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Sieben Romänchen: Erzählte Miniaturen aus der Schweiz
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Sieben Romänchen: Erzählte Miniaturen aus der Schweiz
Ebook127 pages1 hour

Sieben Romänchen: Erzählte Miniaturen aus der Schweiz

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Erzählte Miniaturen aus der Schweiz.
Sechs Kurzgeschichten Schweizer Autorinnen.
LanguageDeutsch
Release dateSep 13, 2017
ISBN9783743104594
Sieben Romänchen: Erzählte Miniaturen aus der Schweiz

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    Book preview

    Sieben Romänchen - Books on Demand

    Inhalt

    Der Glücksbringer

    Der Regenschirm

    Farben der Erinnerung

    Hilarus der Senn

    Lucia Calatabella

    Reservation für acht – ohne Dessert

    Zwei Leben

    Der Glücksbringer

    Ursula Sommer-Kropf

    Für Philip

    «Wenn sich ein Marienkäfer auf deinem Arm niederlässt, darfst du dir etwas wünschen. Es wird gesagt, dass er als Himmelsbote davonfliegt und deinen Wunsch wahr werden lässt.» Ursula Sommer-Kropf

    Der Marienkäfer

    Amil Dubrovsky betrachtete nachdenklich die bereits vergilbte Karte in seiner Hand. Ein rötlicher Marienkäfer mit schwarzen Punkten schaute ihn aus grossen Augen herausfordernd an. «Ich möchte glücklich sein», stand da. Sorgfältig mit einem dünnen schwarzen Filzstift geschrieben. Die Karte stammte aus der Zeit, als Amil ein stiller 12-jähriger Junge mit glatten schwarzen Haaren, einem hellen Teint und dunkelbraunen verträumten Augen war und zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester Ana in der kleinen, hochgelegenen Stadt Kruševo im Südosten von Mazedonien wohnte. Es war an einem lauen Sommertag, an dem kein Lüftchen wehte und seine Mutter Cveta die Wäsche zum Trocknen nach draussen hängen konnte, als er und sein gleichaltriger Freund Samir ihre Wünsche für die Zukunft auf zwei identischen Glückwunschkarten formuliert hatten. «Ich möchte glücklich sein», hatten beide aufgeschrieben. Auf Amils Karte stand weiter: «Ich möchte Spuren in der Welt hinterlassen» und «ich möchte mich irgendwo zuhause fühlen». Der Marienkäfer grinste ihn an wie ein richtiger Samir-Käfer, verschmitzt und klug. Samir, der als Kind einer mazedonischen Mutter und eines französischen Vaters in der Provence lebte, verbrachte damals regelmässig seine Ferien bei Amils Familie in Mazedonien.

    Jetzt war Amil knapp 26 Jahre alt, lebte in der Schweiz und keiner seiner Wünsche hatte sich erfüllt.

    «Ich möchte glücklich sein.»

    Nein, glücklich war er nicht. Weit entfernt erinnerte er sich an das sehnsüchtige Gefühl, das ihn als Kind ergriffen hatte, wenn er staunend den klaren dunkelgrünen Ohridsee betrachtete oder mit seiner Schwester Ana am Strand ungewöhnliche Steinchen und Muscheln fand, mit welchen sie sich zu immer neuen Spielideen hinreissen liessen. Die Erinnerungen an seine Kindheit in Mazedonien hatte er fein säuberlich in einer Box zusammengestellt und unter dem Schrank verstaut. Ab und zu nahm er die Fotos hervor und betrachtete das kleine ziegelbedeckte weissgestrichene Haus, in welchem er so viele glückliche Jahre verbracht hatte, wobei ihn eine stille Sehnsucht beschlich, er dann alles wieder in die Box verstaute und die Kartonschachtel zurück unter den Schrank stellte. Er hatte einfach gelebt und mit der Zeit vergessen, sich auf die Suche nach Glück zu machen. Jetzt war sein Leben gleichförmig und fühlte sich seltsam leer an.

    Spuren hinterliess er keine. Während seine Freundin Claire nach der Kunsthochschule ihre Träume verwirklicht und mit Malkursen und Ausstellungen ihr Hobby zum Beruf hatte werden lassen, verdiente er sein Geld als Taxichauffeur in Freiburg, wo er in den letzten Monaten häufig zur Nachtschicht eingeteilt wurde. Nachtschicht bedeutete für Amil, betrunkene Teenager aufzusammeln oder bei Regen ein verliebtes Pärchen nach Hause zu chauffieren. Vor allem aber hiess es, an seinem Stammplatz am Bahnhof Freiburg gelangweilt Leute zu beobachten, die in einem der Imbissläden wie Asia Express, My Kebap und Inside Africa verschwanden oder eine Kippe rauchten. Nur um dann, wenn der nächste Zug eintraf, innerhalb von wenigen Minuten an drei verschiedene Orte in der Nähe fast gleichzeitig hinfahren zu müssen. An freien Tagen half Amil manchmal bei Monsieur Lerf aus, der in einer kleinen Werkstatt Antiquitäten liebevoll restaurierte und alte Möbelstücke abschliff, lackierte oder Polstersessel neu überzog und diese dann im kleinen dazugehörigen Laden «La Brocante» in der Altstadt von Murten verkaufte. Ein kleiner weiss gestrichener Spiegel und eine alte Kommode zeugten in der Wohnung davon. Amil fühlte sich in Murten nicht wirklich zuhause.

    «Ich möchte mich irgendwo zuhause fühlen.»

    Das war der dritte Wunsch, den er als Kind auf die Karte geschrieben hatte. Die kleine Wohnung am Stadtrand von Murten, die er seit vier Jahren mit Claire teilte, konnte man mehr schlecht als recht als Zuhause bezeichnen. Zu langweilig war der beige Block, zu klein und beengt die Wohnung, welche bloss über einen Minispielpatz und ein eigenes Kellerabteil verfügte. Eingerichtet war sie einfach und karg. Nur das Bild, das über dem Esstisch hing, gefiel ihm. Es zeigte einen graubraunen dunklen Hintergrund, den Amil gerne als Alltagsgrau und Einheitsbraun bezeichnete. In der Mitte leuchtete eine gelbe Blume, dessen feingliedrige Blütenblätter in jedem Detail sichtbar wurden. Nein, keiner der drei Wünsche war in Erfüllung gegangen. Sein Leben war gleichförmig und leer. Amil erinnerte sich daran, wie Samir ihm mit der Marienkäfer-Karte feierlich einen Glücksbringer übergeben hatte, der ihn begleiten und beschützen sollte: Ein hellgrünes, vierblättriges Kleeblatt, das sein Freund in der Provence gefunden, tagelang gepresst und dann mit einer Folie eingefasst hatte, um es Amil zu schenken. Mit der Bitte, dass er selber von Amil auch einmal einen Glücksbringer bekam. Das Kleeblatt hatte er in der kleinen Box verwahrt. Obwohl Amil sie fieberhaft durchsuchte, fand er es einfach nicht. Er hatte den Glücksbringer verloren, die Bitte verdrängt. Und nun traf er in einigen Tagen Samir in der Provence und musste ihm alles beichten. Hoffentlich fand er bis dahin einen passenden Glücksbringer für ihn.

    Provence – diesem Namen haftete etwas Fremdartiges, Geheimnisvolles an. Claire Dubois bekam durch den Galeristen Marc Solange die Gelegenheit, in Vallon de Provence fünf bis sechs ihrer Bilder auszustellen. Das Thema «Welten entdecken» passte ausgezeichnet zur Französin, die auf der ganzen Welt zu Hause zu sein schien. Amil, der darauf gebangt hatte, im Sommer endlich seine Eltern und seine Schwester in Mazedonien besuchen zu können, wusste nicht, auf was er sich einstellen sollte. Als er bei Frau Linder, einer lebhaften Kundin, die er einmal pro Woche pünktlich um 8:15 Uhr mit dem Taxi abholte, damit sie ihre drei Enkelkinder in Laupen besuchen konnte, die Provence erwähnte, geriet diese ins Schwärmen über herrliche Düfte, kleine Dörfer und weite Lavendelfelder. Amil blieb skeptisch.

    «Die Provence wird dir gut tun», meinte Claire, «da kannst du mal ausspannen und ein bisschen zu dir selber finden».

    Also kam er mit.

    An einem sonnigen Freitag Ende Juni fuhren sie bereits am Morgen los. Claire hatte seit Tagen hin und herüberlegt, welche Bilder sie ausstellen wollte und schliesslich mehrere Werke vorausschicken lassen, sodass sie nur die Koffer mit Kleidern im Zug mitnehmen mussten. Wobei der kleine viereckige Holzkoffer mit Malutensilien natürlich nicht fehlen durfte, den Claire von einer Reise zu ihren Eltern nach Paris mit nach Hause gebracht hatte.

    Amils Vorbereitung dagegen hatte sich darauf beschränkt, die Adresse seines Freundes Samir ausfindig zu machen und sich mit Kartenmaterial einzudecken. Ansonsten liess er sich auf eine unbekannte Reise ein. Sie nahmen den Zug über Fribourg nach Genf. Sobald sie im TGV sassen, suchte Claire den Bistrowagen und gab nicht eher auf, als dass sie mit zwei Croque-Monsieurs zurückkam. Während sie aufgeregt erzählte, wie sie das besondere Licht der Provence in neuen Bildern einfangen und damit den Spuren von berühmten Malern wie Cézanne, van Gogh und Picasso folgen werde, wurde es Amil immer unwohler, wenn er daran dachte, dass er noch keinen Plan hatte, wie er innerhalb weniger Tage einen Glücksbringer für Samir finden und seine Wünsche nach glücklich sein, Spuren hinterlassen und sich zuhause fühlen verwirklichen konnte. Er merkte kaum, wie das Rhonetal mit tiefen Schluchten und grünen Wäldern vorbeizog und die Landschaft danach karger und hügeliger wurde. So war er erstaunt, als sie nach einem Zugwechsel bereits am Nachmittag im kleinen Bahnhof von Sénas ankamen und sofort von Moniseur Solange, einem elegant gekleideten Mittfünfziger mit leicht ergrauten Schläfen und seiner Frau, in Empfang genommen wurden. Die beiden fuhren Amil und Claire zu ihrem Ferienhaus in der Nähe der Galerie, das sie für den Aufenthalt benutzen durften.

    Das Ferienhaus war ein gemütliches kleines Zuhause, das Marianne Solange voller

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