nehme ich alles in diesem Land als zu selbstverständlich hin? Die Sicherheit – die Krankenversicherung, genug zu essen, einfach das Gefühl, versorgt zu sein. Wir sind doch nur ein kleiner Teil der Erde. Früher habe ich auch nie darüber nachgedacht, welch ein Vorrecht wir haben, dass es uns so gut geht. Wir haben niemals Hunger gehabt, immer in einem weichen Bett geschlafen. Danke – einfach nur danke.
Ich werde alles daran setzen, unser Hotel zu einer Heimat und einer Friedensfabrik zu machen. Und sei es nur vorübergehend für unsere Muckel.
Manuelas Vater nennt sie Muckel – und alles, was für ihn ein Muckel ist, ist ganz was Nettes.
Heute ist ein ganz großer Tag. Katharina und Vlad heiraten. Sie sind beide aus der Ukraine geflohen und suchen in Deutschland Schutz. Vlads Mutter ist mit einem Deutschen verheiratet. Katharina ist eine wunderschöne dunkelhaarige junge Frau — sie würde jederzeit als Modell durchgehen. Vlad ist Journalist, er hat Dinge geschrieben, die der Regierung nicht gepasst haben. Darum wurde er verhaftet, misshandelt und weggesperrt. Und Katharina blieb jedes Mal allein mit der Angst, ob sie den Mann, den sie über alles liebt, jemals wiedersehen wird. Endlich haben sie Papiere und dürfen heiraten. Es ist wichtig, es sitzt ihnen die Angst im Nacken, dass Katharina ausgewiesen wird. Sie wurde ja niemals verfolgt. Dann das letzte Hindernis. Der Stiefvater von Vlad erleidet einen Herzinfarkt und wünscht sich sehnsüchtig, dass die Hochzeit verschoben werden soll. Sie überlegen nochmals und entscheiden dann aber, nein, jetzt soll die Hochzeit sein. Dann kann nichts mehr geschehen.
Von ihrem Taschengeld haben sie ein Fass Bier und 6 Flaschen Wein gekauft. Alle sollen mit ihnen feiern. Und dann erscheint die junge Braut in einem zarten weißen Mini-Spitzenkleid. Sie ist wunderschön. Meine Tochter und ein Freund sind die Trauzeugen. Auch sie haben sich in Schale geworfen. Und dann geht es los. Eigentlich sollte sie eine Kutsche abholen. Aber unser Nachbar, ein Bauer will für die Fahrt hundert Euro. Dieses Geld können sie besser anders verwenden. Und da unser Auto kaputt ist, und ein Leihwagen, ein nagelneuer Freelander vor der Türe steht, fahren wir mit dem Wagen. Die beiden strahlen vor Glück. Während sie auf dem Standesamt sind, werden in ihrem Zimmer Luftballons aufgeblasen und die Glückwunschkarten mit dem Geld hingelegt. Katharinas Mutter hat auf das Konto meiner Tochter tausend Euro überwiesen. Heimlich wurde das Geld geholt und auch ins Zimmer gebracht. Ein Geschenk ihrer Eltern aus der Ukraine. Wie gerne wären sie hier bei ihrer Tochter. Wie werden unsere beiden Turteltauben strahlen, wenn sie das alles sehen.
Endlich kommen sie zurück. Alle warten auf unser Brautpaar. Zur Begrüßung müssen sie erst einmal zusammen Holz sägen. Die alten Bräuche aus Bayern sollen nicht in Vergessenheit geraten. Alle Mitbewohner warten und gratulieren. Dann gibt es einen Sektempfang. Sie sollen diesen Tag nie vergessen. Am Abend wird bei strahlendem Wetter eine Party veranstaltet. Alle sind gekommen, um mit dem jungen Paar zu feiern. Zu vorgerückter Stunde schalten unsere Buben ihre Handys an. Arabische Musik dröhnt aus dem Handy. Dann stehen sie auf und tanzen einen syrischen Hochzeitstanz. Fremd und faszinierend. Die dunklen Augen funkeln in der Dunkelheit. Und die Sehnsucht nach der Heimat, nach der Freundin und den Eltern steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Syrien, die Heimat, die so weit weg ist. Auch ich bin total gefesselt und fasziniert. Sehe Bilder wie aus Tausendundeiner Nacht vor mir. Syrien muss ein wunderschönes Land sein. Ich stelle mir den Sternenhimmel in Syrien vor. Die Dörfer, aus denen sie geflohen sind. Die Eltern, die ihr ganzes Geld geopfert haben, damit sie ihre Söhne außer Land bringen. Und ich fühle die Sehnsucht unserer Buben. Die Sehnsucht nach ihren Mädchen und Frauen. Wie viele Jahre wird es dauern, bis sie endlich wieder die Heimat sehen. Heimat, dieses schöne Wort. Reich ist der, der eine Heimat hat. Einen Ort, ein Haus, eine Wohnung, wo er hingehört. Da gehöre ich hin, egal was passiert.
Einige trinken das erste Mal im Leben bayerisches Bier und werden wohl morgen das erste Mal einen Kater haben. Aber auch das gehört zum Leben in Bayern. Dann sind die wehmütigen Augenblicke vorbei und alles strahlt wieder mit dem Brautpaar um die Wette. Katharina hat öfter Freudentränen in den Augen. Sie sagt zu meiner Puppi und zu mir: „Wir sind so glücklich, daß wir hier sein dürfen – ihr seid jetzt ein Teil unserer Familie." Sie kommen aus einem ganz großen Asylantenheim. Achthundert Menschen sind hier auf engstem Raum zusammen gepfercht. Zwanzig Menschen schlafen in einem Zimmer und teilen sich eine Toilette. Die Dusche muss mit noch mehr geteilt werden. Dass hier die Gewalt regiert, darf wirklich niemanden wundern. Aber jetzt haben sie ein eigenes Zimmer ganz für sich allein, in dem sie jede Nacht kuscheln können. Aber immer im Hintergrund die Angst: Dürfen wir bleiben oder werden wir wieder in eine ungewisse Zukunft geschickt. Ich werde diese Hochzeit nie vergessen und bin glücklich, dass ich ein klein wenig mithelfen durfte, dass die Beiden ihr Glück an diesem Tag so genießen konnten. Am nächsten Tag sind zwei unserer Buben krank. Ja das bayerische Bier. Es wird gejammert und wir müssen viel Kamillentee kochen. Aber es war so schön.
Mit den neuen Asylanten gibt es in den ersten Tagen immer Unruhe und Aufregung. So auch mit unserer neuen Familie aus Mazedonien. Sie bleiben nur zehn Tage in unserem Hotel, dann werden sie nach Garmisch verlegt. Er, Sergej, sieht nicht gerade vertrauenserweckend aus. Sie, Perijan, ist eine ganz dunkelhaarige, schöne Frau. Ihre Augen sind so ehrlich. Ich mag sie. Wie alle müssen sie erst lernen, dass man das Essen nicht mit den Fingern anfasst, sondern eine Gabel nimmt, wenn man sich am Buffet bedient. Bei uns ist es die Schlacht am warmen Buffet. Manchmal sieht es wirklich so aus. Nach ein paar Tagen normalisiert sich das alles wieder. Aber auch bei Hotelgästen sieht es manchmal nicht besser aus. Nach einer kurzen Diskussion mit Sergej gehen sie nach dem Essen auf ihr Zimmer.
Keine fünf Minuten vergehen, sie schreit wie am Spieß: „Gitti, schnell, komm und schau nach meinem Mann!" Ich lasse alles stehen und laufe die Treppen nach oben. Er liegt im Bett und schüttelt sich in einem Krampf. Er ist gar nicht ansprechbar. Schnell nach unten und sofort den Notarzt anrufen. Die Bergwacht ist bereits nach vier Minuten da, sie sind ja vom Dorf. Der Notarzt kommt nach zehn Minuten. Inzwischen ist Sergej bewusstlos. Die Minuten dauern endlos. Die Sanitäter tragen ihn die Treppen hinunter. Der Notarzt fährt mit dem Sanitätsauto mit, Sergej ist nicht stabil. Mittags hat er schon 39,6 Fieber. Infusionen im Kopf, Verdacht auf einen Schlaganfall. Ich stehe mit seiner Frau vor dem Rettungswagen und wir schauen zu, wie er angeschnallt wird. Dann ist die Türe zu, mit Blaulicht geht es in die Klinik nach Garmisch. Ich schaue in ihre Augen, sehe