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Die Nadir-Variante: Ein Roman aus dem Argona-Universum
Die Nadir-Variante: Ein Roman aus dem Argona-Universum
Die Nadir-Variante: Ein Roman aus dem Argona-Universum
Ebook346 pages4 hours

Die Nadir-Variante: Ein Roman aus dem Argona-Universum

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About this ebook

Eine gigantische Flotte von Raumschiffen bringt Tod und Vernichtung über den Planeten Elgin und seine Bewohner. Der junge Pilot Paz Nadir kämpft für die Rettung seiner Heimat und um sein Überleben. Sein Weg führt ihn in die Tiefen des Alls und auf fremde Welten, wo er zum Spielball der Mächte zu werden droht.
Wer ist Hentscher Rof? Was erwartet Nadir auf der Raumstation Penquareel? Was suchen die geheimnisvollen Torshoi, die aus tiefer Vergangenheit wieder auftauchen? Welche Ziele verfolgt die Bruderschaft von Taronn? Was hat es mit den Gnossanden auf sich? Und wird Ville Sterndaal, der Herrscher von Cheros, der Verantwortung für sein Volk und ein ganzes Sonnensystem gerecht werden?
LanguageDeutsch
Release dateOct 14, 2017
ISBN9783955561024
Die Nadir-Variante: Ein Roman aus dem Argona-Universum

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    Book preview

    Die Nadir-Variante - Armin Rößler

    erschienen:

    Prolog

    Am Anfang war ein Gedanke.

    Leise, kaum verständlich, nicht zielgerichtet. Die absolute Verwirrung.

    Nur allmählich bildete sich daraus Konkretes.

    Erwachen. Sich selbst begreifen. Das Äquivalent zu: Ich … bin … da.

    Ein zähflüssiges geistiges Selbstgespräch, ein Beginn, die Bestätigung der eigenen Existenz, das Verstehen des Ichs.

    Trotzdem wurde der Gedanke gehört, an einem weit entfernten Ort, tief draußen im All. Dort setzte er einen Prozess in Gang, der seit langer, langer Zeit darauf gewartet hatte, ausgeführt zu werden. Alles verlief nach Plan, genau so, wie es einst ersonnen worden war.

    Aber der Gedanke wurde auch an einem anderen Ort empfangen. Das war so nicht vorgesehen gewesen. Dennoch löste er dort eine unmittelbare Reaktion aus.

    Eine Antwort: Freude. Willkommen. Gute Wünsche.

    Gedanken, die ebenfalls gehört wurden. An einem dritten Ort. Und sie setzten dort gleichfalls einen Prozess in Gang. Auch das hatte niemand so geplant. Schlimmer noch: Es hatte niemand damit gerechnet.

    Erstes Buch

    Kapitel 1

    Der Weltraum brannte.

    Tödliche Energiestrahlen fanden ihr Ziel, Raumschiffe explodierten, Menschen starben.

    Paz Nadir fluchte, während er seinen Jäger durch das Inferno steuerte. Er kam kaum dazu, auf die Angreifer zu feuern. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, den gegnerischen Schüssen auszuweichen. Die Daten auf seinen Schirmen verkündeten eine schreckliche Bilanz: Die Verluste waren längst im dreistelligen Bereich.

    Nadir befürchtete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch sein Schiff getroffen wurde. Aber er war noch nicht bereit zu sterben. »Heute nicht«, knurrte er.

    Die Zahl der Angreifer wuchs unaufhörlich. Die sieben riesigen Mutterschiffe hatten am Rand des Sonnensystems Position bezogen, in direkter Nachbarschaft zu dem Wurmloch, aus dem sie so überraschend gekommen waren. Sie näherten sich Elgin nicht, sondern verharrten an Ort und Stelle. Sie transportierten das Verderben vieltausendfach in sich. Sie spuckten es aus. Und es verbreitete sich rasch, wie eine ansteckende Krankheit, die nicht aufgehalten werden konnte.

    Die kleinen Schiffe hatten einen harmlosen Eindruck gemacht. Es gab keine einheitlichen Maße und keinen besonderen Bautyp. Manche hatten einen Durchmesser von nicht mehr als zehn Metern, die größten mochten hundertfünfzig Meter lang sein. Sie waren rund, röhrenförmig oder ähnelten plumpen Kästen. Einige wirkten, als seien sie aus den Überresten anderer zusammengesetzt worden; manche schienen der Phantasie eines verrückten Konstrukteurs entsprungen zu sein. Nichts ließ erkennen, dass sie zusammengehörten – außer der Tatsache, dass sie gemeinsam den Bauch der Mutterschiffe verlassen hatten.

    Da die Fremden nicht auf Funksprüche reagierten, war ihnen ein Teil der elginschen Wachflotte entgegengeschickt worden. Nadir wusste, dass das Oberkommando anfangs an eine friedliche Kontaktaufnahme glaubte, die nur aufgrund eines Verständigungsproblems nicht sofort zustande kam. Wie naiv, dachte Paz Nadir. Er selbst hatte Misstrauen verspürt, als er von den fremden Schiffen erfahren hatte. Doch er hätte, das gestand er sich ehrlich ein, keinen konkreten Grund dafür nennen können. Inzwischen war es zu spät: Jeder wusste, was die Fremden wollten. Tod und Zerstörung.

    Wie wütende Hornissen hatten sich ihre kleinen Schiffe auf die elginsche Flotte gestürzt und sie binnen weniger Minuten ohne Vorwarnung vollkommen aufgerieben. Die ersten Schüsse kamen aus heiterem Himmel, und sie hatten eine verheerende Wirkung. Die Waffen der Fremden waren mächtig, ihre Zahl groß. Die Schiffe Elgins hatten keine Chance.

    Der Schock dauerte nur kurz. Nadirs Befehlshaber wussten, was die Stunde geschlagen hatte, und sie reagierten so schnell, wie es ihnen möglich war. Die zweite Flotte, die sie zu den Fremden schickten, hatte einen klaren Auftrag: Gegenwehr. Kampf. Vernichtung des Feindes. Gelang das nicht, musste er vertrieben werden – oder so lange aufgehalten, bis Unterstützung kam. Das Oberkommando hatte Boten entsandt, die in benachbarten Sonnensystemen, bei Elgins Freunden, um Hilfe werben sollten. Nadir hoffte, dass bald die ersten Schiffe von dort eintreffen würden. Wenn es dann nicht zu spät ist, dachte er mit leiser Verzweiflung.

    Paz Nadir war auf Minman stationiert gewesen, als der Alarm ausgelöst wurde. Der Mond Machakecs, des fünften Planeten im Elgin-System, war ein kahler Gesteinsbrocken, bar jeglicher Bodenschätze und doch von großem Wert – als Stützpunkt und Trainingszentrum der Flotte. Nadir, ein junger Pilot mit umfangreicher Ausbildung, aber ohne Kampferfahrung, hatte hier den letzten Schliff erhalten. Chiantz, Mundil, Crook und ihre Kollegen zählten zu den besten Ausbildern, und sie hatten ihm, der sich für gut gehalten hatte, noch eine ganze Menge beibringen können. Wofür?, war ein Gedanke gewesen, der Nadir oft gequält hatte. Es hatte ihn immer in den Weltraum gezogen, und er fühlte sich am wohlsten, wenn er sein Raumschiff bis an die Grenzen der Belastung treiben konnte. Doch Elgin war eine Welt ohne größere Bedeutung. Die Wahrscheinlichkeit war gering, dass sein Heimatplanet seine Dienste für eine längere Zeit benötigen würde. Kriegerische Auseinandersetzungen hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Bis jetzt. Und nun bekam endlich auch wieder die Flotte ihren Sinn, über deren schrittweise Verkleinerung die Politiker immer mal wieder philosophierten, wenn sie um die Wählergunst buhlten. Was für ein Glück, dass es nicht so weit gekommen ist, dachte Nadir.

    Dennoch: Die Flotte war schon schlagkräftiger als heute gewesen. Den Fremden war sie hoffnungslos unterlegen. Die größeren Schiffe erwiesen sich als zu schwerfällig, die kleineren hatten Mühe, koordinierte Angriffe zu fliegen, war doch die Ordnung in den eigenen Reihen längst verloren gegangen.

    Nadir saß in einem der modernsten Jäger Elgins, Typ Susko-34, optisch einem klassischen Kampfflugzeug nachempfunden, rund dreiundzwanzig Meter lang, sechs Meter hoch, mit einer Spannweite von knapp fünfzehn Metern. Damit stellte er ein sehr kleines Ziel dar, das nicht einfach zu treffen war. Wichtiger noch waren seine Offensivqualitäten. Der Susko besaß eine extrem hohe Manövrierfähigkeit, die ihm eine aberwitzige Wendigkeit bescherte, er trug ein großes Waffenarsenal mit sich herum, war unglaublich schnell und verfügte über einen weiten Einsatzradius. Es war keine zehn Tage her, dass Nadir erstmals in einem der brandneuen Suskos, frisch von der Werft ausgeliefert, hatte Platz nehmen dürfen. Der Pilot fühlte sich in dem kleinen Jäger sofort wohl. Das ist genau mein Schiff, freute sich Nadir. An einen Ernstfall hatte er da noch keinen Gedanken verschwendet. Und jetzt steckte er mittendrin.

    Das Modul, das in seinem Handgelenk implantiert war, piepste leise. Er hatte eine tiefe Abneigung gegen das Gerät, doch jetzt rettete es ihm das Leben. Seine Finger flogen über die Kontrollen. In letzter Sekunde machte der Susko einen Hüpfer und wich einem grellen Strahl aus, der ihn mittschiffs durchbohrt hätte. Nadir erwiderte das Feuer: Die Energiekammern waren zu drei Vierteln gefüllt, er würde sich also eine Weile seiner Haut erwehren können, falls er lange genug lebte. Der Schuss traf, das gegnerische Schiff – ein Ellipsoid, dessen Oberfläche mit unendlich vielen Antennen übersät war, sodass es aussah wie ein überdimensionaler Igel – zerplatzte wie eine reife Frucht. »Stirb«, flüsterte Nadir und fühlte sich gut dabei. Er fragte sich nur kurz, wie die Fremden da drüben aussehen mochten, dann konzentrierte er sich wieder auf die Schlacht.

    Sein Jäger stob durch die Trümmerwolke, in die sich das Igel-Schiff verwandelt hatte. Nadir hielt Ausschau nach dem nächsten Ziel. Die Anzeigen bestätigten seine Befürchtungen: Die Übermacht war längst nicht gebrochen, und er hatte Zweifel, ob das überhaupt gelingen konnte.

    Nicht aufgeben, sagte er sich. Elgin darf nicht …

    Der Angriff kam unerwartet. Der Schuss verfehlte den Susko nur knapp, Nadir änderte instinktiv die Flugrichtung und konnte so auch dem nächsten Energiestrahl ausweichen. Er beschleunigte und feuerte gleichzeitig mit den Heckkanonen. Einen Treffer landete er zwar nicht, aber es reichte, um das andere Schiff abzuschütteln.

    Das war Glück, dachte Nadir. Er merkte, wie ihn die Schlacht mitnahm. Das Geschehen drohte, immer unwirklicher zu werden. Nadir war völlig auf seinen eigenen Weg fokussiert. Was darüber hinaus passierte, nahm er kaum noch wahr. Er schoss, wich aus, steuerte den nächsten Gegner an. Wieder und wieder. Nadir merkte es selbst: Er wurde müde. Das Beste wäre jetzt gewesen, sich aus dem Getümmel zurückzuziehen, vielleicht direkt Minman anzusteuern, und vor allem, den weiteren Kampf frischeren Piloten zu überlassen.

    Die Anzeige verriet, dass er noch das letzte Viertel seiner Waffenenergie mit sich herumtrug. Ich kann noch nicht zurück, sagte er sich. Es wäre ihm wie eine Flucht vorgekommen. Um ihn herum starben seine Kameraden. Da war es undenkbar, der Müdigkeit nachzugeben, auch wenn sie immer übermächtiger wurde.

    Nadir feuerte. Er traf. Das fremde Schiff explodierte. Und Nadir suchte sich wieder ein Ziel.

    Es wird Zeit, meldete sich die Stimme der Vernunft leise im Hinterkopf, als die Energieanzeige fast null signalisierte. Nadir verspürte ein schlechtes Gewissen deswegen, doch gleichzeitig auch Erleichterung. Er war bis an seine Grenzen gegangen, wahrscheinlich ein großes Stück darüber hinaus. Es wird wirklich Zeit, gestand er sich ein.

    Er ließ den Susko-Jäger abdrehen und suchte sich einen möglichst gefahrlosen Weg aus der Schlacht, die noch immer mit unveränderter Intensität tobte. Mit etwas mehr Distanz erkannte Nadir nun, dass die Fremden einiges an Boden gut gemacht hatten. Langsam, aber sicher drängten sie die Elginen in ihr System hinein. Und während die Wachflotte Schiff um Schiff verlor, schien sich die Zahl der Angreifer nicht zu verringern.

    Raus hier, dachte Nadir. Er brauchte ein Bett, sechs oder besser acht Stunden Schlaf, Nahrung. Dann würde er weiterkämpfen können. Bis dahin ist die Schlacht noch nicht vorbei. Sie mochte sich über Tage hinziehen. Die Elginen waren zwar deutlich unterlegen, aber sie leisteten erbittert Widerstand. Sie würden nicht einfach kapitulieren.

    Sekundenbruchteile, bevor es geschah, überkam Nadir eine Vorahnung. »Nein«, wollte er rufen, doch da war es schon zu spät. Der Energiestrahl traf seinen Jäger mit ungeheurer Wucht. Nadir wurde wie von einer riesigen Faust gepackt, die Gurte rissen, es schleuderte ihn aus dem Sitz. Viel Platz war in der Steuerkanzel nicht. Dennoch schlug er mehrfach unsanft gegen Wände und Kontrollarmaturen. Benommenheit drohte, ihn zu übermannen. Er wehrte sich gegen den dunklen Strudel, der seine Gedanken verschlingen wollte. Es fiel ihm unendlich schwer, aber er schaffte es, der Bewusstlosigkeit zu widerstehen.

    Paz Nadir rappelte sich auf. Er stöhnte, als er den stechenden Schmerz fühlte. Mit Mühe gelang es ihm, sich in den Sessel zu schieben, ehe seine Beine unter ihm nachgaben. Er spürte, wie es wärmer wurde. Feuer. Irgendwo in seinem Rücken brannte etwas. Nadir ersparte es sich, den Kopf zu drehen. Er fürchtete die neuerlichen Schmerzen. Das Feuer konnte er ohnehin nicht löschen. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass es nicht so schlimm war.

    Die noch funktionierenden Kontrollen reichten aus für einen groben Überblick. Von dem Schiff, das ihn getroffen hatte, fehlte jegliche Spur. Es musste seinen Jäger als Ausfall eingestuft und sich dem nächsten Gegner zugewandt haben. Für Glücksgefühle blieb keine Zeit: Nadir erkannte ebenso rasch, dass er es nicht schaffen würde, zurück nach Minman zu fliegen. Es würde nicht einmal reichen, um aus der Gefechtszone zu kommen. Der Susko war dem Untergang geweiht, die Steuerung irreparabel beschädigt, das Triebwerk hinüber, die Waffen nicht mehr in Betrieb. Dazu kam das Feuer: Es würde den Jäger rasch verzehren.

    Das ist der Tod, dachte Nadir. Dann fing er an, über einen Ausweg nachzusinnen.

    Er blendete den Kampf, der um ihn herum tobte, völlig aus und konzentrierte sich auf seine eigene Situation. Nadir studierte die Anzeigen fieberhaft und hoffte, dass sie ihm korrekte Werte lieferten. Nach einigen bangen Minuten entfuhr ihm ein Freudenschrei. »Das ist es«, sagte er.

    Bei dem Schiff, das nicht weit von seinem Wrack entfernt durchs All trieb, handelte es sich im Flottenjargon um eine sogenannte »Kiste«, ein wenig filigranes, aber zuverlässiges Gefährt. In seiner Kadettenzeit war er damit geflogen. Damals hatte er das plumpe Ding gehasst, weil es im Vergleich zu den modernen Jägern eine Peinlichkeit darstellte. Jetzt war er bereit, allen Kisten, die er früher verflucht und verlacht hatte, tausendfache Abbitte zu leisten. Er hatte keine Ahnung, was das Schiff hier zu suchen hatte, warum es steuerungslos zu sein schien, warum die Anzeigen des Jägers der festen Überzeugung waren, dass es trotzdem noch flugtauglich war. Auch das Modul in seinem Handgelenk bestätigte diese Informationen. All das interessierte Nadir jetzt nicht. Er musste hinüber zu der Kiste. Dann würde er doch noch nicht sterben müssen. Nicht hier und nicht heute.

    Der Himmel über dem Raumhafen leuchtete minutenlang in allen nur denkbaren Farben. Dann bohrten sich vier dunkle Silhouetten mit einem Donnern durch das Feuerwerk. Paz Nadir erkannte den Typ natürlich sofort, kniff aber trotzdem die Augen zusammen, um keine Bewegung der schlanken Jäger zu versäumen. Susko-32, die neuste Entwicklung der elginschen Ingenieure. Ein Traum, einmal ein solches Schiff steuern zu dürfen. Davon war er leider noch weit entfernt, so sehr er sich auch danach sehnte. Die vier Jäger näherten sich mit irrwitziger Geschwindigkeit dem Boden, als seien sie auf Angriffskurs, und kamen den stramm stehenden Absolventen bedrohlich nahe. Erst im letzten Moment zogen die Piloten ihre in sattem Dunkelblau lackierten Maschinen wieder nach oben. Der kleine Sturm, den sie auf dem Landefeld auslösten, brachte die Reihen der jungen Frauen und Männer nur für einen Augenblick in Unordnung, dann standen alle wieder militärisch korrekt. Sie hatten nicht umsonst vier Jahre intensiver Ausbildung hinter sich.

    Das ist es, dachte Nadir, der als einer der wenigen keinen Schritt zur Seite gewichen war. Die Simulator-Flüge mit den neuen Susko-Jägern zählten zu den eindrucksvollsten Erfahrungen, die ihm die Akademie beschert hatte. Eine letzte Prüfung war zu überstehen, ehe sich ihm die Möglichkeit eröffnen würde, leibhaftig in einem dieser ultraschnellen Schiffe zu sitzen. Falls überhaupt. Junge Piloten gab es in großer Zahl, doch das Material war knapp. Seine Heimatwelt musste sorgsam mit ihren Ressourcen umgehen. Das Kriegsgerät hielt man sich für den Fall der Fälle. Solange dieser nicht eintrat, wurden die Gelder nur zurückhaltend bewilligt.

    Trotzdem war es Nadirs Traum, eines Tages zu den Sternen zu fliegen. Nicht einfach nur von einem Punkt des Elgin-Systems zum anderen, wie er das gleich tun würde. Sondern weit hinaus ins Weltall. Er hatte das Gill erzählt. Sie hatte nur gelacht. Seither überkam ihn ab und an eine leise Unsicherheit. Was würde sein, wenn ihm sein Ziel verwehrt blieb?

    Er schaute zu den Sternen, die er vom Himmel holen wollte. Sie wurden hinter dem verblassenden Feuerwerk nach und nach wieder sichtbar. Seine Zweifel verflüchtigten sich ebenfalls. Was er sah, war die Bestätigung. Er wusste, was er wollte, was er sich seit Langem wünschte. Und er würde sich nicht davon abbringen lassen.

    Reiß dich zusammen, rief er sich zur Ordnung. Nadir richtete den Blick geradeaus und bemühte sich um Konzentration. Er wollte den letzten Schritt mit der notwendigen Ernsthaftigkeit tun.

    Zweihundert Absolventen der Akademie hatten sich auf dem Landefeld versammelt. Außer ihnen war lediglich eine Handvoll ranghoher Militärs anwesend. Das Wartungspersonal hatte seine Arbeit längst getan, Angehörige waren nicht zugelassen. Von ihnen hatten sich die neuen Piloten schon vorher verabschiedet. Persönliche Gefühle hatten hier nichts mehr zu suchen.

    Nadir stand in der vierten Reihe. Er sah sich nach Gill um, entdeckte sie aber nicht. Nadir befand sich links außen, nur wenige Meter von den vielen kleinen Schiffen entfernt. Die boten in ihrer Gesamtheit, zweihundert Stück, neben- und hintereinander aufgereiht, ein beeindruckendes Bild. Aus der Nähe wirkte jede einzelne Kiste allerdings fast putzig. Siebzehn Meter lang, zwölf Meter breit und gerade einmal vier Meter hoch, ein phantasieloser Quader, eine aerodynamische Todsünde, weil die Konstrukteure keine Rücksicht auf Flüge innerhalb von Atmosphären genommen hatten – in Nadirs Träumen sahen die Raumschiffe, die er fliegen würde, wesentlich eindrucksvoller aus. Zum Beispiel wie die Susko-Jäger, die er eben noch hatte bewundern dürfen.

    Für den Anfang …, tröstete er sich, auch wenn es schwer fiel. Die Kiste war seine erste Fahrkarte zu den Sternen. Alles andere würde sich ergeben. Zunächst musste er sich auf den Weg machen.

    »Soldaten«, sagte Generalin Bryce Lanne. Die Oberbefehlshaberin der Raumflotte war dafür bekannt, keine überflüssigen Worte zu verlieren. »Es ist sicher nicht die letzte Hürde, die Sie in Ihrem Leben zu nehmen haben. Aber es ist die letzte Hürde Ihrer Ausbildung.« Zu mehr Pathos schien Lanne nicht willens. »Dort stehen die Schiffe«, sagte die Generalin, und es klang so emotionslos, als spreche sie über den Morgenappell und nicht über den letzten praktischen Test, den die Absolventen zu bewältigen hatten. »Bringen Sie sie heil zurück.« Bryce Lanne nickte kaum merklich.

    Nadir wäre am liebsten sofort losgestürmt. Aber er wusste, dass es noch nicht so weit war. Noch fehlten ihm die Daten, welches Schiff ihm zugeteilt worden war.

    Aldt Doughar trat vor, Lannes Stellvertreter. Er war älter als seine Chefin, vor allem aber geschwätziger. Nadir stöhnte lautlos. Auf Doughars Weisheiten hätte er gerne verzichtet.

    »Absolventen«, sagte der Mann mit heiserer Stimme, die nur dank akustischer Verstärkung überhaupt zu hören war. »Sie ziehen heute aus, um Ihre Eignung für die elginsche Raumflotte nachzuweisen. Jeder von Ihnen erhält ein Schiff. Und jeder erhält nur einen einzigen Auftrag. Fliegt an den Rand des Systems, bis zum Wurmloch, macht kehrt und steuert Machakec an.«

    Nadir nickte schwach. Mit den plumpen Kisten bedeutete das eine Herausforderung. Die kleinen Schiffe verlangten ihren Piloten viel ab, und gerade in der Nähe des Wurmlochs herrschten besondere Verhältnisse. Dazu kamen unberechenbare Asteroidenfelder und ähnliche Hürden. Doch Nadir hatte keine Angst. Der Flug zum fünften Planeten würde ein Kinderspiel sein. Natürlich galt jetzt das Leistungsprinzip: Wer rechtzeitig auf Machakec ankam, flog bald weiter zum Mond dieser Welt, Minman, dem Flottenstützpunkt, wo die besten Piloten den letzten Schliff ihrer Ausbildung erhielten. Wer unterwegs die Probleme nicht meistern konnte, bekam diese Chance nicht. Stattdessen ging es zurück nach Elgin, ohne Aussicht, einen der begehrteren Posten zu ergattern.

    Aldt Doughar sagte noch vieles mehr, aber Nadir hörte nicht mehr hin und hoffte, dass Bryce Lannes Stellvertreter bald zum Ende kommen würde. Er schaute unauffällig die Reihen hinauf und hinunter, soweit ihm das möglich war. Gill konnte er immer noch nirgends entdecken. Vielleicht war das besser so. Er hoffte, sie auf Minman wieder zu treffen.

    »… dass alle gesund zurückkehren.«

    Doughar verstummte endlich, wenigstens für einen Augenblick. Nadir fühlte, wie ihn das Universum lockte. Mit ungeheurer Macht.

    »Viel Glück«, fügte Aldt Doughar überflüssigerweise an.

    Im selben Moment piepste das kleine Modul in Nadirs Handgelenk. Nadir hasste das Ding, weil es ihn unfrei machte. Jetzt hätte er es allerdings küssen können, denn es hatte endlich die Daten empfangen, auf die er sehnsüchtig wartete. Mit einer Mischung aus der kühlen Gelassenheit, die er als stolzer Absolvent der Akademie an den Tag zu legen hatte, und der brennenden Unruhe, die ihn erfüllte, marschierte er los. Das Modul zeigte ihm den Weg, und zum Glück war es nicht sonderlich weit. Sonst hätte er vielleicht doch begonnen, zu seiner Kiste zu rennen.

    Du bist hässlich, dachte Nadir abfällig über das Gefährt. Trotzdem durchströmte ihn ein Glücksgefühl, als sich das Schott öffnete. Es gab keine Schleuse wie in einem größeren Schiff, sondern nur den direkten Weg hinein. Du bist hässlich. Aber du bist jetzt mein Schiff. Wenn auch nur für kurze Zeit. Nadir ging ins Innere, fast zögerlich, ohne Eile. Mein Schiff. Dieser Gedanke euphorisierte ihn. Auch das schlichte Innere bremste seine Begeisterung nicht. Und er verschwendete keinen Gedanken mehr daran, die Kiste mit einem der Susko-32-Jäger zu vergleichen.

    Das war sein Schiff. Er würde das Beste daraus machen.

    Viel Bewegungsspielraum hatte er nicht. Der Antrieb und die restlichen Maschinen benötigten den meisten Platz. Daneben gab es nur eine winzige Schlafkoje, die er nicht brauchen würde, eine Sanitärzelle und das, was man in größeren Schiffen die Zentrale nannte, was hier aber der einzige menschenwürdige Raum war. Ein vergleichsweise großer Bildschirm, eine Reihe von Armaturen und Anzeigen, die Steuerkonsole, davor ein wenig bequem aussehender Sessel, schräg dahinter ein kleiner Tisch – das war das Inventar, und es füllte die Zentrale vollkommen aus. Nadir hatte das vorher gewusst, verstand jetzt aber die ewigen Tests auf Platzangst umso besser.

    »Willkommen an Bord«, sagte eine seelenlose Stimme.

    Der Bordcomputer. Und damit quasi das Schiff.

    »Danke«, sagte Nadir und kam sich dämlich vor, weil er sich bei einer Maschine bedankte. »Ich bin Paz Nadir«, fügte er unbeholfen an. Auf eine solche Situation hatten ihn die Tests nicht vorbereitet. Vermutlich Absicht, dachte er. Auch derartige Kleinigkeiten gehörten wohl zur letzten großen Prüfung.

    Der Computer antwortete nicht. Nadir wäre über ein »Zu Diensten« glücklich gewesen, fand sich aber auch mit dem Schweigen ab. Er wusste, was er zu tun hatte. »Dreihundert Sekunden bis zum Start«, sagte der Computer.

    Nadir ließ sich in den Sessel sinken, verschaffte sich mit einem Blick die nötigen Informationen und drückte die richtigen Tasten. In einer Art von stummem Trotz verzichtete er auf die verbalen Anweisungen, die gleichfalls möglich gewesen wären. Du kannst mich mal, dachte er. Wenn die Maschine mit ihm nur das Nötigste reden wollte, würde er es genauso halten.

    »Start«, sagte Nadir und gab auch manuell die Signale dafür. Die Kiste mochte plump aussehen, aber sie erhob sich sanft wie eine Feder vom Boden.

    Ich bin unterwegs, dachte Nadir.

    Neben seiner Kiste strebten jetzt auch dutzende andere dem Weltraum entgegen. Der große Bildschirm zeigte ihm nur die Symbole, doch Nadir nahm an, dass die zum Himmel aufstrebende Formation nun deutlich beeindruckender wirken würde als die vielen kleinen Schiffe auf dem Landefeld. Das hätte er gern gesehen.

    Nadir flog von Anfang an mit an der Spitze und ließ sich diese Position nicht mehr nehmen. Auch die Asteroidenfelder brachten ihn nicht vom Kurs ab, er manövrierte geschickt, erreichte das Wurmloch als einer der Ersten und hatte dort nur wenige Schwierigkeiten. Nur seine Sehnsucht machte ihm zu schaffen. Fast hätte er dem spontanen Gedanken nachgegeben, mitten in das Wurmloch hineinzusteuern. Dann würden ihn die geheimnisvollen Lotsen hindurch geleiten, und er würde schon heute seinem Ziel ganz nahe kommen. Unsinn, schalt er sich selbst. Die Kiste war dafür nicht gemacht. Sie würde von den Kräften, die im Wurmloch herrschten, wie von einer göttlichen Faust zermalmt werden. Daran hätten auch die Lotsen nichts ändern können. Nadir würde sterben. Und sonst nichts.

    Er blieb vernünftig, wendete und steuerte Machakec an.

    Die Kiste hielt ihn während des Flugs auf dem Laufenden. Nicht alle hatten sich so geschickt angestellt. Eine Handvoll Piloten war havariert. Zwei hatten nicht so viel Glück. Das Modul lieferte ihre Namen, und Nadir schluckte. Er hatte beide gekannt, natürlich, hatte Seite an Seite mit ihnen die letzten Prüfungen und Aufgaben bewältigt. Jetzt waren sie tot. Unwiederbringlich.

    Nadir fühlte Betroffenheit, ließ sich aber nicht von seinem Ziel ablenken. Mit jedem Handgriff hatte er die Kiste etwas besser kennengelernt, und am Ende steuerte er sie so perfekt, wie es nur ging. Niemand erreichte Machakec vor ihm. Der Funkspruch kam von Generalin Bryce Lanne persönlich. Sie gratulierte ihm. Nadir musste nicht einmal warten, bis alle Absolventen eingetroffen waren. Er durfte sofort den Flug zum Mond Minman fortsetzen. Dort erfuhr er irgendwann, dass Gill es nicht unter die Besten geschafft hatte. Für sie ging es wie für die meisten anderen zurück nach Elgin. Auf Nadir wartete dagegen die zusätzliche Ausbildung. Wie lange das dauern mochte, war nicht abzusehen. Er bedauerte, dass ihm nicht erlaubt wurde, Gill eine Botschaft zu schicken. Aber er akzeptierte es und nahm seine Arbeit auf. Je eher er gut genug für die Ansprüche der elginschen Raumflotte war, desto rascher würde er wieder einen Fuß auf seinen Heimatplaneten setzen können. Und sei es nur, um dort endgültig Abschied zu nehmen.

    Das ist beinahe zwei Jahre her, dachte Paz Nadir. Damals hatte er die Susko-32-Jäger fast verzweifelt bewundert, soeben war er im Nachfolgemodell beinahe gestorben. Aber das war nicht das Wichtigste.

    Denn er fühlte vor allem Scham, weil er heute trotz aller gefährlichen Situationen überhaupt nicht an Gill gedacht hatte. Sie war seine große Liebe gewesen, und obwohl sie unnahbar geblieben war und nie mehr als eine gute Freundin sein wollte, hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Damals, irgendwann vor dem Start vom Raumhafen Elgins, hatte er sie zum letzten Mal gesehen. In der ganzen langen Zeit hatte er nichts mehr von ihr gehört. Nadir wusste kaum noch,

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