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Dystopie Eurozone: Gruppendenken und Leugnung im großen Stil
Dystopie Eurozone: Gruppendenken und Leugnung im großen Stil
Dystopie Eurozone: Gruppendenken und Leugnung im großen Stil
Ebook861 pages22 hours

Dystopie Eurozone: Gruppendenken und Leugnung im großen Stil

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Dieses Buch beweist einmal mehr, dass es nicht um schnelle Urteile und Stellungnahmen geht, sondern um ein auf historische Zusammenhänge und ein bestimmtes theoretisches Verständnis gestütztes Wissen, aus dem die politische Kritik wie selbstverständlich folgt. Dass Bill Mitchell an den derzeit herrschenden wirtschaftspolitischen Verhältnissen in Europa kein gutes Haar lässt, mag man als Europäer bedauern, ist man intellektuell ehrlich, muss man ihm aber weitgehend zustimmen.
Bill Mitchell leistet mit seinem Buch einen großartigen Beitrag dazu, in Europa die einseitige Diskussion und die einseitige Politik zu beenden. Ganz besonders wichtig ist aber die deutsche Ausgabe, weil hierzulande die Diskussion noch viel steriler verläuft als in den übrigen Ländern. Deutschland fühlt sich im Recht, weil es erfolgreich ist. Doch der Erfolg alleine ist sowohl in den zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in den Beziehungen zwischen Nationen ein schlechter Indikator für vernünftiges Verhalten. Nur wer hinter die Kulissen schaut, die Vorgänge versteht und für dieses Verstehen einen angemessenen theoretischen Rahmen hat, sollte über Recht und Unrecht urteilen. Bill Mitchell verfügt über all diese Fähigkeiten, weswegen sein Buch hoffentlich bald zum Standardrepertoire des Faches gehört.

Heiner Flassbeck
LanguageDeutsch
PublisherLola Books
Release dateOct 27, 2017
ISBN9783944203324
Dystopie Eurozone: Gruppendenken und Leugnung im großen Stil

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    Book preview

    Dystopie Eurozone - William Mitchell

    Kapitel 1

    EINLEITUNG

    GRUPPENDENKEN

    […] ein Denkmuster, charakterisiert durch Selbsttäuschung, erzwungene Herbeiführung von Konsens und Konformität hinsichtlich gemeinsamer Werte und Moralvorstellungen. (Merriam Webster online dictionary)

    We bouwen op drijfzand [Wir bauen auf Treibsand]. (André Szász, ehemaliger Direktor der De Nederlandsche Bank, 1999)

    Dieses Buch untersucht kritisch, welche Möglichkeiten die europäischen Nationen haben, um die soziale und wirtschaftliche Krise zu bewältigen, die sie seit 2008 plagt. Dieses Buch stellt diese Möglichkeiten in einen Zusammenhang mit einem historischen Verständnis des Weges, den man einschlug, um die Wirtschaftsund Währungsunion (WWU) zu gründen. Die historischen Erfahrungen erhellen die Schwierigkeiten der Staaten, die bei sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen und ohne kulturelle Solidarität eine Währungsunion eingehen. Auch können wir dann verstehen, wie die wachsende Dominanz der neoliberalen Ökonomie, zusammen mit der französisch-deutschen Rivalität seit dem zweiten Weltkrieg, ein destruktives Gruppendenken hervorbrachte, das den Wohlstand unterminiert, die Realität verneint und brauchbare Lösungen in der Krise aufgrund ideologischer Vorbehalte zurückweist.

    Auch innerhalb der Eurozone gäbe es bessere Lösungen als die Austeritätspolitik, aber wenn man ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum erreichen möchte, dann sollte die Eurozone ordentlich aufgelöst und die nationalen Währungen wieder eingeführt werden. Wenn eine solche Lösung nicht ausgehandelt werden kann, dann ist es die beste Option für Länder wie Italien, Griechenland und Spanien, aus dem Euro auszutreten und ihre Souveränität wiederherzustellen.

    Es war nicht die Absicht der großen Visionäre in der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Europäer in eine Zwangsjacke aus Austerität und Elend zu stecken. Vielmehr wollten sie Wohlstand in Frieden. Die politischen Führer Europas haben das Europäische Projekt geschaffen, um mit Hilfe eines solchen ambitionierten Integrationsprojektes sicherzustellen, dass es keinen großen Krieg auf europäischem Boden mehr geben würde. Und dieses Projekt fing zu einer Zeit an, als es in allen entwickelten Nationen einen breiten keynesianischen wirtschaftspolitischen Konsens gab, der die Regierungen verpflichtete, für Vollbeschäftigung zu sorgen.

    Die keynesianische Ära war eine Folge der Weltwirtschaftskrise, die die Politiker lehrte, dass der Kapitalismus ohne große Interventionen der Regierung an sich instabil ist und lange Zeiten großer Arbeitslosigkeit schaffen kann. Die Vollbeschäftigung kam erst mit dem Anfang des Zweiten Weltkrieges wieder, als die Regierungen große Defizite in Kauf nahmen, um den Krieg führen zu können. Die anschließende keynesianische Ära war dann dadurch geprägt, dass die Regierungen durch fiskalische Defizite die privaten Ausgaben in dem Maße ergänzten, dass jeder, der wollte, eine Arbeitsstelle finden konnte. Der breite politische und ökonomische Konsens der Nachkriegszeit führte zu einer sehr geringen Arbeitslosigkeit in den meisten westlichen Nationen, wenngleich einige europäische Länder über längere Zeiten mit einer höheren Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten, um ihre schwachen Währungen zu stützen.

    Innerhalb dieses breiten politischen Konsenses waren die Diskussionen über eine Integration von der französisch-deutschen Rivalität geprägt. Frankreich war entschlossen, institutionelle Strukturen zu schaffen, die Deutschland darin hindern würden, es erneut zu besetzen. Es sah ein integriertes Europa als einen Weg an, um seine Dominanz in Europa zu befestigen, und war zugleich entschlossen, so wenig Souveränität wie möglich aufzugeben. Auch der Einfluss der USA in Europa störte die französischen Politiker, vor allem der Marshall-Plan, der Westdeutschland eng an die USA band.

    Für die Deutschen, die unter einer tiefen Scham wegen ihres Militarismus und ihrer Untaten litten, gab es nur einen Punkt, auf den sie stolz sein konnten, nämlich ihren wirtschaftlichen Erfolg zusammen mit der »Bundesbankdisziplin«. Deutschland wollte einerseits Teil des Europäischen Projektes sein, um Exportmärkte zu gewinnen, andererseits um die häßliche Geschichte loszuwerden. Eine krankhafte Inflationsfurcht bedeutete aber, dass diese Beteiligung nur nach den deutschen Regeln gehen konnte, anders ausgedrückt, dass Europa die Bundesbankkultur letztlich akzeptieren mußte. In diesem deutschen ›Stabilitätsumfeld‹ übersah man aber, dass der deutsche Wirtschaftserfolg von einem robusten Import der anderen europäischen Länder abhing; auch dass nicht alle Länder in einem solchen ›Stabilitätsumfeld‹ Handelsbilanzüberschüsse haben können, wurde übersehen.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die entwickelten Nationen ihre Wechselkurse an den US-Dollar gebunden, der seinerseits an den Goldpreis gebunden war, weil sie glaubten, dass dies wirtschaftliche Stabilität bringen würde. Doch dieses sogenannte Bretton-Woods-System, eingerichtet im Juli 1944, stand von Anfang an unter Druck, weil die Staaten mit Handelsdefiziten immer einen Abwertungsdruck verspürten. Um ihren Wechselkurs aufrecht zu erhalten, mußten sie folgendes tun: Ihre eigene Währung auf fremden Märkten mit ihren Währungsreserven kaufen; die Zinssätze erhöhen, um Kapital anzulocken, und die Regierungsausgaben senken, um die Importnachfrage zu reduzieren. Folglich waren die Staaten mit schwachen Währungen oft mit reduziertem Wachstum, höherer Arbeitslosigkeit und leeren Währungsreserven konfrontiert, was politische Instabilität schuf. Um zu funktionieren setzte dieses System also voraus, dass alle Beteiligten mehr oder minder die gleiche Handelsstärke haben, was natürlich unmöglich war und letztlich zu seiner Auflösung führte.

    Die französisch-deutsche Rivalität hatte auf dem Weg zur Währungsunion eine Folge von ineffektiven Kompromissen zur Folge. Der Vertrag von Rom 1957 war stark zugunsten von Frankreich und zulasten der Invasoren Italien und Deutschland verfasst; aber die wachsende industrielle und Exportstärke Deutschlands wurde eine immer stärkere Bedrohung der französischen Wirtschaft. Die deutsche industrielle Ambition führte schließlich dazu, dass Frankreich einen Kompromiss eingehen mußte und auf einen Teil der nationalen Souveränität verzichtete. Die frühen Erfahrungen mit dem gemeinsamen Agrarmarkt, der 1962 als die erste große Initiative der neugegründeten EWG eingeführt wurde, hätte allen Staaten Europas klar machen sollen, dass eine Währungsunion ein vergebliches Unternehmen sein würde. Denn Frankreich wollte die französischen Bauern schützen und Deutschland wollte seinen industriellen Exportmarkt expandieren. Um diese Ziele zu erreichen, stimmten die Deutschen zu, durch den Gemeinsamen Agrarmarkt die französischen Bauern zu subventionieren: eine bis heute nagende Spannung. Die administrative Durchführbarkeit erforderte sehr stabile Wechselkurse, da eine große Zahl an landwirtschaftlichen Preisen in der ganzen Gemeinschaft unterstützt werden mußten. Sobald die Mitgliedsstaaten im gemeinsamen Agrarmarkt eingeschlossen waren, mußten sie also die unlösbare Aufgabe bewältigen, ihre Wechselkurse beizubehalten. In den 1960er Jahren wurde die D-Mark die stärkste Währung, weil die deutsche Exportstärke stieg, was Frankreich und Italien unter ständigen Abwertungsdruck stellte, zur Stagnation der eigenen Wirtschaft führte und den gemeinsamen Agrarmarkt unterminierte. Die verschiedenen Übereinkommen, um feste Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen zu erreichen, scheiterten alle aufgrund der unterschiedlichen Exportstärke der Mitgliedsstaaten. Doch anstatt die vernünftige Lösung zu wählen und die Idee fester Wechselkurse aufzugeben, beschleunigten die europäischen Politiker den Weg zu einer gemeinsamen Währung, als das Bretton-Woods-System 1971 zusammenbrach. Auch daraus wurde also nicht gelernt.

    1970 legte der Werner-Bericht einen umfangreichen Zeitplan vor zur Schaffung einer vollen wirtschaftlichen und politischen Union bis zum Ende des Jahrzehnts. Klar war, dass die Kommission eine zentralisierte monetäre und fiskalische Politik wollte, wobei das »Entscheidungszentrum für die Wirtschaftspolitik […] politisch dem Europäischen Parlament Rechenschaft schuldig sei« (Werner-Bericht, 1970: 13). Eine spätere Studie des MacDougall-Ausschusses unterstrich 1975 ebenfalls, dass eine effektive Wirtschaftsund Währungsunion eine starke fiskalische Präsenz auf der Unionsebene notwendig machte. Sie stellten fest, »dass es noch für viele Jahre höchst unwahrscheinlich ist, dass die Gemeinschaft so stark fiskalisch integriert sein wird, wie es in den existierenden wirtschaftlichen Unionen der Fall ist, die wir untersucht haben« (MacDougall-Bericht, 1977: 11).

    Es gibt viele miteinander im Streit liegende Erklärungen dafür, dass der Werner-Plan scheiterte; aber der fundamentale Grund ist darin zu sehen, dass in einer Zeit wachsender Instabilität der Währungen die französische Furcht vor deutscher Dominanz und ihr Unwillen, Macht an supranationale Institutionen abzugeben, zusammen mit der deutschen Inflationsfurcht, einander im Wege standen. Beide Nationen konnten sicher Wege finden, um politisch zu kooperieren, aber der Weg zu einer Wirtschaftsund Währungsunion war schwierig. 1972 sagte der Gouverneur der Dänischen Zentralbank: »Ich werde an eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion glauben, sobald mir jemand erklärt, wie man neun Pferde lenken kann, die unter demselben Zaumzeug mit unterschiedlicher Geschwindigkeit laufen.« (McAllister, 2009: 58)

    1972 sprach der Sozialpsychologe Irving Janis von Groupthink, Gruppendenken, als eine »Art und Weise zu denken, die Menschen annehmen, wenn sie tief in einer kohäsiven Gruppe involviert sind, in der der Drang der Mitglieder nach Einmütigkeit ihre Motivation, realistischerweise auch alternative Handlungsmöglichkeiten einzuschätzen, weit überragt« (Janis, 1982: 9). Es erfordere von jedem Mitglied, »keine Kontroversen zu starten« (Janis, 1982: 12). So führt Gruppendenken zu einer Art von ›mob rule‹, die die Disziplin in der Gruppe oder Gemeinschaft von Entscheidungsträgern aufrechterhält. Solche Gemeinschaften entwickeln eine dominante Kultur, die ihren Mitgliedern ein Gefühl von Zugehörigkeit und gemeinsamen Zielen gewährt, sie aber auch neuen und überlegenen Wegen des Denkens gegenüber feindlich und ignorant macht. Der Außenwelt wird das Gruppendenken offenbar, wenn es eine Krise oder, in Janis’ Worten, ein Fiasko gibt, wie es die globale Finanzkrise (GFK) dann war.

    Was schließlich erlaubte, den neun Pferden ein Zaumzeug anzulegen, war nicht die Abschwächung der französisch-deutschen politischen und kulturellen Rivalität, sondern die wachsende Homogenisierung der ökonomischen Debatte. Der Aufstieg des Monetarismus in den 1970er Jahren, zuerst in der Wissenschaft, dann in der Politik und den Notenbanken transformierte sich schnell in ein insulares Gruppendenken, das die politischen Entscheidungsträger in die Falle des freien, selbstregulierenden Marktes trappen ließ, obwohl dieser nur ein Mythos ist. Der begleitende Bestätigungsfehler, d. h. die »Tendenz der Menschen, nur die Dinge wahrzunehmen, die mit ihren Vorstellungen konform sind, und solche Dinge zu ignorieren, die mit ihnen inkonsistent sind« (IEO, 2011: 17), überwältigte dann die Debatte über die monetäre Integration. Die Einführung des monetaristisch inspirierten Barre-Plans 1976 durch den französischen Premierminister Raymond Barre unter dem Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing zeigte, wie weit sich die Franzosen vom gaullistischen Keynesianismus entfernt hatten. In ganz Europa wurde Arbeitslosigkeit zum Mittel, um die Inflation zu begrenzen, anstatt daß, wie in den keynesianischen Zeiten, ihre Beseitigung ein politisches Ziel blieb. Die Arbeitslosigkeit wuchs stark an, als die nationalen Regierungen, infiziert mit dem monetaristischen Denken, ihre lange Liebesaffäre mit der Austerität begannen.

    Der Delors-Bericht (1989), der der MaastrichtKonferenz zugrunde lag, ignorierte die Schlußfolgerungen der Berichte von Werner und MacDougall, die eine starke Fiskalunion für nötig erachteten, als altmodisches keynesianisches Denken, das mit dem Monetarismus, der die europäische Debatte nun prägte, unvereinbar war. Die neuen Finanzeliten, die bereitstanden, um massiv von der Deregulierung der Finanzmärkte zu profitieren, propagierten das Wiederaufkommen der Ideologie des freien Marktes, die in der Weltwirtschaftskrise diskreditiert worden war. Der Übergang von einer keynesianischen Vision von Vollbeschäftigung und Gleichheit zu einer neuen individualistischen Räubermentalität war nicht durch Einsichten begründet, die auf empirischen Beweisen und der Beschäftigung mit gesellschaftlichem Wohlstand beruhten, sondern auf ideologischem Treiben und partikularen Interessen.

    Die monetaristische (neoliberale) Verachtung der Regierungsinterventionen bedeutete, dass die WWU die Möglichkeiten fiskalischer Politik unterdrücken würde. Argumente und empirische Nachweise würden Delors und sein Team von diesem Ziel nicht abbringen. Delors wußte, dass er dem französischen Bedürfnis, keine Kompetenzen nach Brüssel abzugeben, dadurch entgegenkommen würde, dass er die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik bei den Staaten belassen würde, und dass er durch die harten fiskalischen Regeln, die die Möglichkeiten der nationalen Regierungen stark einschränkten, die Deutschen zufriedenstellen würde. Der Monetarismus war die Brücke zwischen den beiden Lagern.

    Damals hatte der ganze Prozess einen surrealistischen Charakter. Um die ganzen Optionen für die Eurozone richtig zu bewerten, bedarf es halt eines validen ökonomischen Rahmenwerkes. Obwohl schlechte politische Motivationen nicht ignoriert werden sollten, ist ein Großteil der Probleme der gegenwärtigen Eurozone die Anwendung eines absurden makroökonomischen Rahmenwerkes, das von den Bürokraten und Politikern seit den 1980er Jahren gebraucht wurde.

    Nun ist die Eurozone in eine Zwangsjacke ökonomischer Austerität eingepfercht, angetrieben von einer ökonomischen Ideologie, die blind ist gegenüber der Evidenz ihres Versagens. Die neoliberalen Politiken der Deregulierung und der Dämonisierung des Gebrauchs einer diskretionären Fiskalpolitik (mit Staatsausgaben höher als die Steuereinnahmen) haben die Krise zuerst ausgelöst, und mit denselben Politiken verlängert man sie nun. Dieser gegenwärtige politische Ansatz hat ökonomische Stagnation, ausgebreitete Rückentwicklung und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Renten institutionalisiert. Millionen europäischer Arbeiter sind nun arbeitslos, in einigen entwickelten Ländern liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei rund 60 Prozent, Ungleichheit und Armutsraten steigen und massive tägliche Verluste des Volkseinkommens sind zu ertragen. Die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit wird dafür sorgen, dass der Schaden Generationen übergreifen und den zukünftigen Wohlstand unterminieren wird, da jetzt eine Generation junger Menschen ohne Arbeit erwachsen wird, ohne Arbeitserfahrungen und mit einem wachsenden Empfinden dafür, die üblichen gesellschaftlichen Vorstellungen nicht mehr erfüllen zu können.

    Die politischen Eliten der Eurozone behaupten, dass es keine Alternative (das TINA-Prinzip, von engl: there is no alternative) gebe zu größerer Austerität durch Kürzung der Fiskaldefizite und weitgehende Einschränkungen der sozialen Wohlfahrtssysteme. In den meisten Ländern haben die großen politischen Parteien, ob an der Regierung oder in Opposition, fraglos die dominante neoliberale Ideologie akzeptiert; dies hat nicht nur die politische Debatte homogenisiert, sondern auch den einzigen glaubwürdigen Weg zu einer Wiederbelebung vergessen lassen. Eine korrekte Bewertung der augenblicklichen Lage macht klar, dass das Fiskaldefizit steigen muss. Austerität ist also geradezu das Gegenteil von dem, was not tut. Will man eine anhaltende Gesundung in der Eurozone und sonst wo, dann muss man die Mainstream-Ökonomie und -Praxis grundsätzlich zurückweisen und die institutionellen Strukturen umorganisieren, um wachsende Defizite zu erlauben. Die Einschätzung ist nun, dass nur die Auflösung der Eurozone dies erlauben wird.

    Dieses Buch lehnt das TINA-Mantra ab, das ein einflußreiches organisatorisches Rahmenwerk war, mit dem die Konservativen den Mythos verbreiten konnten, dass fiskalische Disziplin und ausgedehnte Deregulierung es dem freien Markt erlauben würde, Wohlstand für alle zu schaffen. Das in diesem Buch wiedergegebene Argument ist ganz einfach, auch wenn die zugrundeliegenden Konzepte es nicht sind. Das neoliberale Rahmenwerk, das von vielen Ökonomen, multinationalen Einrichtungen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und konservativen Politikern einschließlich der Eurozonen-Establishments in Brüssel und Frankfurt tatkräftig unterstützt wird, macht das Publikum blind für realistische Alternativen durch die Verwendung selektiver Prioritäten, falsche Kausalitäten und eine skandalöse Verfälschung der Wirklichkeit. Bevor man also die Alternativen richtig bewerten kann, muss die zugrunde liegende Wirtschaftswissenschaft neu aufgebaut werden. Die gegenwärtigen und bei weitem überlegenen Alternativen für die Austerität werden zu schnell als naiv, unrealistisch oder schlicht verrückt verworfen, wenn man sie nur durch die Brille der neoliberalen Ökonomie versteht.

    Dieses Buch geht davon aus, dass die europäischen politischen Eliten – die Politiker, die sie unterstützenden Bürokratien, die Zentralbankdirektoren und Experten – in einem neoliberalen Gruppendenken eingeschlossen sind, das das Euromonster erst geschaffen hat. Es handelt sich um eine Gruppendynamik, die gegen Veränderungen Widerstand leistet und die das krasse Nichtsehen der vernünftigen politischen Alternativen, die Wachstum wiederherstellen könnten, erklärt.

    Der amerikanische Biologe Joseph Altmann hatte sich auf Neurobiologie spezialisiert und entdeckte die Neurogenese bei Erwachsenen in den 1960er Jahren. Er zeigte also, dass das Gehirn eines Erwachsenen neue Neuronen erzeugen konnte; dies wurde aber damals heftig bestritten. Erst nachdem dieses Phänomen von Elisabeth Gould 1999 »wiederentdeckt« worden war, wurde diese Feststellung populär; nun ist die Neurogenese eines der wichtigsten Forschungsgebiete der Neurobiologie. Wie konnte es sein, dass die Entdeckung Altmanns fast 30 Jahre ignoriert wurde? Wie Charles Gross 2008 schrieb, wurde das »Dogma, dass es ›keine neuen Neuronen‹ gäbe« universal aufrecht gehalten und entschlossen verteidigt von den einflußreichsten und führenden Entwicklungsbiologen seiner Zeit (Gross, 2008: 331).

    Die Erfahrung von Altman hilft uns die andauernde Krise in der WWU zu verstehen. Erstens arbeiten akademische Fächer (wie Neurobiologe, Ökonomie etc.) mit Hilfe von etablierten Paradigmen, die der Philosoph Thomas Kuhn als »universell anerkannte wissenschaftliche Leistungen« bezeichnete, »die für eine gewisse Zeit Modelle und Lösungen für eine praktische Gemeinschaft zur Verfügung stellen« (Kuhn, 1996: x). Typischerweise werden solche Paradigmen »durch elementare und fortgeschrittene wissenschaftliche Lehrbücher vermittelt« (Kuhn, 1996: 10). Kuhn hat die Vorstellung in Frage gestellt, dass die wissenschaftliche Tätigkeit ein linearer Prozess ist, in dem Forscher neue, empirisch begründete Fakten der Wissensbasis hinzufügen und alte damit entfernen. Tatsächlich, sagt Kuhn, halten sich dominante Blickpunkte solange, bis sie mit unübersteigbaren Anomalien konfrontiert werden. Dann kommt es zu einer Revolution, einem Paradigmenwechsel. Das neue Paradigma läßt die alten Theorien als nicht mehr anwendbar erscheinen, führt neue Konzepte ein, stellt neue Fragen und liefert den Studenten einen neuen Weg des Denkens, eine neue Sprache und erklärende Metaphern. Kuhn hat auch bemerkt, dass es eine Art von ›mob rule‹ unter den Praktikern innerhalb eines dominierenden Paradigmas gibt, die vehement an ihren Vorstellungen festhalten, trotz einer logischen oder empirischen Absurdität. Die dominante Gruppe bleibt in Janis’ Gruppendenken gefangen und beleidigt zunächst alle, die neues Denken vorschlagen. Altmans Arbeit stellte das Potential für einen Paradigmenwechsel dar und wurde vom Mob solange abgelehnt, bis der Wechsel unvermeidlich war.

    Von Imre Lakatos wurde Kuhns Begriff einer wissenschaftlichen Gemeinschaft durch das Konzept eines Forschungsprogrammes ergänzt, das aus einem harten Kern besteht, nämlich den Theorien, die das Paradigma definieren, Hilfsannahmen, die gleichsam einen Schutzgürtel darstellen, und methodischen oder heuristischen Regeln (Lakatos, 1970). Der harte Kern hat den Charakter eines religiösen Glaubens, weil er niemals von der Gruppe empirisch infrage gestellt wird und durch die Heuristiken geschützt ist. Er definiert, wofür die Gruppe steht. Es ist möglich, gewisse Hilfsannahmen infrage zustellen, die ihrerseits, ob sie nun plausibel sind oder nicht, die Kernannahmen nicht gefährden. Diese sind durch die negative Heuristik geschützt, die im Wesentlichen gewisse Fragen und Formen der Untersuchungen oder Evidenz verbannt, selbst wenn starke Gegenevidenz produziert wird. Dies könnte man als Verneinung ansehen. Für eine gewissen Zeit bewahrt ein Forschungsprogramm Dominanz, weil es Inhalte hinzufügt, die als Fortschritt bewertet werden und für die Gruppe von Interesse sind.

    Zu einem gewissen Zeitpunkt mag ein Forschungsprogramm degenerieren indem sein Inhalt sich angesichts steigender empirischer Anomalien auflöst, d. h. die Theorie nicht länger eine adäquate Erklärung dessen liefern kann, was die Menschen wissen und sehen. Aber ein degeneriertes Forschungsprogramm kann seine Kontrolle über eine professionelle Gruppe ganz schön lange aufrechterhalten, weil diese so ablehnend dem Wandel gegenübersteht.

    So hat Olivier Blanchard, Chefökonom des IWF, kurz bevor die globale Finanzkrise das Schlimmste zeigte, das Weltverständnis der Makroökonomen untersucht und kam zu dem Ergebnis, »dass der Zustand der Makroökonomie« gut sei (Blanchard, 2008: 2). Er versicherte, dass in der Makroökonomie »eine weitgehend gemeinsame Vision entstand« (S. 5), verbunden mit einer »Methodenkonvergenz« (S. 3), so dass Forschungsartikel in diesem Bereich »einander im Aufbau sehr ähnlich seien und ganz anders aussähen als die vor dreißig Jahren« (S. 21). Nun folge man »strikten, haiku-ähnlichen Regeln« (S. 26). Er stellte auch fest, dass der führende sogenannte neokeynesianische Ansatz in der Makroökonomie »nützlich für die Politiken und Wohlfahrtsanalysen geworden sei« (S. 8), weil er »einfach, bequem zu nutzen [sei und] eine komplexe Realität auf ein paar einfache Gleichungen reduziere« (S. 9). Es schien nicht wichtig zu sein, dass es im »grundlegenden neokeynesianischen Modell […] keine Arbeitslosigkeit gäbe« (S. 12), womit alle Schwankungen der Arbeitslosigkeit darauf zurückgeführt werden, dass die Arbeiter selber entscheiden, ob sie nun arbeiten wollen oder nicht, als Teil einer optimalen Wahl zwischen Arbeit und Freizeit.

    Die Mainstream-Makroökonomen, die einen tiefen Glauben an die Fähigkeit selbstregulierender Märkte haben, optimale Ergebnisse zu liefern, was wir den neoliberalen Ansatz nennen werden, erkärten einige Jahre vor der Krise – mit einer für sie typischen Arroganz –, dass »die Konjunkturen tot sind«. Das heißt, dass die großen Schwünge der makroökonomischen Leistungsfähigkeit (Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit und Aufschwung und Inflation), die die Aufmerksamkeit der Wirtschaftspolitiker in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf sich zogen und zu einer Fiskalpolitik führten, die das wichtigste Instrument für die Regierungen war, um Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu gewährleisten, nun abgelehnt wurden. Der Professor an der Universität von Chicago, Robert Lucas Jr, gab 2003 einen außerordentlichen Vortrag vor der American Economic Association, bei dem er erklärte, »dass die Makroökonomie in ihrem ursprünglichen Sinne erfolgreich war, ihr zentrales Problem der Depressionsverhinderung wurde gelöst, und tatsächlich schon für viele Dekaden« (Lucas, 2003: 1). Ein Jahr später hat der Gouverneur der amerikanischen Federal Reserve Bank, Ben Bernanke, dann gesagt, dass aufgrund des Übergangs von den Versuchen der Regierungen, die Gesamtausgaben in der Volkswirtschaft über unterschiedliche Fiskalpolitiken zu steuern, zu einer monetären Politik, d. h. der Festlegung der Zinssätze durch die Notenbank, um sich auf die Preisstabilität und Haushaltsüberschüsse zu konzentrieren, die Welt sich an einer ›Großen Moderation‹ erfreuen dürfe (Bernanke, 2004).

    Schädliche Rezessionen waren also ein Ding der Vergangenheit und niedrige Inflation und ständiges Wachtum war nun die Norm. Die Öffentlichkeit wurde dazu gebracht zu glauben, dass die Mainstream-Ökonomen über die alten keynesianistischen Interventionisten triumphiert hätten, die die Wirtschaft überreguliert hatten, die Unternehmen den privaten Unternehmern entzogen, die Gewerkschaften zu stark gemacht hatten und Generationen von schlafmützigen und unmotivierten Individuen hervorgebracht hatten, die sich nur wünschten, von staatlichen Leistungen zu leben. Mit dem Konjunkturzyklus unter Kontrolle ging es in der Wirtschaftspolitik nun darum, den Arbeitsund Finanzmarkt zu deregulieren und die Arbeitslosenhilfen zu reduzieren, damit der Markt besser arbeiten kann; dies wurde den Leuten immer wieder erzählt. Und es war eine große Lüge. Paul Krugman sagte 2009, dass aus diesen angeblichen »Erfolgen« eine selbstgebastelte »goldene Ära für die Profession« wurde. Das Mainstream-Paradigma der Ökonomie war blind »gegenüber der wirklichen Möglichkeit katastrophaler Fehlschläge in einer Markt-Ökonomie« (Krugman, 2009), und die politischen Vorgaben, die auf einem unbegründeten Vertrauen in die Effizienz der Märkte gründeten, schufen die Umstände, die zu der Krise führten. Die schlimmste Wirtschaftskrise in 80 Jahren baute sich auf, während die meisten Ökonomen lyrisch in ihrer eigenen Welt der Selbstvergötterung und Selbstbeklatschung lebten.

    Die Wissenschaft ist von diesem Bild der Ökonomie beherrscht, das dann auch in den politischen Entscheidungsbereich eindringt, doch hat die globale Finanzkrise jedermann deutlich gemacht, dass die Mainstream-Ökonomie ein degeneratives Forschungsprogramm mit wenig empirischer Validität ist. Krugman sagte 2009, dass die »ökonomische Profession in die Binsen ging, weil sie die Schönheit mathematischer Formeln mit der Wahrheit verwechselte«. Der amerikanische institutionelle Ökonom David Gordon schrieb schon 1972, dass immer dann, wenn das herrschende ökonomische Paradigma mit einer Tatsache konfrontiert ist, die grundlegende Annahmen infrage stellt, man darauf mit einer Ausnahme reagiert und dann weiter macht, als ob nichts gewesen wäre. Demzufolge findet sich in den üblichen Lehrbüchern, die die Studenten lesen müssen, wenig, was helfen würde die Wirklichkeit zu verstehen. Den Studenten werden falsche Angaben gemacht, wie der Finanzsektor, einschließlich der Banken, funktioniert; ihnen werden eine Reihe von Mythen gelehrt, wie sich die Regierung auf die privaten Märkte auswirkt; und vor allem wird ihnen beigebracht, dass wenn man nur die Märkte sich selbst überläßt, die Ergebnisse besser sein werden als wenn die Regierung diese überwachen oder regulieren würde. In dem Maße jedoch, in dem allen die Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit so offensichtlich wurde, ist es nun leicht, alle, die noch den Theorien des Mainstreams anhängen, als Sektierer zu bezeichnen, die alle wissenschaftliche Glaubwürdigkeit verloren haben.

    Diese ›Sektierer‹ können ihre Hegemonie aber durch eine Reihe von Strategien aufrechterhalten; so durch die Kontrolle der Studiengänge an den Universitäten, der Stellenbesetzungen, der wichtigen Publikationsmedien, der Drittmittelquellen und der Verbindungen zwischen den Universitäten, der Wirtschaft und der Regierung. Viel davon ist implizit und durch Netzwerke erreicht worden, die keiner Kontrolle etwa durch Antidiskriminierungsgesetze unterliegen. Lack Barbash hat diskutiert, wie die ökonomische Profession ihr Glaubenssystem vor Kritik schützen und es so weit wie möglich vermeiden kann, die Probleme der realen Welt anzugehen. Er stellt fest, dass es »keinen formellen Zwangsapparat« gibt, aber »das Äquivalent eines ›Old boy‹-Netzwerkes« (Barbash, 1982: 51), das wirksam ist. Die Vorteile, wie Veröffentlichungen, Drittmittel, Promotionen, Beratungsjobs, Einfluss etc., gehören denen, die sich an die Regeln halten. Die Sozialisation beginnt mit der Aufnahme eines Studiums, denn die Meister des Paradigmas kontrollieren das Curriculum, die Bewertungssysteme und wer ein Stipendium für ein Promotionsstudium bekommt. Es wird Schlimmer im Promotionsstudium, denn der Promovend lernt nun, dass in der Wirtschaftswissenschaft »formale Strenge wichtiger ist als der Inhalt« und die »Methode wichtiger als das Ergebnis« (S. 52). Man denke an diese Haiku-Regeln, die die Chancen eines wirtschaftswissenschaftlichen Artikels bestimmen, veröffentlicht zu werden.

    Noch wichtiger ist wohl, dass das neoliberale Paradigma die Interessen des Kapitals und der finanziellen Eliten befördert. Um also zu verstehen, warum so ein großer Widerstand dagegen existiert, gescheiterte ökonomische Theorien zu verabschieden, müssen wir klar sehen, dass es sich dabei um weit mehr als eine Menge von Theorien handelt, die die Wirtschaftsprofessoren ihren Studenten eintrichtern. Blyth (2013, 100) bemerkt, das diese Mainstream-Theorien »unterschiedliche Verteilungen von Reichtum und Macht für natürlich erklärten und somit Machtressourcen für jene sind, deren Ansprüche auf Autorität und Einkommen auf deren Glaubwürdigkeit beruhen«, was zum Teil erklärt, warum es so einen Widerstand dagegen gibt, sie fallen zu lassen, auch wenn klar ist, dass sie ohne jede Evidenz sind.

    Historisch entwickelte sich die Theorie, die heute durch die neoliberale Ökonomie repräsentiert wird, im späten 19. Jahrhundert als Mittel gegen den steigenden Einfluss des Marxismus, vor allem in Europa. Marx’ Feststellung, dass Gewinne die Eigentümer des Kapitals belohnten und auf keinem Beitrag zur Produktion beruhten, hatte eine starke Resonanz bei den Arbeitern gefunden. Die Möglichkeit der Kapitalbesitzer, den Arbeitern den Mehrwert der Arbeit für nichts wegzunehmen, war eine Idee, die entflammte. Diese wesentliche Eigenschaft des Kapitalismus empfanden die Arbeiter als zutiefst unfair und immer gewaltigere Proteste bedrohten die Chancen des Kapitals, seine elitäre Position relativ zur großen Mehrheit der Bevölkerung wahrzunehmen. Klar war, es bedurfte einer Lösung. Die Industriellen rekrutierten Ökonomen, um Theorien zu entwickeln, die den Kapitalismus als fair und seine Ergebnisse als proportional zu den Beiträgen erscheinen ließen. Später wurde dies verfeinert zu Angriffen auf eine Politik, die das Volkseinkommen umverteilen wollte. Aber über all diese Zeit wurden die Interessen derjenigen, die Kapital besaßen oder ihm dienten, vorangetrieben zu Lasten der nicht so erfolgreichen.

    Auch darum ist der Altman-Fall so interessant für jeden, der verstehen will, warum die WWU so schlecht ist. Das neoliberale Gruppendenken, das die Wirtschaftspolitik in Europa so dominiert, ist eine großangelegte Wirklichkeitsverweigerung. Es hat nicht nur wirtschaftliche Strukturen und politische Rahmen geschaffen, die die Krise auslösten, sondern es führte auch zu politischen Reaktionen, die dafür sorgen werden, dass diese gewaltigen Kosten über die nächsten Generationen andauern werden, ohne dass die Probleme gelöst würden. Von Anfang an war es klar, dass die Eurozone nicht funktionieren konnte, und nun tritt dieselbe neoliberale Ideologie als Lösung auf. Gruppendenken unterdrückt alternatives Denken und Tatsachen, die im Gegensatz zu den tonangebenden Gesichtspunkten stehen. 2011 hat das Independent Evaluation Office (IEO) des IWF eine vernichtende Beurteilung der Leistung dieser Institution auf dem Weg zur globalen Finanzkrise abgegeben. Das IEO sagte: »Eigentlich ist es er wichtigste Zweck der Überwachung durch den IWF, Länder vor Risiken der globalen Ökonomie und dem Aufbau von Verletzbarkeiten in ihrer eigenen Wirtschaft zu warnen« (OEI, 2011: vii). Jedoch identifizierte der IEO die neoliberalen Verzerrungen im IWF und kam zu dem Ergebnis, dass der IWF bei der Warnung vor der globalen Finanzkrise versagte, weil er »durch ein hohes Maß an Gruppendenken behindert war«, das unter anderem »Gegenvorstellungen« unterdrückte, wobei auch »eine insulare Kultur eine große Rolle spielte«. Der Bericht sagte, »analytische Schwächen spielten eine zentrale Rolle bei einigen der evidentesten Überwachungsfehler des IWF«, als Ergebnis »der Tendenz innerhalb homogener, kohäsiver Gruppen, Angelegenheiten nur innerhalb eines gewissen Paradigmas zu sehen und die Grundannahmen nicht infrage zu stellen« (S. 17).

    In dem Stab des IWF, einer kohäsiven Gruppe von Makroökonomen, herrschte die Sicht vor, das Marktdisziplin und Selbstregulierung ausreichend sei, um ernste Probleme in Finanzinstitutionen zu verhindern. Sie glaubten also, dass Krisen in entwickelten Ländern unwahrscheinlich seien, wo hochentwickelte Finanzmärkte sicher und mit nur minimaler Regulierung einen großen und wachsenden Anteil des Finanzsystems verwalten könnten. Der External Evaluation Report sagt, dass »die Ökonomen des IWF dazu tendierten« solche ökonomischen Weltmodelle »äußerst wertzuschätzen« (S. 18), die sich als inadäquat erwiesen (sogenannte DSGE-Modelle). Willem Buiter (2009) bezeichnete diese Modelle als nutzlos, »bestenfalls selbstbezogene und nach innen blickende Ablenkungen«, die alles ausschließen, »was für das Ziel einer finanziellen Stabilität relevant ist«.

    Der Ökonom Robert Schiller (2008), der sagte, dass Gruppendenken uns erklären kann, »warum eine Gruppe von Experten kolossale Fehler machen kann«, hat auch die Zentralbanker in diesem selbstzensierenden Verhalten gesehen, wo »Verrückte« unter intensiven Druck gesetzt würden, wenn sie den Gruppenkonsens in Frage stellten. So hat zum Beispiel die amerikanische Federal Reserve Bank »durch ihr weitreichendes Netzwerk von Beratern, Gastprofessuren, Alumni und Stab-Ökonomen eine so gründliche Dominanz des Gebietes der Wirtschaftswissenschaft erhalten, dass eine Kritik der Notenbank zu einem Karriererisiko für die Mitglieder dieser Profession wurde« (Grim, 2009). Nicht nur, dass die amerikanische Notenbank eine große Zahl von Beratern außerhalb ihres Stabes finanziert, »sie hat auch viele der einflußreichen Herausgeber prominenter akademischer Zeitschriften auf ihrer Gehaltsliste« (Grim, 2009). Indem sie so kontrolliert, was in den wichtigen Zeitschriften veröffentlicht wird, hat sie auch Einfluss auf die Karrieren von Wirtschaftswissenschaftlern und unterdrückt so eine unabhängige Forschung, die kritisch mit der Art und Weise, wie die Zentralbank operiert, umgehen könnte. Ihr eignet eine »Intoleranz für Kritik«, wie der bekannte Ökonom Alan Blinder schnell herausfand, als er der Bank als Vice-Vorsitzender beitrat. Er blieb nur etwa 18 Monate im Amt, weil »eine Menge des oberen Stabs beleidigt waren [weil er] nicht nach deren Regeln spielte« (Grim, 2009). Seine Sünde? Er stellte zu viele Fragen und hatte zu viele Annahmen in Frage gestellt. Selbst ein moderater Kritiker der Bank, Paul Krugman, berichtete, dass er »von der Fed-Sommerkonferenz in Jackson Hole ausgeschlossen wurde, nachdem ich den Gouverneur Alan Greenspan kritisiert hatte« (Democrazy Now!, 2007).

    Einige Ökonomen haben (zu recht) beobachtet, dass das Fehlen einer föderalen Finanzkapazität und die verpflichtenden Restriktionen in Bezug auf die nationalen Fiskalpolitiken die WWU in die Richtung eines schwachen Wachstums und dauerhafter hoher Arbeitslosigkeit bewegen und letztlich garantieren würden, dass das System einem Ausgabenkollaps, wie er 2008 geschah, nicht widerstehen würde. Doch das Gruppendenken errichtete eine Mauer des Schweigens, und die europäischen Politiker haben erfolgreich den Menschen erzählt, dass mit der Preisstabilität schon ein maximales Wirtschaftswachstum erreicht würde. Die globale Finanzkrise zeigte, wie lächerlich dies war. Aber wer damals den herrschenden Monetarismus in Frage stellte und stattdessen keynesianische Hilfsmittel empfahl, um die andauernde hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren, wurde von den meisten Experten mit Verachtung angesehen, die eben die neue ökonomische Theorie und ihre politischen Konsequenzen tief ins Herz geschlossen hatten.

    Dann wurde durch die europäischen politischen Eliten das langlaufende europäische Projekt unterminiert; dadurch, dass man auf einer monetären und wirtschaftlichen Union bestand und dann jenen Nationen eine selbstzerstörerische Austerität auferlegte, die am meisten unter diesem dysfunktionalen Design litten. Deutschland hatte sich zwar erfolgreich als guter Europäer neu erfunden, nach dem zerstörerischen und kriminellen Verhalten im Zweiten Weltkrieg, aber nun wird Deutschland als der Einpeitscher der Austerität wahrg nommen und erneut als der böse Deutsche verachtet. Die ungewählten wirtschaftlichen Mandarine und Brüssel und Frankfurt, unterstützt von den ebenfalls ungewählten Offiziellen und ›Gehilfen‹ des IWF haben nun Einfluss darauf, wer in gewissen Ländern ein politisches Amt haben darf (z. B. Lukas Papademos in Griechenland). Die Bürger waren anfänglich von ihren politischen Führern gezwungen worden, den Euro und alles, was mit ihm kam, zu akzeptieren, und nun gehen diese Führer mit der Kappe in der Hand zu Troika, um ihre Hegemonie zu bewahren, währen sie ihren Bürgern unerhörte soziale und wirtschaftliche Härte zumuten. Offener Rassismus verbreitet sich, zum Beispiel die Rede von den »faulen Griechen«. Die Medien und Politiker greifen nun regelmäßig zur Sprache des Kampfes, Kooperation wird durch Feindschaft, Ressentiment und den Zusammenbruch der sozialen Ordnung ersetzt.

    Diese Spannungen drückten sich bei den Wahlen des Europäischen Parlamentes 2014 aus, wo austeritätsfeindliche Parteien am Rande des politischen Spektrums in verschiedenen Ländern erstaunliche Erfolge erzielten. Zwar blieb die Mehrheit des Parlamentes proeuropäisch, aber die Veränderung war 2014 monumental. Die französische Presse sprach von séisme und éruption volcanique um auszudrücken, dass diese antieuropäischen Stimmen ein politisches Erdbeben waren. Ähnliche Stimmungen wurden in vielen unterschiedlichen Sprachen quer durch die europäischen Medien ausgedrückt. Die neue Linkspartei in Spanien hat einen Keil zwischen die beiden etablierten Parteien getrieben und deren gemeinsamen Machterhalt gefährdet, und die Wahlerfolge der fernen Rechten in Frankreich zeigen, dass die Menschen es satt haben, unter Austerität und den Wächtern aus Brüssel, Frankfurt und Washington zu leiden. Der Erfolg antieuropäischer Parteien in Dänemark (Dansk Folkeparti, DF), Großbritannien (UKIP) und Griechenland (Syriza) ist ebenfalls symptomatisch. Die Rechtsparteien haben auch eine einwanderungsfeindliche Politik propagiert, was zunehmend populär wird. Wirtschaftliche Austerität verwandelte sich in ein unschönes Konfekt.

    Die gegenwärtigen politischen Optionen funktionieren also nicht und werden eine dauerhafte Prosperität nicht gewährleisten. Zwar werden irgendwann die europäischen Wirtschaften sich stabilisieren und auch wieder zu wachsen beginnen, aber die Schäden der Austeritätspolitik werden groß und generationenübergreifend sein. Millionen werden ärmer und ohne vernünftige Chancen sein. Die neoliberalen Politiker werden jauchzen und Erfolge beanspruchen, aber sie werden nicht klar machen, von welch niedrigem Niveau es dann wieder aufwärts geht.

    Die Eurozone ist also ein falsch konstruiertes System. Es muss geändert werden, und die Frage, die sich dieses Buch stellt, ist, wie kann dies gehen? Drei Hauptoptionen werden detaillliert betrachtet. Erstens wird die Lebensfähigkeit einer richtigen Föderation betrachtet, mit einer Fiskalkapazität auf europäischer Ebene, die ausreicht um genug Arbeitsplätze zu schaffen, wie es den Wünschen der Arbeiter entspricht. Verschiedene Mischformen, die von europäischen und außereuropäischen Ökonomen vorgeschlagen worden sind, werden geprüft. Zwar könnte die WWU funktionieren, wenn sie richtig organisiert wäre, aber aufgrund der großen Unterschiede zwischen den europäischen Nationen ist es sehr unwahrscheinlich, dass es dazu kommt.

    Die zweite Option ist unter dem Namen Overt Monetary Financing bekannt und fortschrittlich. OMF würde von der EZB verlangen, dass sie ihre Geldschöpfungskapazitäten nutzt, um die Fiskaldefizite der Mitgliedsstaaten zu kompensieren, um so Wachstum und Beschäftigung in ihrer Wirtschaft zu ermöglichen, ohne dass sie es mit den Restriktionen der Finanzmärkte zu tun bekämen. OMF, gerne fälschlicherweise als ›Gelddrucken‹ bezeichnet, ist für die Neoliberalen ein Tabu, weil sie zu unrecht behaupten, dies führe zu Inflation und vielleicht gar Hyperinflation. Unsere Analyse zeigt, dass dies ein sehr effizienter Weg für Regierungen sein kann, um verantwortlich Wirtschaftswachstum zu erzeugen, ohne öffentliche Schulden einzugehen. Dies ist auch eine Strategie, die die Eurozone funktionsfähig machen könnte. Es ist auch eine wünschenswerte Option, wenn der Euro von einem oder mehreren Staaten abgeschafft würde, weil dann das OMF von den mit neuer Kompetenz ausgestatteten Notenbanken in den Exitstaaten ermöglicht würde.

    Die dritte Option ist der sogenannte Exit. Dies ist die präferierte Option, weil sie im Einklang mit den historischen und kulturellen Realitäten Europas steht. Es wäre ideal, wenn sich die Staaten der Eurozone auf eine ordentliche Aufhebung der Eurozone einigen könnten und ihre eigenen nationalen Währungen wieder einführten. An Stelle einer solchen unwahrscheinlichen Lösung bleibt ein Exit die beste Lösung für Staaten wie Griechenland oder Italien. Tatsächlich sollte Italien, angesichts der Größe seiner Wirtschaft, Führung demonstrieren und einen endgültigen Exit mit Brüssel schaffen, der die Schäden für alle Beteiligten minimierte. Dies würde ein Schema für andere Staaten liefern wie Griechenland, Spanien, Portugal und andere, die folgen würden.

    In gewisser Weise ist dies ein schwarz-weiß Buch. Die Wahl ist klar, entweder diesen neoliberalen Albtraum aufgeben oder weiter leiden. Ein ordentlicher Austritt mit politischen Entscheidungen, die das Wachstum stimulieren würden, anstatt Stagnation und Leiden andauern zu lassen, ist besser für die meisten Europäer, auch trotz der erheblichen Kosten, die mit der Einführung einer neuen Währung verbunden wären. Dies passt zur dichotomen Natur der von den Neoliberalen angewandten TINA-Strategie, wonach der Euro die Erlösung und unwiderruflich ist und ihn aufzugeben eine Katastrophe wäre. Es gibt keine Nuancen in diesem Ansatz.

    Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Teil I gibt eine detaillierte Kritik der historischen Entscheidungen, die zum Maastricht-Vertrag von 1991 und der Entscheidung führten, eine einzige Währung einzuführen. Diese Entscheidung hatte wenig mit Wirtschaft zu tun, sondern war weitgehend von dem französischen Bedürfnis bestimmt, eine dominante Kraft in Europa zu sein, zusammen mit der unter den deutschen Politikern obsessiven Inflationsfurcht. Diese dysfunktionale französisch-deutsche Dynamik nahm einen Schwenk in eine schlimmere Richtung, aĺs sie sich mit der wiederauferstandenen neoliberalen Ideologie der späten 1980er Jahre vereinigte. Der Maastricht-Vertrag war eine unmittelbare Folge dieser Kombination von Faktoren.

    Der zweite Teil untersucht die Zeit nach der Einführung des Euro bis zur Krise. Trotz der Behauptungen der Politiker, die Einführung des Euro sei ein großer Erfolg gewesen, waren die Voraussetzungen der Krise schon an ihrem Platz. Der Angriff in Deutschland auf die Arbeiter, um zu verhindern, dass sie sich ihrer Reallohnzuwächse erfreuen konnten, und die merkantilistische Obsession mit steigenden Exportüberschüssen schuf schon jene gefährlichen Ungleichgewichte in anderen Teilen Europas, die im Augenblick der Krise nur noch zuzunehmen brauchten. Aber die Krise hätte verringert und eine schnelle Rückkehr zum Wirtschaftswachstum hätte erreicht werden können, wenn nicht der Stabilitäts- und Wachstumspakt durchgesetzt worden wäre, ein wesentlicher Teil des neoliberalen Angriffs auf die Fähigkeit der Regierungen, bei externen Schocks eine vernünftige Ausgabenpolitik zu betreiben. Die EZB hätte ihre Geldpolitik nutzen können, um den Mitgliedsstaaten zu helfen, nicht Opfer privater Märkte zu werden. Das Zögern der EZB, verantwortlich zu handeln, wandelte die private Schuldenkrise in eine öffentliche um.

    Der dritte Teil liefert eine detaillierte Analyse der oben genannten Optionen. Es ist klar, dass es zwei Realitäten gibt, auf die man sich einlassen muß. Die erste ist die intrinsische Politik Europas, die durch die jahrzehntelange französisch-deutsche Rivalität gekennzeichnet war. Die zweite ist der Einfluss der neoliberalen Ökonomen auf die politische Debatte. Der Exit-Vorschlag ist mit der ersten Realität konsistent. Die WWU zu zerstören wird dabei helfen, die Effizienz der politischen Aspekte der Europäischen Union zurückzugewinnen. Es gibt keine Idee, dass die Europäische Union aufgelöst werden muß, um den Euro los zu werden. Ob sie nützlich ist, ist eine separate Diskussion, die außerhalb des Themas dieses Buches liegt. Aber damit der Exit eine gute Option ist, müssen die Regierungen ihre neoliberalen Auffassungen aufgeben und die Möglichkeiten besser verstehen, die sie haben, wenn sie ihre eigenen Währungen wiedereinführen, sie auf den internationalen Märkten fließen lassen und ihre eigenen Notenbanken wiedereinsetzen mit dem Recht, ihre eigenen Zinssätze festzulegen.

    Es gibt eine detaillierte Diskussion, bei der es darum geht, die neoliberalen Mythen abzuweisen, die die Austerität als einzige Möglichkeit konstruiert haben. Dieser Teil nimmt den Leser mit auf das Abenteuer, die Wirtschaft neu zu denken, auf eine Art, die von den Wirtschaftswissenschaftlern die Einsicht verlangt, dass das neoliberale Paradigma gescheitert ist und ersetzt werden muss. Allein diese Aufgabe sieht sich massivem Widerstand ausgesetzt von seiten jener etablierten Interessen, die ihre Macht dem Aufrechterhalten des ökonomischen status quo verdanken, egal wie desaströs er für die gewöhnlichen Leute ist.

    Zur Zeit ist Europa in einem neoliberalen Gruppendenken verfangen, das Verweigerung in großem Maßstab darstellt. Ein großer Ausbruch ist nötig, um Wohlstand und Hoffnung wieder zu gewinnen.

    TEIL I

    DIE FRÜHEN JAHRE

    KAPITEL 2

    FRÜHE VERSUCHE EINER WÄHRUNGSUNION UND DER GIPFEL VON DEN HAAG

    FRÜHE VERSUCHE EINER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION

    Die Idee einer gemeinsamen Währung in Europa oder in Teilen davon hat eine lange Geschichte. Als es im 19. Jahrhundert zu einem Zusammenschluss von Staaten kam, war eine gemeinsame Währung ein ganz wesentlicher Teil der Staatlichkeit. Die deutschen Staaten vereinten sich schon 1834 im Zollverein und hatten eine gemeinsame Währung, die Vereinsmünze. 1876 wurde dann die Reichsmark die deutsche Währung, nachdem die Reichsbank die Kontrolle über alle Münzen übernommen hatte (Holtferich, 1993). In ähnlicher Weise war die italienische Vereinigung 1861 von der Annahme des Lira durch alle Beteiligten begleitet.

    Andere Währungsarrangements im 19. Jahrhundert scheiterten aber. Als Belgien 1830 unabhängig wurde, führte es den französischen Franc ein und wurde Teil der Franc-Zone. 1848 bildeten Frankreich, Belgien und die Schweiz die sogenannte Lateinische Münzunion (LMU); Italien trat 1861 bei und Griechenland und Bulgarien 1867. Wenn wir die modernen Entwicklungen verstehen wollen, so ist es wichtig zu bemerken, dass der Anstoß zur Gründung der LMU von Frankreich kam, das sich mit schrumpfender Kolonial- und Wirtschaftsmacht konfrontiert sah (siehe Flandreau, 1995, 2000; Einaudi, 2000; Flandreau und Maurell, 2005).

    Die LMU war ein bi-metallisches, d. h. auf Gold und Silber beruhendes Arrangement, wobei jede Nation ihre eigene Währung in Gold- und Silbermünzen behielt, die dann, abgesehen von einer kleinen Gebühr, über einen festen Wechselkurs getauscht werden konnten. Die jeweiligen Notenbanken haben den Umtausch von Gold und Silber in Münzen zum festenWechselkurs garantiert. Als das Silber an Wert verlor, wurde die Konvertibilität von den Notenbanken aber aufgehoben. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde der Goldstandard aufgegeben, weil die Regierungen ihre Goldvorräte verkauften, um den Krieg zu finanzieren, was den Goldpreis sinken ließ. Nach Jahren des Nicht-Funktionierens war dies das Ende des System; förmlich wurde es 1926 abgeschafft,

    Eine ähnliche multinationale Währungsunion wurde 1873 als Skandinavische Währungsunion (SWU) durch Schweden und Dänemark gegründet; Norwegen trat zwei Jahre später bei. Diese Währungsunion basierte auf Gold, »wobei jede Nation das Dezimalsystem und eine gemeinsame Währungseinheit einführte«, die Skandinavische Krone (Bergman, 1999: 365). Die Währungen der Teilnehmer (Goldmünzen und andere Silber- und Bronzemünzen) waren zunächst gegenüber dem Goldpreis festgelegt und blieben acht Jahre lang frei tauschbar, bis dann die gemeinsame Währung kam (Bergman, 1999; Bergman et al., 1993; Henrikson und Kaergard, 1995). Die politischen Entwicklungen haben das System dann aber unterminiert. Als z. B. Norwegen den Bruch mit Schweden 1905 vornahm, haben die Schweden die Konvertibilität eingeschränkt. Aber es war, wie mit der LMU, die monetäre Instabilität, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam, die für das Ende sorgte. Formell wurde sie 1921 beendet. Bordo und Jonung (2003) haben andere erfolglose Versuche einer Währungsunion im 19. Jahrhundert dokumentiert.

    Was können wir davon lernen, damit es uns hilft, die Optionen für Europa heute zu verstehen? Zunächst einmal kann die Einführung einer gemeinsamen Währung erfolgreich sein, wenn sie Teil eines nationalen Einheitsprozesses ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass die früher unabhängigen Staaten, die sich vereinigen wollten, über ganz verschiedene ökonomische Strukturen (Industriezweige, Beschäftigungsverhältnisse) und betrachtliche Einkommensunterschiede verfügten. Auch die kulturellen Unterschiede waren stark ausgeprägt. Man darf also nicht schlussfolgern, dass kulturelle Heterogenität oder ökonomische Unterschiede den Erfolg einer Währungsunion unmöglich machen. Gemeinsam war allerdings allen diesen Staaten, dass sie sich politisch darauf geeinigt hatten, trotz ihrer Unterschiede einen gemeinsamen Nationalstaat zu schaffen, der dann auch u. a. mit den nationalen wirtschaftspolitischen Mitteln ausgestattet war, die man nutzen konnte, um das Wohl aller Bürger zu fördern.

    Auf der anderen Seite scheiterten die multilateralen Übereinkommen wie die LMU und SWU, weil es keine politische Übereinkunft gab, um die unabhängigen staatlichen Einrichtungen in eine gleichsam nationale Einheit zu transformieren. Während diese Einrichtungen bestanden, haben die Regierungen nur insofern an der Währungsunion teilgenommen, als es ihre nationalen Ziele unterstützte. In Zeiten extremer monetärer Instabilität (im Ersten Weltkrieg) wurde dies deutlich, denn mit der Aufgabe des Goldstandards konnte man die nationalen Interessen besser ausüben.

    1929 wurde dann die Idee einer europäischen Währung wiederbelebt, als der deutsche Außenminister Gustav Stresemann, der in der Zwischenkriegszeit hart gearbeitet hatte, um Frankreich und Deutschland wieder zu versöhnen, vor dem Völkerbund die Frage stellte: »Wo ist die europäische Währung und die europäische Briefmarke, die wir brauchen?« (Europäische Kommission, 2012a). Keine sechs Wochen später brach die New Yorker Börse am Schwarzen Freitag zusammen, was jeden Gedanken einer internationalen Währungszusammenarbeit in Europa auf die lange Bank schob.

    Zum Verständnis der gegenwärtigen Lage ist es wichtig zu erkennen, dass Stresemann die Notwendigkeit einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich sah. Ein Thema, das die Diskussionen in der Nachkriegszeit dominierte und motivierte und letzlich zum Euro führte.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die 44 alliierten Nationen darauf geeinigt, zum Goldstandard zurückzukehren, weil sie sich davon wirtschaftliche Stabilität erhofften. Das sogenannte Bretton-Woods-System wurde im Juli 1944 gegründet und verlangte von den Notenbanken, ihre Währungen in einem festen Kurs zum US-Dollar zuhalten. Dem neuen Internationalen Währungsfonds (IMF) wurde die Möglichkeit gegeben (ausgestattet mit Beiträgen von den Mitgliedsstaaten), Staaten kurzfristige Kredite zu geben, die nicht imstande waren, genügend Währungsreserven zu kaufen, um die festgelegten Wechselkurse zu bewahren. Die amerikanische Regierung versprach ihrerseits, zu einem festen Preis Gold gegen den US-Dollar zu tauschen.

    DAS BRETTON-WOODS-SYSTEM UND DER BARRE-BERICHT

    Nach dem Römischen Vertrag von 1957, der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gründete, gab es eine regelmäßige Diskussion zwischen den Mitgliedsstaaten über die Notwendigkeit einer engeren wirtschaftlichen Kooperation. Im Februar 1969 hat der sogenannte Barre-Bericht die europäische Präferenz für feste Wechselkurse und den Weg zu einer gemeinsamen Geldpolitik bestätigt (Barre-Bericht, 1969). Die Europäer waren besorgt über die Entwicklung der Devisenmärkte und die Verringerung der amerikanischen Goldreserven, im Zusammenhang mit dem Versprechen von Bretton-Woods, die Konvertibilität des US-Dollar in Gold zu gewährleisten. Während der 1960er Jahre bewegte sich eine große Menge an Gold von den USA nach Europa als Folge der amerikanischen Zahlungsbilanzdefizite.

    Die Benutzung des US-Dollars als Reservewährung hat die Instabilität des Bretton-Woods-Systems deutlich gemacht. Der Ökonom Robert Triffin warnte in den frühen sechziger Jahren, dass dieses System die USA zwingen würde, ein beständiges Zahlungsbilanzdefizit aufrechtzuerhalten, damit die anderen Nationen, die den US-Dollar als dominierende Währung im internationalen Geschäft benutzen, überhaupt im Stande seien, ihn zu kaufen. In den 1950er Jahren gab es einen Mangel an US-Dollars, weil die Nationen sich vom Krieg erholten und der Handel wuchs. Aber in den 1960er Jahren hatte sich die Situation geändert. Die Staaten begannen sich Sorgen zu machen über den Wert ihrer steigenden Dollarreserven und fragten sich, ob die USA weiter die Goldkonvertibilität aufrechterhalten können. Diese Furcht ließ die Staaten immer mehr ihrer Dollarreserven in Gold umtauschen, was die Goldreserven der USA deutlich reduzierte. Das sogenannte Triffin-Paradox war also, dass das Bretton-Woods-System einen Export des US-Dollars in die Weltmärkte erzwang, was wiederum das Vertrauen in den Wert dieser Währung reduzierte und zu einem zunehmenden Verlangen, den US-Dollar in Gold zu tauschen, führte. Der Verlust an Goldreserven bestärkte wiederum die Ansicht, dass der US-Dollar überbewertet sei, und dass das System irgendwann zusammenbreche (Triffin, 1960).

    Für die USA wäre ein Weg aus diesem Dilemma gewesen, die Zinsen zu erhöhen, um den Geldfluss umzukehren. Das hätte aber die amerikanische Wirtschaft in eine Rezession getrieben, was politisch nicht ging. Es stand auch zunehmend im Widerspruch zu den anderen politischen Zielen der Innenpolitik (dem Krieg gegen die Armut) und der Außenpolitik, dem obsessiven Kampf gegen den Kommunismus, z. B. dem Aufbau von NATO-Einrichtungen in Westeuropa und die Fortführung des Vietnam-Krieges. Die amerikanischen Ausgaben im Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg führten zu einer Überhitzung der amerikanischen Wirtschaft und einer Ausweitung der Dollarliquidität auf den Weltmärkten. Die daraus sich ergebende Inflation wurde dann durch das feste Wechselkurssystem nach Europa und darüber hinaus transportiert, weil die steigenden Handelbilanzdefizite der USA zu einem stimulierenden Handelsbilanzüberschuss in anderen Staaten wurde. Diese konnten keine unabhängige Geldpolitik betreiben, weil sie durch das Bretton-Woods-System feste Wechselkurse einhalten mussten.

    Es ist auch wichtig festzuhalten, dass die Handelsbilanzdefizite der USA auch eine Konsequenz der Absichten anderer Nationen waren. In der Zeit des Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg hatten andere Staaten ein großes Verlangen, Dollarreserven aufzubauen, wozu sie einen Handelsbilanzüberschuss mit den Vereinigten Staaten brauchten.

    DAS EUROPÄISCHE PROJEKT DER NACHKRIEGSZEIT

    In der unmittelbaren Nachkriegszeit war das Europäische Projekt als ein ambitionierter Plan für die europäische Integration konzipiert worden. Es ging zunächst weitgehend um eine Entspannung nach zwei sehr schrecklichen Kriegen und jeder Menge an kleineren Konflikten im 20. Jahrhundert. Der Gedanke war, dass durch die Schaffung einer politischen Union die historischen Feindseligkeiten verblassen und herzlichere Beziehungen entstehen könnten. Es war eine Erweiterung der Logik hinter der Entente cordiale von 1904, die die lange Geschichte französisch-britischer Kriege beendete.

    Es war nur logisch, dass die EU auch gewisse ökonomische Parameter harmonisieren wollte, als ein Weg, um es allen besser gehen zu lassen. So wurde das Gefühl eines tiefen Antagonismus Deutschland gegenüber dadurch aktiv entmutigt, dass Deutschland sich aus dem Trümmerhaufen, in den es sich selbst und Europa verwandelt hatte, erhob und eine starke Wirtschaft wurde. Ein großer Schub für das Wirtschaftswachstum in Europa war der Marshall-Plan, der eine bedeutende fiskalische Unterstützung der europäischen Wirtschaften durch die USA darstellte. Die Gesamtbewertung dieses Marshall-Plans ist seit Jahrzehnten lebhaft diskutiert worden, doch gibt es eine weitgehend akzeptierte Sicht, dass er half, die europäische Wirtschaft in Schwung zu bringen, die damals mit zerstörter Infrastruktur, niedrigen Investitionen, Nahrungsknappheit, anderen Engpässen und einem Gefühl des Pessimismus darnieder lag. Es war auch ein erster Schritt in die europäische Integration, indem er Handelshemmnisse in Europa entfernte und Institutionen auf europäischer Ebene einrichtete um die sozio-ökonomische Wiederbelebung zu erleichtern. Es ist interessant festzustellen, dass wenn damals die heutige fiskalische Austeritätsmentalität und Obsession mit fiskalischen Regeln geherrscht hätte, der Marshall-Plan unmöglich gewesen wäre und Europa in jenem Elend steckengeblieben wäre, der die späten 1940er Jahre kennzeichnete.

    Die erste bedeutende Leistung der neuen EWG war der gemeinsame Agrarmarkt (GAM), der 1962 eingeführt wurde und einen großen Schritt in Richtung Integration darstellte. Man schaffte die Zölle ab und führte gemeinsame Preise ein, auch wenn dies etwas Zeit in Anspruch nahm wegen des lokalen Widerstandes ländlicher Gemeinden. Das Herz dieses politischen Plans waren die unterschiedlichen Interessen Frankreichs, das seine Bauern schützen wollte, und Deutschlands, das seine Exportmärkte ausweiten wollte. Mehr oder minder stellte der GAM eine Subvention der französischen Bauern von seiten der Deutschen dar, was der Kompromiss war, der von den innerstaatliche Bedürfnissen gefordert wurde.

    Während der GAM diese politischen Spannungen enthielt, hing er auch vom Bretton-Woods-System fester Wechselkurse ab, angesichts der unzähligen Agrarpreise, die in der EWG aufrechterhalten werden mussten. Er konnte nicht funktionieren, wenn die Währungen plötzlich oder deutlich schwankten. Die Unsicherheit des Bretton-Woods-Systems in den 1960er Jahren hatte die Idee einer gemeinsamen Währung in der EWG vorangetrieben.

    Konservative strebten nach einer Rückkehr des Goldstandards, aber in der Wirklichkeit funktionierte das Bretton-Woods-System nicht gut. Nachdem 1959 die vollständige Konvertibilität des US-Dollar in Gold erreicht worden war, ging es mit ihm bergab, als das Triffin-Paradox allen klar wurde. Es gab verschiedene Ad-hoc-Maßnahmen, die uns hier nicht näher interessieren, um den unvermeidlichen Kollaps des Systems hinauszuzögern, z. B. wachsende Währungs-Swaps zwischen den Notenbanken. Keines dieser Pflaster konnte jedoch die intrinsischen Widersprüche dieses Systems beseitigen.

    DIE BRITISCHE ABWERTUNG

    Einige Ereignisse der 1960er Jahre sind jetzt für uns wichtig. Das erste war die Abwertung des britischen Pfunds um 14,3 Prozent auf 2,40 US-Dollar im November 1967. Die britische Regierung hatte während der sechziger Jahre versucht, das Pfund bei 2,80 US-Dollar zu lassen, trotz andauernder Handelsdefizite. 1967 war dann das Jahr der größten Wirtschaftskrise weltweit seit 1949. Der Kostendruck stieg und führt in vielen Staaten zu einer dauernden Inflation. 1966 und bis ins Jahr 1967 hatte Großbritannien sehr große Handelsbilanzdefizite. Die Bank von England versuchte, den Wechselkurs zu halten, indem sie auf den Devisenmärkten intervenierte, was sie sehr viele Devisenreserven kostete. Die britische Industrie war aufgrund ihrer geringeren Wettbewerbsfähigkeit auch weniger fähig als die deutsche und französische die wachsenden Exportmärkte zu erobern.

    Das Vertrauen in die britische Währung fiel. Eine Reduzierung der öffentlichen Ausgaben zusammen mit einem Lohn- und Preisstop Mitte 1966 führte zu einem Rückgang der Importe und einer verbesserten Handelsposition. Es gab einen leichten Rückgang überall und die Arbeitslosigkeit stieg. Dies hat eine zeitlich begrenzte Erleichterung des Spekulationsdrucks auf das Pfund verschafft, zumal die Zinsen in den USA und Europa sanken, was einen Zustrom von Kapital nach Großbritannien zur Folge hatte, auf der Suche nach höheren Gewinn. Die Briten nutzten diese Gelegenheit um verschiedene internationale Schulden zurückzuzahlen, einschließlich einer Verringerung der offenen Forderungen des IWF.

    Die Ruhe währte nur kurz. Die erste Störung kam am 5. Juni 1967, als der Sechs-Tage-Krieg zwischen den arabischen Staaten (der Vereinigten Arabischen Republik, Syrien und Jordanien) und Israel ausbrach, nachdem die israelische Luftwaffe Ägypten angegriffen hatte. Der Krieg störte die britischen Exporte, verteuerte das Öl und führte zu einem Verkauf der britischen Währung. Dann erhöhten die USA die Zinsen, um den Kreditboom zu stoppen, und dies führte zu einem steigenden Kurs des US-Dollars, weil man dort investierte, um sich höhere Erträge zu sichern. Drittens kam Europa in eine Rezession, was die britischen Exporte weiter schädigte. Die Handelsbilanz wurde stärker defizitär, und die Arbeitslosigkeit stieg. Nun war Großbritannien in einem politischen Dilemma gefangen.

    Das Pfund stand unter Druck wegen des steigenden Handelsdefizits und (Netto-)Kapitalabflusses, was normalerweise zu einer gewissen Abschwächung der Wirtschaft geführt haben würde, angesichts der festen Wechselkurse. Aber angesichts einer drohenden Rezession musste die britische Regierung die Inlandsnachfrage stützen. Sie entschied sich dafür, die politischen Kosten steigender Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Die Bank von England senkte die Zinssätze und das Schatzamt gab mehr aus, was das Handelsdefizit erhöhte. Die Regierung Wilson versuchte auch mit Kapitalverkehrskontrollen den Abfluss des Pfunds aufzuhalten, mit beschränktem Erfolg.

    Es gab eine beträchtliche Debatte, ob die britische Regierung angesichts dieser expandierenden innenpolitischen Interventionen den Wechselkurs aufrechterhalten sollte. Zudem gab es trotz der anfänglichen Lohnzurückhaltung nach dem Lohnstopp 1965–1966 einen schnellen Lohnzuwachs später im Jahr 1967, der den Produktivitätszuwachs überholte und so die Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens weiter unterminierte. Dies wurde noch durch Unruhen in den Häfen im Mai 1966 und September 1967 gesteigert, die die britischen Exporte weiter reduzierten.

    Wenn die britische Regierung dem steigenden Druck auf das Pfund widerstehen wollte, dann hätte sie eine harte Rezession herbeiführen und weiter steigende Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen müssen. Das Stop-Go-Muster der 1960er Jahre, das typisch für die Staaten war, die unter dem Bretton-Woods-System Handelsdefizite hatten, stand nun gegen die politischen Rahmenbedingungen. Dieser Konflikt zwischen Wirtschaft und Politik ist ein wesentlicher Grund, warum Systeme mit festen Wechselkursen scheitern, und ist offensichtlich auch für die WWU von Bedeutung.

    Die britische Regierung wusste auch, dass die früheren Versuche, mit der schwachen Zahlungsbilanzsituation umzugehen, das nationale Einkommen geschmälert hatten, aber sie haben das zugrundeliegende Problem nicht gelöst. Es war offensichtlich, dass das Pfund überbewertet war, und sosehr sie auch danach strebten, diesen Wert aus Gründen des nationalen Prestiges aufrechtzuerhalten, es musste abgewertet werden. Dies geschah am 18. November 1967.

    Dies war der erste wichtige Nagel im Sarg des Bretton-Woods-Systems und spiegelte die Spannungen wider, die sich über das Jahrzehnt aufgebaut hatten. Die britische Abwertung führte zu einer massiven Goldnachfrage, weil man glaubte, dass auch die USA den US-Dollar abwerten würden. Dieser Druck auf die amerikanischen Goldreserven erreichte einen kritischen Punkt und die Devisenmärkte reagierten nervös (Toniolo, 2005). Die andauernde Schwäche des Pfundes spiegelte sich jenseits des Kanals in der wachsenden Stärke der D-Mark, die aufgrund ihrer industriellen Stärke weitere Handelsüberschüsse erzielte.

    DIE FRANZÖSISCHE UNRUHE SCHAFFT WECHSELKURSPROBLEME

    Das zweite große Ereignis, das dem Ende von Bretton-Woods voranging, begann im Mai 1968, als die französischen Studenten streikten und so den Franc unter Druck setzten. Die Investoren verlagerten ihr Geld schnell von Frankreich nach Deutschland, was die Kapazitäten der Notenbanken, den Wechselkurs zu stabilisieren, überstieg. Die Bundesbank senkte die Zinsen, um den Kapitalabfluss zu fördern; auch kaufte die Bundesbank erhebliche Staatsanleihen, um deren Erträge zu verringern und so die Anleger zu ermutigen, die D-Mark zu verkaufen, um eine Aufwertung unnötig zu machen (BIZ, 1969: 10); dies ist nicht uninteressant im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise und den herrschenden Narrativen.

    DIE UNTERBEWERTETE D-MARK

    Die Spekulationen um die D-Mark setzten sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1968 fort, als der deutsche Wettbewerbsvorteil weiter anstieg als Folge der geringen Inflation, insbesondere im Vergleich zu den USA, wo man die großen Ausgaben im Vietnam-Krieg zu absorbieren hatte. Um den Gerüchten, dass die D-Mark aufgewertet werden müsste, entgegenzutreten, kaufte die Bundesbank in einer sehr kurzen Zeit im September 1968 große Mengen an US-Dollar auf. Dies wurde im November erneut getan, und während sich die Spekulation hielt, sanken die Devisenbestände der Bundesbank. Jeder glaubte, die D-Mark sei deutlich unterbewertet. Die Bundesbank fürchtete auch eine Inflation als Folge der Devisenaufkäufe, weil sie dafür D-Mark einsetzen musste.

    Diese drei Umstände, die Auffassung, die D-Mark sei unterbewertet, die andauernden Handelsdefizite und Kapitalabflüsse in Großbritannien und die inneren Unruhen in Frankreich verursachten, was die Bundesbank dann »ein ungewöhnliches Wachsen der internationalen Spekulation« (Bundesbank, 1968: 3) nannte. Dies führte zur Schließung der Devisenmärkte am 21. und 22. November, ein Zeichen, dass

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