Männer altern anders: Eine Gebrauchsanweisung
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Book preview
Männer altern anders - Eckart Hammer
begleitet.
Einleitung
Der alte Mann, das unbekannte Wesen
Ich glaube,
wir alten Säcke sind wieder sehr gefragt.
Dr. Georg Ringsgwandl
„Willkommen im Club!" waren die Grußworte der älteren Männer in meinem Umfeld, als ich meinen 50. Geburtstag feierte. Seither gehöre ich einem Club an, dem bereits jeder dritte Mann zugerechnet werden kann. Unsere Gruppe ist mit fast 17 Millionen Mitgliedern zum Beispiel doppelt so groß wie die der Ausländer in Deutschland, dreimal so groß wie die Anzahl aller Kinder im Vorschulalter oder die der Arbeitslosen. Und doch wird all diesen Bevölkerungsgruppen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den alternden Männern.
Was wissen wir eigentlich über den Mann jenseits der 50 – einmal abgesehen von der Mutmaßung, dass er wohl seinen Zenit überschritten hat und es mit ihm von nun an beruflich, körperlich und sexuell nur noch bergab geht, bevor dann irgendwann Impotenz, Inkontinenz und Demenz seine Karriere als Held beschließen? Der alte(rnde) Mann ist das unbekannte Wesen in der Gerontologie, kaum erforscht, selten besprochen. In den letzten 30 Jahren hat die Gerontologie, die Wissenschaft vom Alter(n), das Wissen über nahezu alle Fragen des Alter(n)s rasant vermehrt und den noch jungen Kontinent „Alter" fast lückenlos erforscht und vermessen. Doch den älteren Mann hat sie bei ihren vielfältigen Bemühungen weitgehend übersehen und vergessen.
Dies scheint auf den ersten Blick unlogisch. Denn Sozialforschung ist, wie der Männerforscher Holger Brandes feststellt, überwiegend Männerforschung: „Forschung von Männern über Männer und für Männer"¹. Schaut man allerdings genauer hin, geht es dabei meist jedoch nicht um Männer als geschlechtliche, sondern als universelle, neutrale Wesen, bei denen die Tatsache der Geschlechtlichkeit ausgeblendet wurde. Mensch und Mann werden nicht unterschieden und so kann das, was dem Mann als Mann eigentümlich ist, seine spezifische geschlechtsbezogene Realität, nicht sichtbar werden.
Die kritische Männerforschung, die den Mann explizit zum Thema macht, fristet noch ein Schattendasein. Sie ist im doppelten Wortsinne noch zu jung: Angestoßen von der Frauenbewegung in den 70er-Jahren reflektier(t)en die Männerforscher häufig ihre eigene Lebenspraxis, ihre Rollen als Väter, Ehemänner, ihre Berufsrollen. Die Publikationen der kritischen Männerforschung reichen so meist nur bis zum vierten, fünften Lebensjahrzehnt – entsprechend dem eigenen Alternshorizont der Forscher. Das Alter war in diesem Selbstreflexionsprozess bislang noch nicht dran, es gibt bislang, noch wenig Berührungspunkte zwischen der „männerbewegten und der „altenbewegten
Welt².
„Altwerden ist nichts für Feiglinge"
³
Männer haben fast alles untersucht und in Frage gestellt, nur nicht sich selbst. So haben auch ergrauende und ergraute männliche Gerontologen, obschon zum Teil selbst bereits ins Alter ihrer Untersuchungsobjekte gekommen, den alten Mann als Mann kaum erforscht. Vielleicht leiden sie unter einer Art „Gerophobia"⁴, der Angst des Alternsforschers vor seinem Forschungsgegenstand. Denn nahezu alle Begriffe rund um das Adjektiv „alt" sind negativ belegt und darüber hinaus sind das Alter und der alte Mann der Inbegriff von Unmännlichkeit. So gilt für die meisten Gerontologen wie für fast alle anderen Menschen auch: Alt sind immer nur die anderen.
Geschlechterfragen im Alter sind vor allem von Frauen thematisiert worden und ein Großteil der Kenntnisse über Männer ist, gleichsam als Nebenprodukt, der Frauenforschung zu verdanken. Zu Lebenslagen und Benachteiligungen alter(nder) Frauen wurden Forschungsmittel bewilligt, Programme aufgelegt und detaillierte Studien durchgeführt. Folglich stößt man unter den Stichwörtern „Alter und Geschlecht" nahezu ausschließlich auf Frauenfragen. Die Tatsache, dass der Mann je älter desto seltener wird, dass zwei Drittel der über 75-Jährigen Frauen sind, hat vielfach dazu geführt, dass der alte Mann als nicht weiter der Rede und Forschung wert betrachtet wird. So ist der alte(rnde) Mann nach wie vor ein weitgehend unbekanntes Wesen, von dem bislang lediglich gesundheitliche und sexuelle Aspekte einigermaßen erhellt sind, was nicht zuletzt mit wirtschaftlichen Interessen an einem wachsenden Gesundheitsmarkt zu tun hat.
Die wenigen gesicherten wissenschaftlichen Befunde zu Männern und Alter stoßen auf eine überraschend große Resonanz, kommt man mit Männern und Frauen jenseits der 50 hierüber ins Gespräch: Wie kann man eine nachberufliche Lebensspanne gestalten, die oft länger als die Berufsphase ist? Warum werden Ehen im Alter so asymmetrisch erlebt? Wo findet der Mann in einer weiblichen Altersgesellschaft noch seinen Platz? Wie bewältigen Männer körperliche Einbußen und Gebrechlichkeit? Warum ist die Suizidquote der alten Männer so unglaublich hoch? Warum sterben die Männer im Vergleich zu den Frauen so früh und warum wird dies überwiegend achselzuckend als „Naturgesetz" zur Kenntnis genommen?
Zu diesen und vielen anderen Fragen versucht dieses Buch Antworten zu finden. Es befasst sich mit den Herausforderungen, die sich jenseits des 50. Lebensjahres stellen. Wenn der Mann ein Alter erreicht hat, in dem Männer früher ans Sterben dachten und wo man, wie der Altersexperte Erich Schützendorf bilanziert, im Grunde genommen bereits ein ganzes Leben hinter sich hat: „Kindheit, Schule, Ausbildung, Partnerschaft, Beruf, Familie, Kindererziehung, Hobbys, Reisen, Krankheiten, Verletzungen, Niederlagen, Enttäuschungen. Die berufliche Karriere ist zu Ende, der Baum gepflanzt, das Haus noch nicht ganz, aber weitgehend abbezahlt. Jetzt könnte man sich auf das Altenteil begeben, so wie es unsere Eltern und Großeltern getan haben. Ein volles Leben neigt sich dem Ende entgegen. Allerdings steht uns im Gegensatz zu unseren Großeltern noch ein ganzes Leben bevor. Die 50-Jährigen stehen heute am Ende eines Lebens und doch mitten drin."⁵
Jeder ist alt. Nur unterschiedlich
Alter, zur Zeit unserer Groß- und Urgroßeltern noch jene kleine Spanne zwischen dem endgültigen Ende der Arbeitsfähigkeit und dem meist bald darauf eintretenden Lebensende, hat sich zu einem riesigen und beinahe unüberschaubaren Kontinent entwickelt. Alter, vor wenigen Jahrzehnten noch gleichgesetzt mit „arm und krank", hat sich so radikal ausgedehnt und ausdifferenziert, dass man von dem Alter schon längst nicht mehr sprechen kann. Das Alter ist bunt und unglaublich vielfältig, heterogener als jeder Lebensabschnitt zuvor. Das Alter gibt es nicht!
Da steht der 100-jährige Schauspieler immer noch im Rampenlicht, während der abgeschaffte Bauarbeiter mit seiner Frührente über die Runden kommt; der lebenslustige Pensionär verbringt die kalten Wintertage auf Teneriffa, während der alt gewordene Dauerarbeitslose die Welt per Fernsehen erkundet; da schreibt sich der eine zum Seniorenstudium ein, während dem anderen die Dias vom Herrn Pfarrer beim Altennachmittag gezeigt werden; der wohlhabende Senior genießt die kulturelle Vielfalt seines Seniorenstifts, während der demenziell erkrankte 60-Jährige im Pflegeheim nach Orientierung sucht.
Es macht längst schon keinen Sinn mehr, von den Alten zu reden. Wir müssen uns immer wieder neu darüber verständigen, von wem die Rede ist. Zahllos sind die Wortschöpfungen, mit denen wir die jeweilige Gruppierung beschreiben, wie etwa die jungen Alten, die alten Alten, die Fitten, die Abhängigen, die Slow-Goes, die No-Goes, die Grufties, die Selpies (second life people). Alle wollen es werden, aber keiner will es sein: alt. So werden neue Begriffe kreiert, mit denen dieses hässliche Wort umschifft werden soll: Da ist die Rede von Senioren, was irgendwie aktiver, jugendlicher und kompetenter klingen soll; politisch korrekter als „Alte ist der Begriff „Ältere
, obschon dies doch der Komparativ ist und Ältere damit eigentlich älter als Alte sein müssten.
Und so beschreibt auch dieses Buch nicht das Alter, sondern ein paar Facetten eines unfassbaren Bildes. Es lässt dazu fünf Männer zwischen 55 und 69 Jahren zu Wort kommen, mit denen ich mich ausführlich über ihr Altern unterhalten habe und die exemplarisch für fünf ganz unterschiedliche Lebenslagen stehen.
Wer alt werden will, muss jung damit anfangen
Dieses Buch will die Risiken und Chancen des Älterwerdens bei Männern sichtbar machen, vorliegende Forschungsbefunde vorstellen und Perspektiven für das Alter(n) erschließen. Es beleuchtet einerseits die „späten Freiheiten", die im Alter einen historisch so nie zuvor möglichen Entwicklungsraum eröffnen. Andererseits kann das Altern des Mannes von spürbaren und unbemerkten Krisen begleitet sein, die wahrgenommen und bearbeitet sein wollen. Diese Schattenseiten des Alter(n)s werden von vielen Männern verleugnet und verdrängt, denn das Alter ist die größte Kränkung des Mannes. Hinter der Verleugnung steht die Angst, die in dem Maße wächst, wie sie verdrängt wird. Angst kann jedoch nur bewältigt werden, wenn Schreckensphantasien durch Informationen ersetzt werden, wenn man sich den anstehenden Lebensfragen stellt. Zu einer produktiven Auseinandersetzung mit dem Alter(n) gehört deswegen immer der Blick auf Licht und Schatten, Gewinne und Verluste.
Dieses Buch ist ein Männerbuch, das sich mit Fragen des Älterwerdens und Alters jenseits des 50. Lebensjahres aus Männersicht und mit Blick auf Männer befasst. Es wendet sich an alle, die beruflich und privat mit dem Altern von Männern zu tun haben, die sich darauf vorbereiten und die damit zusammenhängenden Fragen besser verstehen wollen. Und somit ist es auch ein Buch für Frauen, die mit Männern klar kommen wollen und die sich (leider immer noch) oft mehr für Männerfragen interessieren als die Männer selbst.
Die fünf Kapitel orientieren sich an den fünf zentralen Dimensionen unseres Lebens und unserer Identität. Unser Wohlbefinden und unsere Entwicklung ruhen auf fünf Säulen der Identität, wie sie von den Gestalttherapeuten Hildegund Heinl und Hilarion Petzold beschrieben wurden: Unser Gefühl physischer und psychischer Gesundheit, unser Wohlbefinden hängen davon ab, dass wir diese fünf Säulen in einem ausgeglichenen, ausgewogenen Verhältnis halten und sie im Laufe unseres Lebens bis ins hohe Alter immer wieder aufs Neue auszubalancieren versuchen. Die Probleme, die entstehen können, wenn eine dieser Säulen brüchig wird oder wenn wir sie über Gebühr und zu Lasten der anderen verstärken, also die potenziellen „Ruinen" dieser Identitätssäulen, lassen sich in Anlehnung an ein Modell des Psychotherapeuten Nossrat Peseschkian gut ergänzend dazu beschreiben. Ist eine Säule der Identität gefährdet, wird im Alter häufig eine Rettung in zwei alternativen Richtungen gesucht, die jedoch beide in Sackgassen führen und die Identitätssäuleruinieren.
Es gibt ein drittes, von dem Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun entwickeltes Modell, mit dessen Hilfe statt dieser falschen Alternativen eine geeignete Entwicklungsrichtung beschrieben werden kann: Sein sogenanntes Werte- und Entwicklungsquadrat geht davon aus, dass jeder noch so hohe Wert, jede Tugend zur Untugend wird, wenn man sie verabsolutiert. So verkommt zum Beispiel Aktivität zur Arbeitssucht, wenn sie nicht mit ihrer Schwestertugend, der Entspannung, gepaart ist; Entspannung wiederum entartet zur Langeweile, wenn sie nicht mit der Aktivität in ein gutes Gleichgewicht gebracht wird.
Zusammengenommen sind alle drei Modelle hilfreiche Instrumente der Selbstvergewisserung, der Krisenbewältigung und der Perspektiventwicklung nicht nur im Alter,
um sich immer wieder selbst zu vergewissern, wie es um die Balance im Leben bestellt ist,
um die Auswirkungen von kritischen Lebensereignissen zu verstehen und zu bewältigen
und um Kurskorrekturen einzuleiten und neue Perspektiven zu entwickeln.
I. Gibt es ein Leben jenseits der Arbeit?
Altsein ist eine herrliche Sache,